Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19.04.2011, Az. VII B 234/10

7. Senat | REWIS RS 2011, 7395

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

AdV eines Einfuhrabgabenbescheids für in den aktiven Veredelungsverkehr übergeführte Waren bei nach Insolvenzeröffnung abgelaufener Veredelungsfrist


Leitsatz

NV: Es bestehen begründete Zweifel, ob eine Zollschuld, welche im Verfahren der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren mit dem Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens für bis dahin nicht zu einem Zollverfahren angemeldete Veredelungserzeugnisse oder unveränderte Waren entsteht, insolvenzrechtlich als bereits zu einem früheren Zeitpunkt begründet anzusehen ist, nämlich mit dem Verbringen der Waren in das Zollgebiet der Union oder ihrer Überführung in den aktiven Veredelungsverkehr .

Tatbestand

1

I. Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) ist Insolvenzverwalter in dem am 1. Dezember 2009 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der [X.] (Schuldnerin). Diese war Inhaber von Bewilligungen für aktive Veredelungsverkehre, in denen die Überführung der Hauptveredelungserzeugnisse und unveredelt gebliebener Einfuhrwaren in den freien Verkehr ohne Zollanmeldung global zugelassen war. Für die im vierten Quartal 2008 in den aktiven Veredelungsverkehr übergeführten Einfuhrwaren lief die Frist für die Beendigung des Verfahrens mit dem 31. Dezember 2009 ab. Soweit für diese Waren keine Zollanmeldungen zur Überführung in ein Zollverfahren abgegeben worden waren, setzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Hauptzollamt --[X.]--) mit Bescheid vom 2. Februar 2010 unter Zugrundelegung einer für die Schuldnerin abgegebenen Abgabenberechnung Einfuhrabgaben (Zoll, Einfuhrumsatzsteuer und [X.]) fest. Über den hiergegen vom Antragsteller erhobenen Einspruch ist noch nicht entschieden. Den zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung lehnte das [X.] ab. Die festgesetzten Einfuhrabgaben wurden entrichtet.

2

Auch der beim Finanzgericht ([X.]) gestellte Antrag auf Aufhebung der Vollziehung hatte keinen Erfolg. Das [X.] entschied, dass die Einfuhrabgabenschuld durch Überführung der Waren in den zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 546 der Zollkodex-Durchführungsverordnung [X.] (hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer i.V.m. § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes) entstanden sei; die Festsetzung von [X.] beruhe auf Art. 519 [X.]. Diese Einfuhrabgabenschuld habe durch Bescheid festgesetzt werden dürfen, weil sie als Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 der Insolvenzordnung ([X.]) anzusehen sei. Eine Einfuhrabgabenforderung sei erst dann insolvenzrechtlich "begründet", wenn der Beteiligte die für die Überführung der Ware in den zollrechtlich freien Verkehr erforderlichen Einfuhrförmlichkeiten erfüllt habe. Im Streitfall habe es einer Zollanmeldung allerdings nicht bedurft, weil die im aktiven Veredelungsverkehr befindlichen [X.] bzw. unveränderten Waren keine zollrechtliche Bestimmung erhalten hätten und somit gemäß Art. 546 Unterabs. 1 [X.] als mit dem Ablauf der Frist für die Beendigung des Verfahrens in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt gälten. Der Begriff der "Handlung des Insolvenzverwalters" i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sei weit zu verstehen und umfasse auch Unterlassungen im Rahmen seines Amtes.

3

Mit seiner Beschwerde vertritt der Antragsteller weiterhin die Ansicht, dass die Einfuhrabgabenforderung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, nämlich mit der Überführung der betreffenden Ware in das Zollverfahren der aktiven Veredelung i.S. des § 38 [X.] "begründet" worden sei, denn der Rechtsgrund für die Entstehung der Einfuhrabgabenschuld bei Beendigung des Verfahrens werde bereits mit der Überführung der Ware in das Verfahren gelegt. Im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hätten im Übrigen die in das aktive Veredelungsverfahren übergeführten Waren teilweise gar nicht mehr zu seiner (des Antragstellers) Verfügung gestanden, sondern seien bereits durch Verbrauch oder Veräußerung dem Vermögen der Schuldnerin entzogen gewesen.

4

Das [X.] verweist darauf, dass der Antragsteller nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Rahmen der Fortführung des Unternehmens die Möglichkeit gehabt habe, dem Vermögen der Schuldnerin äquivalente Gemeinschaftswaren zuzuführen und die aktiven Veredelungsverkehre durch Wiederausfuhr der buchmäßig offenen Warenmengen ordnungsgemäß zu beenden.

Entscheidungsgründe

5

II. Die nach § 128 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) statthafte Beschwerde ist begründet; die Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 FGO i.V.m. Art. 244 Unterabs. 2 des Zollkodex ([X.]) für die Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen [X.] liegen vor. Art. 244 [X.] gibt zwar nur den Zollbehörden die Befugnis, den Vollzug einer angefochtenen Entscheidung auszusetzen; jedoch schränkt die Vorschrift nicht die Befugnis der mit einem Rechtsbehelf befassten Gerichte ein, eine solche Aussetzung anzuordnen (Urteil des Gerichtshofs der [X.] --EuGH-- vom 11. Januar 2001 C-226/99 --Siples--, [X.]. 2001, [X.], [X.]schrift für Zölle und Verbrauchsteuern --[X.]-- 2001, 119). Da § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO die sinngemäße Anwendung der im Verwaltungsverfahren geltenden Regeln vorschreibt, findet Art. 244 Unterabs. 2 [X.] auch im gerichtlichen Aussetzungsverfahren Anwendung (Senatsbeschluss vom 22. November 1994 [X.]/94, [X.], 170, [X.] 1995, 110). Danach setzen die Zollbehörden die Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.

6

1. Im Streitfall bestehen begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen [X.] vom 2. Februar 2010. Zweifelhaft ist, ob es sich bei der festgesetzten Einfuhrabgabenforderung um eine Insolvenzforderung handelt. In diesem Fall wäre eine Abgabenfestsetzung durch Bescheid nicht zulässig; vielmehr müsste das [X.] seine Abgabenforderung nach den Regeln der [X.] geltend machen (vgl. Senatsurteil vom 4. Mai 2004 [X.]/03, [X.], 409, [X.], 815, m.w.[X.]). Der angefochtene Einfuhrabgabenbescheid wäre unwirksam und aus Gründen der Klarstellung im Einspruchsverfahren bzw. in einem gerichtlichen Verfahren aufzuheben.

7

Die Insolvenzmasse dient gemäß § 38 [X.] zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur [X.] der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Im Insolvenzverfahren des Abgabenpflichtigen kommt es danach hinsichtlich der Frage, ob eine gegen ihn bestehende Abgabenforderung eine Insolvenzforderung ist, nicht darauf an, ob der Anspruch zum [X.]punkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im abgabenrechtlichen Sinn bereits entstanden war, sondern darauf, ob in diesem [X.]punkt nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch bereits gelegt war. Eine Abgabenforderung ist daher immer dann [X.] des § 38 [X.], wenn sie vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Weise "begründet" worden ist, dass der zugrunde liegende Sachverhalt, der zur Entstehung der Abgabenforderung führt, bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist (ständige Rechtsprechung: vgl. Senatsurteile vom 16. November 2004 [X.]/03, [X.], 296, [X.], 193, und vom 31. Mai 2005 [X.]/04, [X.] 2005, 1745, jeweils m.w.[X.]). Entscheidend ist der [X.]punkt, in dem die Abgabenforderung "[X.] nach" entstanden ist, weshalb sie auch schon dann als insolvenzrechtlich "begründet" anzusehen ist, wenn --wie z.B. bei einer aufschiebenden Bedingung-- im [X.]punkt der Insolvenzeröffnung zur abgabenrechtlichen Entstehung noch ein ungewisses künftiges Ereignis fehlt (Senatsurteil vom 21. September 1993 [X.], [X.], 308, [X.] 1994, 83).

8

2. Werden [X.] in das Zollgebiet der [X.] verbracht, führt dies zwar nicht in jedem Fall zur Festsetzung von Einfuhrabgaben. Kommt es jedoch zur Festsetzung von Einfuhrabgaben, sind immer zuvor die [X.]n, auf welche sich die Abgabenfestsetzung bezieht, in das Zollgebiet der [X.] verbracht worden. Die Einfuhrabgabenfestsetzung wird also stets durch das Verbringen von [X.] in das Zollgebiet ausgelöst.

9

Es kommt deshalb in Betracht, eine Einfuhrabgabenforderung bereits mit dem Verbringen der jeweiligen [X.] in das Zollgebiet der [X.] als insolvenzrechtlich "begründet" anzusehen. Wird die vorschriftsgemäß verbrachte [X.] in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt, bedarf es zwar zur Entstehung der Zollschuld weiterer Realakte und Rechtshandlungen, wie der Gestellung, der Zollanmeldung und der Annahme der Zollanmeldung (Art. 201 Abs. 2 [X.]); hierbei handelt es sich jedoch um rein abgabenrechtliche Voraussetzungen der Zollschuldentstehung, auf die es insolvenzrechtlich nicht unbedingt ankommen muss. Auch wenn die [X.] nicht zum freien Verkehr, sondern zu einem Nichterhebungsverfahren wie z.B. der vorübergehenden Verwendung oder --wie im [X.] der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren, angemeldet wird, kommt es in Betracht, die Entstehung der Einfuhrabgabenschuld als --wegen beabsichtigter [X.] nur vorläufig ausgesetzt oder aufgeschoben, jedoch bereits mit dem Verbringen der [X.] oder ihrer Überführung in das Nichterhebungsverfahren als "[X.] nach" entstanden anzusehen, lediglich unter der aufschiebenden Bedingung stehend, dass die [X.] der zollamtlichen Überwachung nicht entzogen wird (Art. 203 [X.]) bzw. es zur fristgerechten Wiederausfuhr der [X.] nicht kommt oder andere Verfahrenspflichten verletzt werden (Art. 204 [X.]). Für diese Betrachtungsweise spricht, dass im Fall einer durch den Eintritt der aufschiebenden Bedingung "verspäteten" Zollschuldentstehung im Verfahren der aktiven Veredelung nach dem Nichterhebungsverfahren oder der vorübergehenden Verwendung der Betrag der Zollschuld anhand der Bemessungsgrundlagen festgesetzt wird, die im [X.]punkt der Annahme der Anmeldung zur Überführung der [X.]n in die aktive Veredelung bzw. die vorübergehende Verwendung maßgebend waren (Art. 121, Art. 144 [X.]), und dass gemäß Art. 214 Abs. 3 [X.] i.V.m. Art. 519 [X.]DVO Ausgleichszinsen erhoben werden (vgl. auch zur Ermittlung des [X.]: Art. 112 [X.]).

3. Nach § 69 Abs. 3 FGO i.V.m. Art. 244 Unterabs. 3 Satz 1 [X.] ist die Aufhebung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Die Sicherheit ist in Höhe des Betrags der Einfuhrabgabenschuld festzusetzen (EuGH-Urteil vom 17. Juli 1997 C-130/95 --Giloy--, [X.]. 1997, [X.], [X.] 1997, 335). Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Voraussetzungen des Art. 244 Unterabs. 3 Satz 2 [X.] für ein Absehen von der Sicherheitsleistung oder für ihre Reduktion (vgl. EuGH-Urteil in [X.]. 1997, [X.], [X.] 1997, 335) im Streitfall vorliegen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich, zumal die festgesetzten Einfuhrabgaben bereits entrichtet worden sind.

Meta

VII B 234/10

19.04.2011

Bundesfinanzhof 7. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 8. Juni 2010, Az: 7 V 688/10, Beschluss

Art 244 UAbs 2 ZK, Art 244 UAbs 3 ZK, Art 546 UAbs 1 ZKDV, § 38 InsO, § 55 Abs 1 Nr 1 InsO, § 69 Abs 3 FGO, Art 244 UAbs 2 EWGV 2913/92, Art 244 UAbs 3 EWGV 2913/92, Art 546 UAbs 1 EWGV 2454/93

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 19.04.2011, Az. VII B 234/10 (REWIS RS 2011, 7395)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7395

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VII B 123/10 (Bundesfinanzhof)

Zollschuldentstehung durch Verwendung eines falschen Verfahrenscodes - Nachträgliche Korrektur der Ausfuhranmeldung - Anforderungen an die …


VII R 16/09 (Bundesfinanzhof)

Entstehung der Zollschuld für verspätet abgerechnete Waren des aktiven Veredelungsverkehrs


VII R 43/18 (Bundesfinanzhof)

Aktive Veredelung - keine Äquivalenz zwischen Biozucker und konventionell erzeugtem Zucker


VII R 13/10 (Bundesfinanzhof)

Vollständige oder teilweise Abgabenbefreiung für eingeführte Veredelungserzeugnisse, deren Vormaterialien nicht in die passive Veredelung übergeführt …


VII R 16/09 (Bundesfinanzhof)

Zollschuldentstehung durch Überschreiten der Frist für die Abrechnung des aktiven Veredelungsverkehrs (Vorlage an den EuGH) …


Referenzen
Wird zitiert von

4 V 194/16

4 V 143/17

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.