Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 22.09.2016, Az. 2 C 17/15

2. Senat | REWIS RS 2016, 5064

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Gegenstand

Bindungswirkung eines Disziplinarurteils wegen schuldhaften Fernbleibens vom Dienst für das Verfahren der Feststellung des Verlusts der Dienstbezüge


Leitsatz

Bei einem disziplinarrechtlichen Urteil erwächst neben dem Tenor auch die Feststellung, dass der Beamte wegen eines bestimmten Verhaltens ein Dienstvergehen begangen hat, in materielle Rechtskraft. Daher ist die in einem rechtskräftigen Disziplinarurteil getroffene Feststellung, dass der Beamte in einem bestimmten Zeitraum unerlaubt und schuldhaft dem Dienst ferngeblieben ist, auch für ein nachfolgendes Verfahren über die Feststellung des Verlusts der Dienstbezüge bindend.

Tatbestand

1

Die Kläger sind die Erben eines 2015 verstorbenen Ruhestandsbeamten, der bis 2011 im [X.] beschäftigt war. In einem vorausgegangenen Disziplinarverfahren war der Beamte durch [X.] wegen schuldhaften Fernbleibens vom Dienst während eines Zeitraums von etwas mehr als zwei Wochen im März 2005 vom Amt eines Zollhauptsekretärs (Besoldungsgruppe [X.]) in das Amt eines [X.] (Besoldungsgruppe [X.] [X.]) zurückgestuft worden.

2

Die Kläger wenden sich im vorliegenden Verfahren gegen die Feststellung des Verlustes der Dienstbezüge des Beamten für den Zeitraum seines schuldhaften Fernbleibens vom Dienst. Sie sind mit ihrem Begehren in den Vorinstanzen gescheitert. Das Berufungsgericht hat keine Beweisaufnahme über die Frage des schuldhaften Fernbleibens vom Dienst durchgeführt, weil es angenommen hat, dass dies durch das rechtskräftige [X.] bereits bindend für das besoldungsrechtliche Verlustfeststellungsverfahren festgestellt worden sei.

3

Mit der bereits vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beantragen die Kläger,

die Urteile des [X.] vom 14. Juli 2015 und des [X.] vom 14. Juni 2013 sowie den Bescheid des [X.] vom 29. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der [X.] Südost vom 19. Januar 2012 aufzuheben.

4

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

5

[X.]ie zulässige Revision der Kläger ist unbegründet. [X.]as Urteil des Berufungsgerichts verletzt kein revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). [X.]ie Revision ist daher zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO).

6

[X.]as Berufungsgericht hat in Einklang mit § 121 VwGO entschieden, dass die in einem rechtskräftigen [X.]isziplinarurteil getroffene Feststellung, ein Beamter sei in einem bestimmten Zeitraum unerlaubt und schuldhaft dem [X.]ienst ferngeblieben, im nachfolgenden Verfahren über die Feststellung des Verlusts der [X.]ienstbezüge nach § 9 [X.] bindend ist.

7

§ 9 Satz 1 [X.] bestimmt, dass der Beamte, [X.] oder Soldat, der ohne Genehmigung schuldhaft dem [X.]ienst fernbleibt, für die [X.] seine Bezüge verliert. [X.]er Verlust der Bezüge ist festzustellen (§ 9 Satz 3 [X.]).

8

Wie bei einem Anfechtungs- oder Verpflichtungsurteil die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts an der präjudiziellen Wirkung des Urteils teilhat, so ist mit der Verhängung einer [X.]isziplinarmaßnahme notwendig die Feststellung eines konkreten [X.]ienstvergehens verbunden. [X.]as Urteil, das eine [X.]isziplinarmaßnahme ausspricht, umfasst damit zugleich die Feststellung, dass in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Lebenssachverhalt - hier: dem schuldhaften Fernbleiben vom [X.]ienst - ein konkretes [X.]ienstvergehen liegt. [X.]ie materielle Bindungswirkung des rechtskräftig gewordenen [X.] umfasst deshalb aus Gründen des Widerspruchs- und des [X.] bei rechtskräftigen Urteilen auch das sachgleiche Verfahren über die Feststellung des Verlusts der [X.]ienstbezüge. [X.]ies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

9

Nach § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. In diesem Umfang tritt damit materielle Rechtskraft ein, d.h. der durch das Urteil ausgesprochene Inhalt ist in jedem Verfahren zwischen den Beteiligten bindend. [X.]as [X.] dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden ([X.], Beschluss vom 25. November 2008 - 1 BvR 848/07 - [X.]E 122, 190 <203>). Es bezweckt, dass in einem neuen Verfahren keine dem rechtskräftigen Urteil widersprechende Entscheidung ergehen kann (BVerwG, Urteile vom 24. November 1998 - 9 [X.] 53.97 - BVerwGE 108, 30 <33> und vom 22. Oktober 2009 - 1 [X.] 26.08 - BVerwGE 135, 137 <142> sowie Beschluss vom 30. Juni 2014 - 2 B 99.13 - [X.] 310 § 121 VwGO Nr. 106 Rn. 13). [X.]eshalb sind in einem späteren Prozess nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Gerichte an das rechtskräftige Urteil gebunden (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1995 - 8 [X.] 8.93 - [X.] 310 § 121 VwGO Nr. 70 S. 6). [X.]er Widerstreit zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nach der [X.]urchführung eines den rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Verfahrens wird damit zu Gunsten des letzteren Prinzips entschieden ([X.], in: [X.]/[X.]/Bier, VwGO, Stand Februar 2016, § 121 Rn. 4).

Von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung der Rechtskraft und ihrer Reichweite ist der Streitgegenstand. Soweit hierüber rechtskräftig entschieden ist, tritt materielle Bindungswirkung ein. [X.]er Streitgegenstand besteht aus der erstrebten Rechtsfolge, die im Klageantrag zum Ausdruck kommt, und dem Klagegrund, d.h. dem Sachverhalt, aus dem sie sich ergeben soll (BVerwG, Urteile vom 31. August 2011 - 8 [X.] 15.10 - BVerwGE 140, 290 Rn. 20 und vom 30. Januar 2013 - 8 [X.] 2.12 - NVwZ-RR 2013, 489 Rn. 12). [X.]ie Rechtskraft bindet deshalb auch, wenn und soweit sich die entschiedene Frage in einem späteren Verfahren mit einem anderen Streitgegenstand als (präjudizielle) Vorfrage stellt. Allerdings erfasst die inhaltliche Bindungswirkung aus § 121 VwGO nur die Entscheidung über den Streitgegenstand selbst, nicht aber die hierzu vorgreiflichen Rechtsverhältnisse oder Vorfragen. [X.]iese können nur durch ein Zwischenfeststellungsurteil materielle Bindungswirkung erlangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 2011 - 8 [X.] 15.10 - BVerwGE 140, 290 Rn. 22 m.w.N).

Im Verwaltungsprozess besteht die Besonderheit, dass bereits der Streitgegenstand der [X.] regelmäßig zweistufig ist. Im Falle der Anfechtungsklage wird nicht nur der angefochtene Verwaltungsakt aufgehoben; festgestellt ist mit dem Urteil vielmehr zugleich, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat (vgl. [X.], in: [X.], VwGO, 14. Aufl. 2014, § 121 Rn. 25 m.w.N.). [X.]as Urteil erschöpft sich nicht in der bloßen Kassation, sondern verbietet der Behörde zugleich, in derselben Sache gegenüber demselben Beteiligten erneut eine entsprechende Verfügung zu erlassen (BVerwG, Urteile vom 8. [X.]ezember 1992 - 1 [X.] 12.92 - BVerwGE 91, 256 <257> und vom 28. Januar 2010 - 4 [X.] 6.08 - [X.] 310 § 121 VwGO Nr. 99 Rn. 11). [X.]ies wird als Widerspruchs- und Wiederholungsverbot bezeichnet.

[X.]as Gestaltungsurteil der Anfechtungsklage beinhaltet damit stets auch einen feststellenden Teil. Einer Zwischenfeststellung bedarf es dafür nicht. [X.]ie in dem Anfechtungsurteil enthaltene Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nimmt an der präjudiziellen Wirkung des Urteils teil (BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2002 - 2 [X.] 7.01 - BVerwGE 116, 1 <3 f.> und vom 7. August 2008 - 7 [X.] 7.08 - BVerwGE 131, 346 Rn. 18). Hierauf beschränkt sich der gerichtliche Ausspruch im Falle der vorangegangenen Erledigung, bei der es der Kassation nicht mehr bedarf (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. November 1997 - 5 [X.] 1.96 - BVerwGE 105, 370 <373>).

Entsprechendes gilt für die Verpflichtungsklage. Auch hier ist Streitgegenstand nicht nur die Verpflichtung der Behörde; mitumfasst ist vielmehr auch die Feststellung, dass die Unterlassung der begehrten Handlung rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Mit dem Ausspruch des Gerichts ist daher auch die Feststellung verbunden, dass dem Kläger der geltend gemachte Anspruch zusteht, die Voraussetzungen der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage mithin vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1985 - 6 [X.] 22.84 - [X.] 316 § 51 VwVfG Nr. 18 S. 17 f.; Beschluss vom 16. Februar 1990 - 9 B 325.89 - [X.] 412.3 § 18 BVFG Nr. 13 S. 13). [X.]ies gilt auch umgekehrt im Falle der Erfolglosigkeit: Nach rechtskräftiger Abweisung einer Verpflichtungsklage steht einem erneuten Antrag bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage die materielle Rechtskraft des bindenden Feststellungsteils des Urteils entgegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juni 1975 - 4 [X.] 15.73 - BVerwGE 48, 271 <275 f.>).

[X.]iese Erwägungen lassen sich auf die hier vorliegende Konstellation eines [X.] übertragen. Auch ein [X.]isziplinarurteil hat notwendigerweise eine zweistufige Struktur und erschöpft seine Rechtskraftwirkung nicht im Gestaltungsausspruch. Wie bei der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ist mit der Verhängung einer [X.]isziplinarmaßnahme notwendig die Feststellung eines [X.]ienstvergehens verbunden (vgl. § 77 Abs. 3 [X.] und § 47 Abs. 3 BeamtStG). [X.]as Urteil, mit dem eine [X.]isziplinarmaßnahme ausgesprochen wird, umfasst damit zugleich die Feststellung, dass in dem abgeurteilten Lebenssachverhalt ein bestimmtes, konkretes [X.]ienstvergehen liegt.

Aus der materiellen Bindungswirkung dieser Feststellung folgt, dass im [X.]isziplinarverfahren nicht nur der Ausspruch einer [X.]isziplinarmaßnahme als solcher, sondern auch der (einschlägige) Inhalt des [X.]ienstvergehens als Vorbelastung Rechtskraftwirkung entfaltet. [X.]enn Streitgegenstand des [X.]isziplinarverfahrens ist der Anspruch des [X.]ienstherrn gegen den Beamten, die erforderliche [X.]isziplinarmaßnahme für die ihm zur Last gelegten Handlungen zu bestimmen. [X.]ieser [X.]isziplinaranspruch besteht, wenn der Beamte die ihm vorgeworfenen Handlungen ganz oder teilweise vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat, die nachgewiesenen Handlungen als [X.]ienstvergehen zu würdigen sind und dem Ausspruch der [X.]isziplinarmaßnahme kein rechtliches Hindernis entgegensteht (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 2011 - 2 [X.] 16.10 - BVerwGE 140, 185 Rn. 17 und Beschluss vom 9. Oktober 2014 - 2 [X.] - [X.] 235.1 § 13 [X.] Nr. 26 Rn. 15). Mit dem [X.] oder rechtskräftigem Abschluss eines [X.]isziplinarverfahrens steht im Hinblick auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt fest, ob ein [X.]isziplinaranspruch des [X.]ienstherrn besteht oder nicht, d.h. ob ein [X.]ienstvergehen gegeben ist oder nicht.

[X.]ie Rechtskraft des [X.] erfasst deshalb neben dem die [X.] Tenor die Feststellung, dass die in der Klageschrift benannten Tatsachen ein bestimmtes [X.]ienstvergehen - hier das schuldhafte Fernbleiben vom [X.]ienst - begründen. [X.]er Streitgegenstand wird - wie bereits ausgeführt - durch den Klageantrag und den Klagegrund, d.h. den Sachverhalt bestimmt, aus dem der Kläger die angestrebte Rechtsfolge herleitet (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 2011 - 2 [X.] 16.10 - BVerwGE 140, 185 Rn. 16). [X.]abei erstreckt sich die Rechtskraft eines [X.] nach dem Grundsatz der Einheit des [X.]ienstvergehens auf jedes vor der letzten Maßregelung liegende Fehlverhalten des Beamten. Eine nachträgliche, getrennte Verfolgung solcher Verfehlungen ist ausgeschlossen. Mit der letzten [X.]isziplinarmaßnahme ist die [X.]isziplinargewalt des [X.]ienstherrn verbraucht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2014 - 2 B 99.13 - [X.] 310 § 121 VwGO Nr. 106 Rn. 15; [X.], in: [X.][X.]/[X.], [X.], Kommentar, 6. Aufl. 2016, S. 79).

[X.]anach umfasst der Streitgegenstand hier den Sachverhalt des unerlaubten und unentschuldigten Fernbleibens vom [X.]ienst im März 2005 sowie die Feststellung, dass hierin ein bestimmtes [X.]ienstvergehen liegt. Hierüber ist mit rechtskräftigem [X.]isziplinarurteil des [X.] vom 22. September 2010 - 16b [X.] 09.2133 - entschieden worden, sodass die materielle Bindungswirkung auch das sachgleiche Verfahren über die Feststellung des Verlusts der [X.]ienstbezüge umfasst. Es ist Sinn und Zweck des [X.], dass über den identischen Sachverhalt beider Verfahren keine erneuten oder sich widersprechenden Urteile ergehen.

[X.]ie Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 159 Satz 2 VwGO.

Meta

2 C 17/15

22.09.2016

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, 14. Juli 2015, Az: 14 B 14.1598, Urteil

§ 77 Abs 3 BBG, § 9 S 1 BBesG, § 9 S 3 BBesG, § 47 Abs 3 BeamtStG, § 121 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 22.09.2016, Az. 2 C 17/15 (REWIS RS 2016, 5064)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 5064

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