Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13.09.2010, Az. 2 BvR 449/10

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2010, 3473

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG durch unzureichende Abwägung bei Entscheidung über eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen - hier: Verfahrensverzögerung bei Entscheidung über Strafrestaussetzung zur Bewährung - Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses auch nach erfolgter Haftentlassung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 25. Januar 2010 - III - 3 Ws 549/09 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine oberlandesgerichtliche Entscheidung, mit der die Feststellung eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in einem Verfahren zur [X.] zur Bewährung abgelehnt wurde.

2

Der Beschwerdeführer wurde am 13. März 2007 wegen erpresserischen Menschenraubs (Tatzeitpunkt war der 31. Oktober 2000) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Hälfte der Strafe war am 16. November 2008 verbüßt, zwei Drittel der Strafe am 1. Juli 2009.

3

Am 23. Dezember 2008 beantragte der Beschwerdeführer - unter Hinweis auf die bereits zur Hälfte verbüßte Strafe -, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Die Justizvollzugsanstalt äußerte sich mit Stellungnahme vom 18. Februar 2009, eingegangen beim [X.] am 2. März 2009, zu seinem Antrag und vertrat die Ansicht, dass eine Entlassung zum [X.] aufgrund des nicht tadellosen Vollzugsverhaltens (illegaler [X.] in der Justizvollzugsanstalt) und der schwerwiegenden Umstände der abgeurteilten Tat nicht vertretbar sei. Grundsätzlich sei aber eine Bewährungsentlassung zum Zweidrittelzeitpunkt in Betracht zu ziehen. Anlässlich seiner Anhörung vor dem [X.] am 15. April 2009 nahm der Beschwerdeführer nach Erörterung der Sach- und Rechtslage das Halbstrafengesuch zurück und beantragte stattdessen die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zum [X.], das heißt zum 1. Juli 2009.

4

Mit Beschluss vom 15. April 2009 lehnte das [X.] den Antrag ab. Die Prognose sei ungünstig, weil gegen den Beschwerdeführer wegen eines weiteren erpresserischen Menschenraubs (dortiger Tatzeitpunkt war der 6. Oktober 2000) ermittelt werde.

5

Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hob das [X.] am 15. Juni 2009 den Beschluss des [X.]s auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung dorthin zurück. [X.] ein Verurteilter - wie vorliegend der Beschwerdeführer - erstmals eine Freiheitsstrafe, spreche eine Vermutung dafür, dass der Vollzug seine Wirkung nicht verfehlt habe und dies der Begehung neuer Straftaten entgegenwirke. Diese Vermutung sei hier nicht widerlegt. Die Tat, wegen der nun ermittelt werde, sei vor der Tat und Verurteilung begangen worden, die der Freiheitsstrafe zugrunde gelegen habe. Die Begehung dieser früheren Tat könne - sofern sie sich überhaupt nachweisen lasse - keinen Aufschluss darüber geben, ob der Vollzug seine erhoffte Wirkung verfehlt habe. Nach Auskunft der Justizvollzugsanstalt habe sich der Beschwerdeführer im Wesentlichen beanstandungsfrei geführt. Die familiären Verhältnisse seien geordnet, die für die Tat ursächliche Drogenabhängigkeit bestehe nicht mehr. Der Beschwerdeführer bereue die Tat. Diese und die weitere Tat lägen über neun Jahre zurück. Der [X.] könne nicht selbst die Vollstreckung des [X.] aussetzen, weil eine Begutachtung noch ausstehe (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 StGB).

6

Im Nachgang der Entscheidung des [X.]s bat der Beschwerdeführer das [X.] unter dem 29. Juni 2009 um eine Sachstandsmitteilung und - angesichts seines am 1. Juli 2009 anstehenden Zwei-Drittel-Haftverbüßungszeitpunkts - um eine bevorzugte Behandlung seiner Angelegenheit. Das [X.] teilte hierauf unter dem 1. Juli 2009 mit, dass der Beschluss des [X.]s nicht bekannt sei und die Akten noch nicht von dort zurückgesandt worden seien.

7

Mit Schreiben vom 6. Juli 2009 übermittelte der Beschwerdeführer dem [X.] den Beschluss des [X.]s vom 15. Juni 2009 und suchte erneut um beschleunigte Behandlung nach. Er verzichtete darüber hinaus auf eine mündliche Anhörung nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO.

8

Durch Beschluss des [X.]s vom 14. Juli 2009 wurde ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Das [X.] wies den Gutachter telefonisch auf die Dringlichkeit des Verfahrens hin. Der Gutachter sagte zu, das Gutachten schnellstmöglich zu erstellen. Einen Termin, zu dem das Gutachten vorliegen sollte, setzte das [X.] dem Sachverständigen nicht.

9

Nachdem der Beschwerdeführer am 11. August 2009 das [X.] darüber informiert hatte, dass ein gutachterliches Gespräch mit ihm noch nicht stattgefunden habe, teilte das [X.] unter dem 12. August 2009 mit, der Sachverständige sei nochmals auf die Dringlichkeit hingewiesen worden und habe zugesagt, in der kommenden Woche mit der Begutachtung zu beginnen. Auch diese terminliche Zusage hielt der Sachverständige nicht ein, so dass der Beschwerdeführer daraufhin am 31. August 2009 beantragte, die Vollstreckung mit sofortiger Wirkung zu unterbrechen. Mit Schreiben vom 7. September 2009 teilte das [X.] mit, dass der Beschwerdeführer laut Sachverständigem nunmehr am 2. September 2009 begutachtet worden sei und das Gutachten bis zum 11. September 2009 vorliegen solle. Mit Schreiben vom 15. September 2009 informierte das [X.] den Beschwerdeführer, dass das Gutachten nach Auskunft des Sachverständigen am 16. September 2009 verschickt werden solle. Tatsächlich ging das vom 21. September 2009 datierende Gutachten beim [X.] am 22. September 2009 und beim Beschwerdeführer am 29. September 2009 ein.

Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer keine Gefahr mehr bestehe, dass die durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Es sei zu erwarten, dass er sich nach einer Entlassung in einem stabilen [X.] Umfeld bewegen könne. Er verfüge über hinreichende Ressourcen, um nicht in kriminogene Verhaltensmuster zurückzufallen.

Mit Schreiben vom 29. September 2009 verzichtete der Beschwerdeführer auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen. Am 7. Oktober 2009 ging beim [X.] die von diesem angeforderte Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ein. Diese erhob keine Einwendungen gegen das Gutachten. Unter dem 8. Oktober 2009 bat der Beschwerdeführer um Sachstandsmitteilung. Das [X.] bestimmte mit Fax vom 13. Oktober 2009 den Anhörungstermin auf Donnerstag, den 15. Oktober 2009. Mit Beschluss vom 15. Oktober 2009 setzte das [X.] nach mündlicher Anhörung des Beschwerdeführers (an der weder die Staatsanwaltschaft noch der Gutachter teilnahmen) die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe mit der Maßgabe aus, dass der Beschwerdeführer nicht vor Ende des 19. Oktober 2009 (Montag) zu entlassen sei. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Der Beschwerdeführer wurde am 20. Oktober 2009 entlassen.

Der Beschwerdeführer beantragte mit sofortiger Beschwerde die Feststellung, dass ein Verstoß gegen das in [X.] geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot vorliege. Er habe bereits ein halbes Jahr vor dem [X.] die [X.] beantragt. Obwohl das [X.] im Beschluss vom 15. Juni 2009 darauf hingewiesen habe, dass er am 1. Juli 2009 zwei Drittel der Strafe verbüßt haben werde und ein Gutachten einzuholen sei, habe das [X.] für die Einholung des Gutachtens mehr als vier Monate benötigt. Er sei erst dreieinhalb Monate nach dem [X.] entlassen worden. Obwohl er auf eine mündliche Anhörung verzichtet habe, habe ein Anhörungstermin stattgefunden. Der festgesetzte Entlassungszeitpunkt sei nicht nachvollziehbar. Das [X.] hätte unschwer telefonisch einen Rechtsmittelverzicht von der Staatsanwaltschaft erwirken und eine sofortige Freilassung veranlassen können.

Das [X.] wies den Antrag mit dem vorliegend angegriffenen Beschluss vom 25. Januar 2010 zurück. Es könne offen bleiben, ob Fälle verzögerter Entscheidungen nach § 57 StGB zur Gruppe tiefgreifender Grundrechtseingriffe gehörten, bei denen ein Feststellungsinteresse trotz prozessualer Überholung angenommen werden könne. Jedenfalls sei das Beschleunigungsgebot nicht verletzt. Die Dauer des [X.] sei nicht unangemessen. Die etwa dreieinhalbmonatige Überschreitung des [X.]es werde durch die Länge der vierjährigen Freiheitsstrafe relativiert. Das Verfahren sei überdies allenfalls um die zwei Monate verlängert worden, die zwischen der aufgehobenen Entscheidung des [X.]s vom 15. April 2009 und dem Beschluss des [X.]s vom 15. Juni 2009 lägen. Die anschließende Anfertigung des Gutachtens innerhalb von zwei Monaten halte sich im Rahmen des Üblichen, zumal das [X.] den Gutachter viermal telefonisch auf die Dringlichkeit hingewiesen habe. Nach Eingang des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahme des [X.] habe das [X.] zeitnah am 13. Oktober 2009 den Anhörungstermin bestimmt, der bereits zwei Tage später stattgefunden habe. Die für den Beschwerdeführer mit dem Verfahren verbundenen Belastungen seien wegen der im Beschluss des [X.]s und im Gutachten zum Ausdruck gekommenen konkreten Entlassungsaussicht erheblich gemindert gewesen.

II.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 104 GG. Der [X.] sei um 16 Wochen, der [X.] um etwa elf Monate überschritten worden.

1. Das [X.] habe das Verfahren nach § 57 StGB nicht so rechtzeitig eingeleitet, dass es vor dem [X.] und vor dem [X.] habe abgeschlossen werden können. Es habe keine organisatorischen Maßnahmen zur Begrenzung der Verfahrensdauer ergriffen. Da es sich bei der Aussetzung nach § 57 StGB um eine Routineentscheidung handle, seien strenge organisatorische Anforderungen zu stellen, zumal § 454a StPO den Gerichten eine Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung wesentlich früher als drei Monate vor dem Entlassungszeitpunkt ermögliche.

2. Im Einzelnen rügt der Beschwerdeführer folgende Verfahrensverzögerungen:

a) Das [X.] habe erst am 14. Juli 2009 ein für die Entscheidung über die [X.] erforderliches Gutachten in Auftrag gegeben.

b) Das [X.] sei in der [X.] zwischen der Entscheidung des [X.]s vom 15. Juni 2009 und der Bestellung des Gutachters am 14. Juli 2009 untätig geblieben.

c) Das [X.] habe entgegen § 73 Abs. 1 Satz 2 StPO und in Kenntnis des Umstands, dass der [X.] bereits seit dem 1. Juli 2009 überschritten war, bei der Bestellung des Gutachters am 14. Juli 2009 mit diesem keine Absprachen über den [X.]punkt der Gutachtenerstellung getroffen. Es habe dadurch weitere Verzögerungen durch den Gutachter ermöglicht.

d) Das [X.] habe nach Vorlage des Gutachtens am 22. September 2009 nicht unverzüglich den Anhörungstermin anberaumt. Im Übrigen sei die Anhörung vom 15. Oktober 2009 angesichts des Verzichts des Beschwerdeführers und der Tatsache, dass an der Anhörung weder der Sachverständige noch die Staatsanwaltschaft teilgenommen hätten, auch entbehrlich gewesen.

e) Eine weitere - nicht nachvollziehbare Verzögerung - sei eingetreten, weil der Beschluss des [X.]s vom 15. Oktober 2009 angeordnet habe, den Beschwerdeführer nicht vor Ablauf des 19. Oktobers 2009 aus der Haft zu entlassen.

Das [X.] des Landes [X.] hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat keine Stellungnahme abgegeben. Dem [X.] haben die Akten des Strafverfahrens und das [X.] vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]) und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das [X.] bereits entschieden sind.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ist nicht durch die [X.] zur Bewährung am 15. Oktober 2009 und die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Strafhaft am 20. Oktober 2009 entfallen. Der Beschwerdeführer sieht in der behaupteten Verletzung des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots in [X.] eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts. Es würde der Bedeutung des Schutzes der Freiheit durch das Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht entsprechen, wenn das Recht auf verfassungsrechtliche Klärung einer behaupteten Freiheitsverletzung nach deren Beendigung ohne Weiteres entfiele ([X.] 10, 302 <308>; 74, 102 <115>; 76, 363 <381>). Angesichts des mit der Freiheitsentziehung erlittenen Eingriffs in ein besonders bedeutsames Grundrecht besteht ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch nach deren Erledigung fort. Diesem Interesse haben mit Rücksicht auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde vorrangig die zuständigen Fachgerichte zu genügen. Das [X.] hat hier mit der Ablehnung des Antrags, festzustellen, dass ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot vorliege, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung bis zur Entlassung des Beschwerdeführers am 20. Oktober 2009 bestätigt. Der Beschwerdeführer hat ein berechtigtes Interesse an der Klärung, ob diese Entscheidung ihn in seinen Grundrechten verletzt (vgl. [X.] 104, 220 <231>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

Die angegriffene Entscheidung des [X.]s vom 25. Januar 2010 befasst sich zwar mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in [X.], hat aber nicht alle Gesichtspunkte, die zu einer Verfahrensverzögerung geführt haben könnten, gewürdigt und in seine Abwägung einbezogen. Dadurch verletzt das [X.] das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen gerichtlichen Verfahrens (vgl. [X.] 20, 45 <49 f.>; 21, 184 <187>; 21, 220 <222>; 21, 223 <225 f.>; 36, 264 <273>; 46, 194 <195>). Im Verfahren über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten [X.]s vom 6. Juni 2001 - 2 BvR 828/01 -, NJW 2001, [X.] 2707, und vom 6. April 2006 - 2 BvR 619/06 -, juris).

Dabei ist die Frage, ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu beurteilen (vgl. [X.] 55, 349 <369>). Bei dieser Beurteilung sind insbesondere der [X.]raum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die [X.] zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens im Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sind ferner das Prozessverhalten des Verurteilten (vgl. [X.], Beschlüsse der [X.] des Zweiten [X.]s vom 6. Juni 2001 - 2 BvR 828/01 -, NJW 2001, [X.] 2707, und vom 19. Januar 2004 - 2 BvR 1904/03, 2 BvR 32/04 -, juris) und die Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, [X.] 214 <215>; Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 24. September 2009 - 1 BvR 1304/09 -, juris).

Eine Beschleunigung ist auch bei solchen Verfahren nicht grundsätzlich ausgeschlossen, in denen das Gericht bei der Entscheidungsfindung auf die Mitwirkung von Sachverständigen angewiesen ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, [X.] 214 <215>). Beispielsweise kann das Vollstreckungsgericht bei der Auswahl und Beauftragung eines Sachverständigen die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit berücksichtigen und der voraussichtlichen Bearbeitungsdauer bei der Auswahl des Sachverständigen entscheidendes Gewicht beimessen. Während der Bearbeitung des Gutachtens ist der [X.]faktor durch zeitnahe Überwachung der gutachterlichen Tätigkeit und durch das Setzen von [X.] im Blick zu behalten (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 20. Juli 2000 - 1 BvR 352/00 -, NJW 2001, [X.] 214 <215>; Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 20. September 2007 - 1 BvR 775/07 -, NJW 2008, [X.] 503 <504>). Es kann unzureichend sein, den Sachverständigen an die Abgabe seiner Stellungnahme zu erinnern und darauf zu vertrauen, dass das Gutachten zeitnah erstellt wird ([X.], Beschluss der [X.] des Zweiten [X.]s vom 6. April 2006 - 2 BvR 619/06 -, juris).

Mit zunehmender Verfahrensdauer verdichtet sich die mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um die Beschleunigung und den Abschluss des Verfahrens zu bemühen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 20. September 2007 - 1 BvR 775/07 -, NJW 2008, [X.] 503 <504>; Beschluss der [X.] des Ersten [X.]s vom 24. September 2009 - 1 BvR 1304/09 -, juris), sowie die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung. Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt gerade im Fall des [X.] die Bedeutung eines Verfassungsgebotes zu (Beschluss der [X.] des Zweiten [X.]s vom 20. Juli 2009 - 2 BvR 328/09 -, juris).

b) Die Begründung einer fachgerichtlichen Entscheidung darüber, ob ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in [X.] vorliegt, muss erkennen lassen, dass das Gericht geprüft hat, ob und gegebenenfalls welche Verfahrensverzögerungen eingetreten und welche Ursachen hierfür maßgeblich sind. Nur wenn diese Grundlagen konkret benannt werden, ist eine sachgerechte Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und dem Freiheitsgrundrecht des Inhaftierten gewährleistet (vgl. [X.]K 8, 1 <8>).

c) Diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung des [X.]s nicht stand.

Das [X.] geht in seinem Beschluss pauschal davon aus, dass das Verfahren allenfalls um die zwei Monate verlängert worden sei, die zwischen der aufgehobenen Entscheidung des [X.]s vom 15. April 2009 und dem Beschluss des [X.]s vom 15. Juni 2009 liegen. Es verneint damit im Ergebnis, dass bereits vor dem 15. April 2009 eine relevante, den Beschwerdeführer in seinen Freiheitsrechten verletzende Verzögerung eingetreten sein kann.

Diese Einschätzung ist insofern fehlerhaft, als der Beschwerdeführer zum einen bereits unter dem 23. Dezember 2008 beantragt hat, seine Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, zum anderen aber die Justizvollzugsanstalt unter dem 18. Februar 2009 - eingegangen beim [X.] am 2. März 2009 - zur [X.] umfangreich Stellung genommen hat. Weder der Abteilungsdienst noch der Werkdienst sahen Gründe, die gegen eine vorzeitige Haftentlassung sprachen. Der Sozialdienst führte aus, dass zwar eine Entlassung zum [X.] aufgrund des nicht ganz tadellosen Vollzugsverhaltens (illegaler [X.] in der Justizvollzugsanstalt im April 2008) und der schwerwiegenden Umstände der abgeurteilten Tat nicht vertretbar sei, aber grundsätzlich eine Bewährungsentlassung zum [X.] in Betracht komme.

In einem derartigen Fall hätte das [X.] angesichts der hinreichend positiven Beurteilung durch die Justizvollzugsanstalt nach Zugang der Stellungnahme am 2. März 2009 gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben müssen. Dadurch wäre eine Prüfung über die [X.] zum [X.] am 1. Juli 2009 vorbereitet worden.

Es ist davon auszugehen, dass das [X.], hätte es bereits Anfang März 2009 einen Sachverständigen mit einem Prognosegutachten beauftragt, zu einem erheblich früheren [X.]punkt - wohl bereits zum [X.] am 1. Juli 2009 - über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hätte entscheiden können. Insoweit könnte durch die Beauftragung des Gutachters am 14. Juli 2009 und die Haftentlassung des Beschwerdeführers am 20. Oktober 2009 eine fast viermonatige, vermeidbare Verzögerung des Verfahrens eingetreten sein.

Ob darüber hinaus weitere vermeidbare Verfahrensverzögerungen, insbesondere wegen der fehlenden Fristsetzung für die Erstellung des Gutachtens (§ 73 Abs. 1 Satz 2 StPO), eingetreten sind, hat das [X.] nicht geprüft und insoweit daher die gebotene Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers auf unzureichender Grundlage vorgenommen.

V.

Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.].

Die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 Alt. 1 [X.].

Meta

2 BvR 449/10

13.09.2010

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Düsseldorf, 25. Januar 2010, Az: III - 3 Ws 549/09, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 57 StGB, § 454a StPO, § 454 Abs 2 S 1 Nr 2 StPO, § 73 Abs 1 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13.09.2010, Az. 2 BvR 449/10 (REWIS RS 2010, 3473)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3473

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Referenzen
Wird zitiert von

2 BvR 2039/16

2 Ws 206 - 207/17

2 BvR 631/18

2 BvR 2874/10

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