Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 42/12

3. Senat | REWIS RS 2016, 8575

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden geschiedenen Elternteils


Leitsatz

NV: Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt des geschiedenen anderen Elternteils lebenden Kindes kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden (Anschluss an BFH-Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 26. Juli 2012  4 K 3940/11 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Mai 2011 bis Oktober 2011.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein [X.] Staatsangehöriger, ist der Vater einer im Mai 1990 geborenen [X.]ochter ([X.]). Er lebte im Streitzeitraum in der [X.] ([X.]) und war dort [X.] beschäftigt. [X.] lebte im Streitzeitraum bei ihrer vom Kläger geschiedenen Mutter in [X.] und ging dort einem Studium nach. Die Kindsmutter war in [X.] nicht erwerbstätig und bezog dort für [X.] bis August 2009 [X.] Familienleistungen.

3

Der Kläger erhielt in der Vergangenheit inländisches Differenzkindergeld und beantragte am 16. Mai 2011 erneut die Festsetzung von Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 25. Mai 2011 unter Verweis auf eine nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangige Berechtigung der Kindsmutter ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 2011).

4

Die Klage, mit welcher der Kläger einen ab Mai 2011 bestehenden Anspruch auf Kindergeld in voller Höhe geltend machte, hatte Erfolg.

5

Mit ihrer vom Finanzgericht ([X.]) zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 EStG ergebende Verletzung materiellen Rechts.

6

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 25. November 2014 hat der [X.] ([X.]) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 angeordnet. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 f. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 EStG.

Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des [X.] (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b, Satz 2 EStG. Unerheblich ist, dass [X.] ihren Wohnsitz in [X.] hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 987/2009 ([X.] zu unterstellen ist, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der [X.] 883/2004 und der [X.] 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der Kläger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung.

b) Da der Kläger im Streitzeitraum eine nichtselbständige Erwerbstätigkeit in [X.] ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kindsmutter im Streitzeitraum in [X.] ein Anspruch auf Familienleistungen zustand und eine von Art. 68 der [X.] 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation vorlag. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13. Zudem gehört die Kindsmutter --ungeachtet ihrer Scheidung vom [X.] zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 (Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13). Es wird deshalb fingiert, dass die Kindsmutter das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt.

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das [X.] nicht festgestellt.

b) Ein vorrangiger Anspruch des [X.] ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des [X.] war der Kläger aber von der Kindsmutter geschieden und lebte in einem eigenen Haushalt. Ein gemeinsamer inländischer Haushalt des [X.] und der Kindsmutter folgt auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009. Auf die Höhe der vom Kläger erbrachten Unterhaltsrente kommt es nicht an, da diese nach § 64 Abs. 3 EStG nur für Kinder, die --anders als im [X.] nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen sind, für die Bestimmung der vorrangigen Kindergeldberechtigung von Bedeutung sein kann. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger, eine Haushaltsaufnahme der [X.] vorliegt.

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt hat (Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13).

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 42/12

07.07.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 26. Juli 2012, Az: 4 K 3940/11 Kg, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, § 64 Abs 3 EStG 2009, Art 1 Buchst i Nr 1 Buchst i EGV 883/2004, Art 1 Buchst i Nr 2 EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2011

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 07.07.2016, Az. III R 42/12 (REWIS RS 2016, 8575)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8575

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 43/14 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


III R 86/11 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils - fiktive Übertragung der Wohnsituation in …


III R 25/12 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils - fiktive Übertragung der Wohnsituation in …


III R 50/12 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld: Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Elternteils (im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom …


III R 8/13 (Bundesfinanzhof)

Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden geschiedenen Elternteils


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.