Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.10.2023, Az. AK 57/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 6887

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Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte ist am 20. März 2023 vorläufig festgenommen worden und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom Folgetag (2 [X.] 373/23) seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich in der [X.] von Ende 2013 bis mindestens 2015 als Mitglied an einer terroristischen [X.] im Ausland - dem sogenannten „[X.]“ ([X.]) - beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 [X.]) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines solchen Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Der [X.] ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen [X.] und die historische Region „ash-Sham“ - die heutigen [X.] [X.], [X.] und [X.] sowie [X.] - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Scharia zu errichten und dazu das Regime des [X.] Präsidenten [X.] und die schiitisch dominierte Regierung im [X.] zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf im Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der [X.] als legitimes Mittel des Kampfes an.

7

Die [X.], die sich mit der Ausrufung des „Kalifats“ am 29. Juni 2014 aus „[X.] im [X.] und in Großsyrien“ ([X.]IG) in „[X.]“ ([X.]) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, wurde von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 durch [X.] geführt. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des [X.] ihn zum „Kalifen“, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Auch die nachfolgenden Anführer des [X.] wurden und werden durch dessen Mitglieder als „Kalifen“ bezeichnet.

8

Dem jeweiligen Anführer unterstanden ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „[X.]“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehörten außerdem beratende „[X.]“. Veröffentlichungen wurden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der [X.] besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift „[X.] - [X.] - [X.]“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem [X.] Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer waren dem „[X.]“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

9

Die [X.] teilte von ihr besetzte Gebiete in [X.] ein und richtete einen [X.] ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der [X.] und [X.] Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum [X.] stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des [X.] in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom [X.] zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht er Massaker an Zivilisten und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in [X.], etwa in [X.], [X.] und [X.], die Verantwortung.

[X.] gelang es dem [X.], große Teile der Staatsterritorien von [X.] und dem [X.] zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete [X.] und des [X.]. Ab dem [X.] geriet die [X.] militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nord[X.] Hochburg in [X.] verdrängt. Im März 2019 galt der [X.] - nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ost[X.] [X.] - sowohl im [X.] als auch in [X.] als militärisch besiegt, ohne dass allerdings die [X.] als solche zerschlagen wäre.

bb) Der Beschuldigte trat Ende des Jahres 2013 dem [X.] bei, dem er zu einem nicht genau bekannten [X.]punkt öffentlich die Treue schwor, und gehörte ihm jedenfalls bis zu seiner Flucht aus [X.] (frühestens im [X.]) an.

Er war Mitglied einer Kampfeinheit, welche die Macht des [X.] in dem im Süden von [X.] gelegenen Stadtteil [X.]           sicherte, und nahm - mit einer [X.] bewaffnet - regelmäßig an Patrouillen teil.

Diese Einheit entführte gegnerische Kämpfer sowie andere missliebige Personen und richtete sie auch hin. So erschoss sie am 16. Januar 2014 mindestens elf Menschen, von denen die meisten für die [X.] ([X.]) gekämpft hatten. Auch enthaupteten schwarz gekleidete und vermummte Angehörige der Einheit am 19. April 2015 vor der Moschee              zwei gefesselte, wehrlos auf dem Boden liegende Tatopfer; das Hinrichtungsgeschehen wurde gefilmt und die Aufnahmen zu propagandistischen Zwecken weiterverbreitet.

b) Der Beschuldigte hat gegenüber den Strafverfolgungsbehörden bisher keine Angaben gemacht.

aa) Den dringenden Tatverdacht stützen bereits die Angaben von mehr als einem Dutzend Zeugen, die von seiner Mitgliedschaft beim [X.] berichten.

Auch wenn die Protokolle über fünf Zeugenvernehmungen, die zwischen dem 8. Mai 2023 und dem 27. Juli 2023 stattgefunden hatten, der Verteidigerin nicht vorliegen, sind sie für die Haftprüfungsentscheidung heranzuziehen. Vier der Niederschriften können erst zur Akte gelangt sein, nachdem ihr am 6. Juni 2023 letztmalig Einsicht in diese gewährt worden ist. Ausdrücklich darauf hinweisen, dass weitere Beweisergebnisse aktenkundig geworden sind, musste der [X.] ohnehin nicht - anders als ein Tatgericht nach Erlass des [X.] (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 10. Mai 2017 - 1 [X.], [X.]R StPO § 1 Hinweispflicht 8). Denn dem Ermittlungsverfahren ist es immanent, dass fortlaufend be- und entlastende Erkenntnisse zusammengetragen werden.

Soweit die Verteidigerin in ihrer Stellungnahme vom 29. Juli 2023 Zweifel an den Angaben mehrerer Zeugen geäußert und (vermeintliche) Ungereimtheiten aufgezeigt hat, rechtfertigt dies keine abweichende Bewertung des dringenden Tatverdachts. Eine ins Einzelne gehende Analyse solcher Äußerungsinhalte auf ihren Wahrheitsgehalt hin bleibt einer etwaigen Hauptverhandlung vorbehalten. Im jetzigen Stadium des Verfahrens ist sie weder rechtlich geboten noch tatsächlich möglich (vgl. [X.], Beschlüsse vom 13. Juli 2023 - AK 34/23, juris Rn. 25; vom 3. März 2020 - AK 63/19, juris Rn. 18).

bb) Überdies werden die Angaben der Zeugen bestätigt durch die Auswertung beim Beschuldigten sichergestellter Asservate, Ermittlungen bei [X.] und in [X.] Netzwerken sowie überwachte Telefongespräche. Exemplarisch haben mehrere Zeugen dem Beschuldigten die Kunya „      “ zugeordnet. Bestätigt wird dies durch den Umstand, dass er bei mehreren Telefonaten mit diesem Namen angesprochen wurde und die Auswertung des bei seiner illegalen Einreise bei ihm sichergestellten Mobiltelefons ergeben hat, dass er unter anderem die E-Mail-Adresse                       nutzte und diese mit zahlreichen Internetdiensten verknüpfte.

cc) Wegen der Einzelheiten der Verdachtslage wird auf den Haftbefehl vom 21. März 2023 sowie den ausführlichen Vermerk des [X.] vom 24. August 2023 verwiesen.

c) In rechtlicher Hinsicht ist der Beschuldigte dringend verdächtig der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB), indem er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dem [X.] anschloss und sich durch seine [X.] an ihm beteiligte (vgl. zu den Anforderungen [X.], Beschlüsse vom 18. Oktober 2022 - AK 31/22, juris Rn. 21 ff.; vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 28 ff.; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 5 ff.).

Die Anwendbarkeit [X.] Strafrechts folgt aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, weil der Beschuldigte im Inland festgenommen worden ist, die Tat auch in [X.] - als [X.] an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des [X.] Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 - mit Strafe bedroht ist und ein Auslieferungsverkehr mit [X.] derzeit nicht stattfindet (s. zum Ganzen [X.], Beschluss vom 8. März 2023 - AK 10/23, juris Rn. 41 mwN). Die Voraussetzungen des § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB sind ebenfalls erfüllt.

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur Strafverfolgung liegt vor.

2. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. nur [X.], Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, [X.]E 19, 342, 350 f.) - der Schwerkriminalität.

Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Haftstrafe zu rechnen. Von der Straferwartung geht ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus, der sich jedenfalls regelmäßig nach der prognostisch tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft richtet (zur sog. Nettostraferwartung s. [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; [X.] StPO/[X.], [X.]., § 112 Rn. 29 f.). Der danach zu stellenden Prognose ist zugrunde zu legen, dass der Regelstrafrahmen eines Verbrechens der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland im Mindestmaß Freiheitsstrafe von einem Jahr vorsieht. Auch mit Blick auf den Umstand, dass es sich beim [X.] um eine jedenfalls im Tatzeitraum besonders gefährliche und grausam vorgehende terroristische [X.] handelte, was im besonderen Maße für die Kampfeinheit zutrifft, welcher der Beschuldigte angehörte, und er sich an der Organisation über einen langen [X.]raum beteiligte, dürfte die ihm drohende Strafe nicht mehr im unteren Bereich des bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmens liegen.

Bei dieser Sachlage stellen die Umstände, dass sich der Beschuldigte, der in einer [X.] Asylbewerberunterkunft gemeldet ist und über keine Arbeitsstelle verfügt, zuletzt weit überwiegend in der Wohnung seiner Brüder in N.               aufhielt, keine maßgeblich fluchthindernden Tatsachen dar.

Zwar blieb der Beschuldigte auch noch dort, als die Durchsuchungen seiner Wohnanschrift und der seiner Brüder am 8. März 2023 ihm offenbarten, dass die Strafverfolgungsbehörden gegen ihn ermittelten. Dass er die sich hieran anschließenden zwölf Tage in Freiheit nicht dazu nutzte, sich dem drohenden Strafverfahren zu entziehen, ist - entgegen der Ansicht der Verteidigung - weder ein Indiz für seine Unschuld, noch spricht es entscheidend gegen eine Fluchtgefahr. Die etwaigen Auswirkungen einer Haftstrafe stehen ihm erst seit seiner Festnahme aufgrund der Inhaftierung konkret vor Augen (vgl. [X.], Beschluss vom 18. September 2019 - AK 50/19, juris Rn. 24).

Insgesamt ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird. Dies begründet erst recht die für den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO ausreichende Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. [X.], Beschluss vom 5. April 2023 - AK 11/23 u.a., juris Rn. 40).

Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Die besonderen Schwierigkeiten und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Die elektronische Zweitakte umfasst am 24. August 2023 annähernd 3.700 Dateien mit einer Gesamtgröße von 7,77 Gigabyte.

Das Ermittlungsverfahren ist, auch nach der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten am 20. März 2023, mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Anlässlich seiner Ergreifung haben, wie schon zuvor am 8. März 2023, Durchsuchungen stattgefunden, bei denen insgesamt 43 Asservate sichergestellt worden sind, darunter 18 elektronische mit einer Gesamtdatenmenge von ungefähr 550 Gigabyte, deren Durchsicht, Auslesung und Auswertung weitgehend abgeschlossen ist. Überdies sind, auch nach dem 20. März 2023, zahlreiche Zeugen vernommen worden, bis zum 24. August 2023 insgesamt 77 (zum Teil mehrfach).

Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Zuschrift des [X.]s vom 14. September 2023 Bezug genommen.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Ri[X.] Dr. Berg ist urlaubsbedingt
gehindert zu unterschreiben.

     [X.]     

Kreicker

[X.]

                 

Meta

AK 57/23

05.10.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.10.2023, Az. AK 57/23 (REWIS RS 2023, 6887)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6887

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