Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.06.2023, Az. B 4 AS 133/22 B

4. Senat | REWIS RS 2023, 4908

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Recht auf den gesetzlichen Richter - vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts - Übertragung der Berufung auf den Berichterstatter - fehlender Übertragungsbeschluss - Heilung durch rügelose Einlassung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin zu 2 wird das Urteil des [X.] vom 6. Dezember 2021 aufgehoben, soweit ihre Berufung gegen den Gerichtsbescheid des [X.] vom 5. Februar 2020 zurückgewiesen worden ist, und die Sache insofern zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Die Beschwerde des [X.] zu 1 gegen die Nichtzulassung der Revision im vorbezeichneten Urteil wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Kläger auf erneute Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens des [X.] zu 1 sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu 2 ist zulässig und begründet (dazu 1.), diejenige des [X.] zu 1 ist jedenfalls unbegründet (dazu 2.). Der Antrag der Kläger auf erneute Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten hat keinen Erfolg (dazu 3.).

2

1. Das Urteil des [X.] beruht, soweit es gegenüber der Klägerin zu 2 ergangen ist, auf einem von dieser hinreichend bezeichneten (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Das [X.] hat den Anspruch der Klägerin zu 2 auf [X.] (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) verletzt, weil die Berichterstatterin zusammen mit den ehrenamtlichen [X.]n entschieden hat, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür insofern nicht vorlagen.

3

Gesetzlicher [X.] für die Entscheidung von Verfahren vor dem [X.] ist grundsätzlich ein Senat in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen [X.]n (§ 33 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Hiervon macht ua § 153 Abs 5 [X.]G (eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom [X.], [X.]) eine Ausnahme. Danach kann das [X.] die Berufung in den Fällen einer Entscheidung des [X.] durch Gerichtsbescheid (§ 105 [X.]G) durch Beschluss der berufsrichterlichen Mitglieder des Senats dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen [X.]n entscheidet. Das erfordert jedoch einen schriftlich abzufassenden und der Geschäftsstelle zu übergebenden Beschluss (§ 142 Abs 1 und § 134 [X.]G), der der Zustellung an die Beteiligten (§ 142 Abs 1 und § 133 Satz 2 [X.]G) bedarf (B[X.] vom [X.] - B 2 U 344/09 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.] 7; B[X.] vom [X.] [X.]/16 B - juris Rd[X.] 5 mwN). Daran fehlt es hier zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, weil der [X.] vom [X.] der Klägerin zu 2 nicht zugestellt worden ist. Dieser [X.] ist lediglich dem Kläger zu 1 zugestellt worden. Sind mehrere Personen am Verfahren beteiligt, muss jedoch jedem von ihnen zugestellt werden. Dies gilt auch für die Zustellung an Ehegatten, sofern nicht einer den anderen bevollmächtigt hat ([X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 63 Rd[X.] 4a; [X.] in [X.]/Voelzke, jurisPK-[X.]G, 2. Aufl 2022, § 63 Rd[X.]5). Letzteres ist hier nicht der Fall.

4

Es kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zustellungsmangel nach § 63 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm § 189 ZPO hätte geheilt werden können. Denn es lässt sich im vorliegenden Fall nicht feststellen, dass der Klägerin zu 2 der [X.] tatsächlich selbst zugegangen ist.

5

Der Verfahrensmangel ist auch nicht durch rügelose Einlassung (§ 202 Satz 1 [X.]G iVm § 295 ZPO) geheilt; dies gilt bereits deswegen, weil die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts zu den nicht verzichtbaren Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Verfahrens (§ 295 Abs 2 ZPO) gehört (B[X.] vom [X.] - B 2 U 344/09 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.] Rd[X.]; B[X.] vom [X.] [X.]/16 B - juris Rd[X.] 6; etwas anderes gilt bei der Heilung einer fehlenden Anhörung vor Erlass des [X.] durch rügelose Einlassung zur Sache in der mündlichen Verhandlung: B[X.] vom 19.7.2022 - B 1 KR 10/21 BH - juris Rd[X.]3).

6

Zuständig für die Entscheidung über die Berufung der Klägerin zu 2 war danach das [X.] noch in voller Senatsbesetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern sowie zwei ehrenamtlichen [X.]n (§ 33 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Dies betrifft das von [X.] wegen nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG gewährleistete Recht auf [X.] in seiner einfachrechtlichen Ausprägung (stRspr; vgl nur B[X.] vom 8.11.2007 - [X.]/9a [X.] 3/06 R - B[X.]E 99, 189 = [X.] 4-1500 § 155 [X.], Rd[X.]4 mwN; B[X.] vom [X.] [X.]/16 B - juris Rd[X.] 7). Die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts stellt gemäß § 202 Satz 1 [X.]G iVm § 547 [X.] ZPO einen absoluten Revisionsgrund dar. Konsequenz daraus ist, dass zum Beruhenszusammenhang nicht vorgetragen werden muss. Aufgrund dessen ist das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G insoweit aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

7

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] zu 1 ist hingegen jedenfalls unbegründet. Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

8

a) Auf die fehlende Zustellung des [X.] vom [X.] an die Klägerin zu 2 kann sich der Kläger zu 1 nicht berufen. Ihm selbst gegenüber ist dieser [X.] am 28.7.2021 zugestellt und damit wirksam geworden.

9

b) Auch die [X.], das [X.] habe das ihm nach § 153 Abs 5 [X.]G zustehende und zugleich obliegende Ermessen fehlerhaft ausgeübt, ist unbegründet.

Ob das Berufungsgericht nach § 153 Abs 5 [X.]G entscheidet, steht in seinem nur durch das Willkürverbot( Art 3 Abs 1 GG ), also das Verbot sachfremder Erwägungen und grober Fehleinschätzungen, begrenzten Ermessen ( B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 8/18 R - [X.] 4-4300 § 144 [X.]7 Rd[X.]3 ; B[X.] vom [X.] [X.]/20 BH - juris Rd[X.] 6 ; B[X.] vom 20.5.2020 - B 13 R 10/18 R - [X.] 4-2600 § 236b [X.] Rd[X.]0 ). Anders als § 105 Abs 1 Satz 1 [X.]G und § 6 Abs 1 Satz 1 VwGO enthält § 153 Abs 5 [X.]G keine Anforderungen an den Umfang oder Schwierigkeitsgrad des Verfahrens ( B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 8/18 R - [X.] 4-4300 § 144 [X.]7 Rd[X.]2; B[X.] vom [X.] [X.]/20 BH - juris Rd[X.] 6; B[X.] vom 20.5.2020 - B 13 R 10/18 R - [X.] 4-2600 § 236b [X.] Rd[X.]0 ). Es ist deshalb für eine Übertragung auf den Berichterstatter auch nicht erforderlich, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat ( B[X.] vom [X.] - [X.] AS 20/15 R - B[X.]E 121, 55 = [X.] 4-4200 § 43 [X.], Rd[X.]3 ; B[X.] vom 21.9.2017 - B 8 [X.] 3/16 R - [X.] 4-1500 § 153 [X.]6 Rd[X.]4 ; B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 8/18 R - [X.] 4-4300 § 144 [X.]7 Rd[X.]2 ; B[X.] vom 20.5.2020 - B 13 R 10/18 R - [X.] 4-2600 § 236b [X.] Rd[X.]0). Das [X.] hat auch nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in erster Instanz vorgelegen haben ( B[X.] vom 21.9.2017 - B 8 [X.] 3/16 R - [X.] 4-1500 § 153 [X.]6 Rd[X.]3; B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 8/18 R - [X.] 4-4300 § 144 [X.]7 Rd[X.]2 ; B[X.] vom [X.] [X.]/20 BH - juris Rd[X.] 6 ; B[X.] vom 20.5.2020 - B 13 R 10/18 R - [X.] 4-2600 § 236b [X.] Rd[X.]0 ). Der [X.] muss nicht begründet werden (B[X.] vom 27.5.2020 - [X.] [X.] 67/19 B - juris Rd[X.]).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist unter Berücksichtigung des Vorbringens des [X.] zu 1 ein Ermessensfehler des [X.] nicht ersichtlich. Insbesondere folgt kein Ermessensfehler daraus, dass der Kläger zu 1 der Übertragung des Rechtsstreits auf den kleinen Senat widersprochen hat. Die Rechtmäßigkeit der Übertragung ist nicht von der Zustimmung der Beteiligten abhängig (B[X.] vom 29.11.2010 - [X.] [X.]/10 B - juris Rd[X.]). Die Begründung des [X.] zu 1 für die Ablehnung der Übertragung - er sei Opfer eines Staatsverbrechens und er schwebe aufgrund einer Manipulation seiner Gasheizungsanlage in Lebensgefahr - stützen sich auf unsubstantiierte und fernliegende Behauptungen, die das [X.] bei seiner Ermessensausübung nicht zu Lasten des Entschlusses, den Rechtsstreit auf den kleinen Senat zu übertragen, berücksichtigen musste. Dies gilt auch in Bezug auf das nach Erlass des [X.] erfolgte Vorbringen des [X.] zu 1. Soweit der Kläger zu 1 eine mangelnde Rückübertragung auf den [X.] rügt und die Anwendbarkeit des § 526 Abs 2 Satz 1 [X.] ZPO (gemeint: § 526 Abs 2 Satz 1 [X.] ZPO) behauptet, fehlt es im Übrigen bereits an der Darlegung, weswegen er sich hierauf trotz der Regelung des § 526 Abs 3 ZPO berufen können soll.

c) Soweit der Kläger zu 1 schließlich rügt, das [X.] habe seinen Terminverlegungsantrag zu Unrecht abgelehnt, dringt er damit ebenfalls nicht durch. Dass das [X.] zugunsten des [X.] zu 1 Maßnahmen vergleichbar einem "Zeugenschutz" hätte ergreifen müssen, um ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu ermöglichen, weil die Kläger "Opfer eines Staatsverbrechens" seien und ihnen ein "Mordanschlag" drohe, oder aus diesen Gründen die mündliche Verhandlung hätte verlegen müssen, ist fernliegend (so bereits Senatsbeschlüsse vom [X.] - [X.] AS 177/22 BH, [X.] AS 178/22 BH - juris Rd[X.] 4 und vom [X.] - [X.] AS 218/22 BH, [X.] AS 219/22 BH - juris Rd[X.]).

3. Die Kläger haben nach Aufhebung der Beiordnung ihrer früheren Anwältin keinen Anspruch auf Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts; ein solcher Anspruch stand ihnen auch bei Eingang ihres diesbezüglichen Antrags am [X.] nicht zu.

Eine solche Beiordnung eines weiteren Anwalts findet nur statt, wenn ein Grund vorliegt, der auch eine auf eigene Kosten prozessierende [X.] zu einem [X.] veranlasst hätte (B[X.] vom 23.12.2016 - [X.] ÜG 25/16 B - juris Rd[X.]2 - auch zum Folgenden). Ein Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts scheidet dagegen insbesondere aus, wenn die [X.] das Vertrauensverhältnis zu dem beigeordneten Rechtsanwalt ohne sachlichen Grund mutwillig zerstört hat. Letzteres ist hier der Fall, weil die Kläger ihrer beigeordneten Rechtsanwältin wiederholt sachfremde Vorgaben und unhaltbare Vorwürfe, unter anderem den der "Täuschung" und des "Betrugs" gemacht haben.

4. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 [X.]G. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Klägerin zu 2 bleibt der abschließenden Entscheidung des [X.] vorbehalten.

Söhngen

B. [X.]

Burkiczak

Meta

B 4 AS 133/22 B

06.06.2023

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Frankfurt (Oder), 5. Februar 2020, Az: S 17 AS 592/16, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 33 Abs 1 S 1 SGG, § 153 Abs 1 SGG, § 153 Abs 5 SGG, § 142 Abs 1 SGG, § 134 SGG, § 133 S 1 SGG, § 133 S 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 295 ZPO, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.06.2023, Az. B 4 AS 133/22 B (REWIS RS 2023, 4908)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4908

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