Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 43/14

3. Senat | REWIS RS 2016, 9943

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Gegenstand

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten


Leitsatz

NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13) .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 4. Juli 2014  4 K 2488/11 Kg im [X.] ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es den Kindergeldanspruch für das Kind K für den Zeitraum Mai 2010 bis Dezember 2010 betrifft. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens haben der Kläger zu 63 % und die Beklagte zu 37 % zu tragen. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist der [X.]indergeldanspruch für das [X.]ind [X.] für den Zeitraum Mai 2010 bis Dezember 2010.

2

Der [X.]läger und Revisionsbeklagte ([X.]läger) ist [X.] Staatsangehöriger und Vater der im Jahr 2003 geborenen Tochter [X.] sowie des im Dezember 1996 geborenen und aus erster Ehe stammenden [X.] Er lebt zusammen mit seiner Ehefrau und [X.] in der [X.] ([X.]); seit [X.]ovember 2009 führt er einen Handwerkerservice-Betrieb.

3

[X.] lebte im Streitzeitraum im Haushalt der [X.]indsmutter in [X.]. Die [X.]indsmutter war seit Dezember 2008 in [X.] nichtselbständig tätig; ab [X.]ovember 2010 bis zum Ende des [X.] war sie arbeitslos.

4

Mit Bescheid vom 1. Juni 2011 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des [X.] auf Festsetzung inländischen [X.]indergeldes für [X.] mit der Begründung ab, [X.] lebe nicht im Haushalt des [X.], sondern bei der [X.]indsmutter in [X.], so dass ein [X.]indergeldanspruch des [X.] im Inland nicht bestehe. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 16. Juni 2011).

5

Mit der hiergegen gerichteten [X.]lage begehrte der [X.]läger zuletzt nur noch inländisches [X.]indergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis Juni 2011.

6

Das Finanzgericht ([X.]) entsprach der [X.]lage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (E[X.]) 2014, 1694 veröffentlichten Urteil nur teilweise. Es war der Ansicht, dem [X.]läger stehe für den Streitzeitraum von Mai 2010 bis Juni 2011 inländisches Differenzkindergeld für seinen in [X.] lebenden Sohn [X.] zu. Im Übrigen wies es die [X.]lage ab.

7

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.

8

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des [X.] Münster vom 4. Juli 2014  4 [X.] 2488/11 [X.]g aufzuheben, soweit das [X.] die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 1. Juni 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Juni 2011 verpflichtet hat, für das [X.]ind [X.] für den Zeitraum Mai 2010 bis Dezember 2010 Differenzkindergeld in der festgelegten Höhe festzusetzen, und die [X.]lage auch insoweit abzuweisen.

9

Der [X.]läger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 11. Februar 2015 hat der zuvor zuständige VI. Senat des [X.] ([X.]) das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen [X.]/14 ausgesetzt. Der [X.] hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 [X.]/14 ([X.]:C:2015:720, [X.] 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit, als es den Zeitraum Mai 2010 bis Dezember 2010 betrifft; auch insoweit ist die [X.]lage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf [X.]indergeld (vorrangig) dem [X.]läger zusteht. Der [X.]läger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der [X.]indsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger [X.]indergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

1. Der [X.]läger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den [X.] bindend (vgl. § 118 Abs. 2 [X.]O)-- vom [X.] festgestellt. Dass [X.] seinen Wohnsitz in [X.] hat, ist unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Allerdings ist die [X.]indsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des [X.]-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur [X.]oordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 883/2004 ([X.]. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 über die [X.]oordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --[X.] 987/2009 ([X.] zu unterstellen ist, dass sie mit [X.] in [X.] wohnt.

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes [X.]ind nur einem Berechtigten [X.]indergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das [X.]indergeld demjenigen gezahlt, der das [X.]ind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der [X.]indsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der [X.] 883/2004 und der [X.] 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ein Inlandswohnsitz der [X.]indsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die [X.]indsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

3. Der Anwendungsbereich der [X.] 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und [X.] ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

a) Der [X.]läger ist [X.] Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das [X.]indergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der [X.] 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der [X.] 883/2004 eröffnet ist.

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der [X.] 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der [X.]läger im Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in [X.] ausgeübt hat, unterlag er den [X.] Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] 883/2004).

4. Aus Art. 67 Satz 1 der [X.] 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der [X.]indsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]surteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.

5. Die [X.]indsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen [X.]indergeldanspruch.

a) Anhaltspunkte dafür, dass die [X.]indsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte [X.] i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das [X.] nicht festgestellt.

b) Ein vorrangiger Anspruch des [X.]lägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem [X.]läger und der [X.]indsmutter voraus. Nach den Feststellungen des [X.] unterhielten der [X.]läger und die [X.]indsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt, sondern jeweils eigene Haushalte. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der [X.] 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der [X.]indsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim [X.]läger eine Haushaltsaufnahme des [X.] vorliegt.

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die [X.]indsmutter selbst einen Antrag auf [X.]indergeld in [X.] gestellt hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in dem [X.]surteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.

7. Die [X.]ostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 [X.]O.

Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann die [X.]ostenentscheidung des [X.] keinen Bestand haben. Der [X.] hält es für angemessen, über die [X.]osten nach Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz der Einheitlichkeit der [X.]ostenentscheidung (z.B. BFH-Urteil vom 24. Juli 2013 XI R 24/12, [X.], 1920, Rz 28, m.w.N.).

Danach haben nach dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens die [X.]osten des Verfahrens vor dem [X.] der [X.]läger zu 63 % und die Familienkasse zu 37 % zu tragen. Die [X.]osten des Revisionsverfahrens hat der [X.]läger zu tragen.

Meta

III R 43/14

15.06.2016

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Münster, 4. Juli 2014, Az: 4 K 2488/11 Kg, Urteil

§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG, § 63 Abs 1 EStG, § 64 Abs 2 S 1 EStG, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 EGV 987/2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.06.2016, Az. III R 43/14 (REWIS RS 2016, 9943)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 9943

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