Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. XIII ZB 64/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 7628

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Gegenstand

Beschwerde in einer Abschiebehaftsache wegen Verlängerung der Sicherungshaft: Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung; Auswirkung eines weiteren Asylverfahrens auf die Ausreisepflicht des Betroffenen; zwingende erneute persönliche Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 21. August 2020 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des [X.] vom 10. September 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Landeshauptstadt [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste 2002 unerlaubt in das [X.] ein. Seinen unter Angabe falscher Personalien gestellten Asylantrag lehnte das [X.] ([X.]) mit - zwischenzeitlich - bestandskräftigem Bescheid vom 25. Februar 2003 als offensichtlich unbegründet ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung auf, das [X.] zu verlassen. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 erließ die [X.] gegen den Betroffenen eine Ausweisungsverfügung. Dagegen erhob der Betroffene, nachdem er am 15. Oktober 2015 festgenommen worden war und anschließend eine Haftstrafe verbüßte, am 21. Januar 2019 Klage. Einen weiteren Asylantrag lehnte das [X.] mit Bescheid vom 22. Januar 2020 wiederum als offensichtlich unbegründet ab, wobei ihm abermals die Abschiebung angedroht wurde, falls er das [X.] nicht innerhalb von 30 Tagen verlassen haben sollte. Dagegen legte der Betroffene Klage zum [X.] ein, das seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit Beschluss vom 4. März 2020 zurückwies. Mit Beschluss vom 20. August 2020 stellte das [X.] unter Abänderung seines Beschlusses vom 4. März 2020 fest, dass die Klage gegen den Bescheid des [X.]s vom 22. Januar 2020 aufschiebende Wirkung hat.

2

Nachdem das Amtsgericht zuvor Abschiebungshaft bis zum 24. August 2020 angeordnet hatte und eine für den 24. August 2020 geplante Abschiebung an der fehlenden Genehmigung der [X.] Behörden gescheitert war, hat es mit Beschluss vom 21. August 2020 auf Antrag der beteiligten Behörde die Haft bis zum 24. September 2020 verlängert.

3

Ebenfalls am 21. August 2020 hat die beteiligte Behörde in Ergänzung ihres Bescheids vom 15. Oktober 2015 dem Betroffenen die Abschiebung in die [X.] angedroht. Mit Bescheid vom 24. August 2020 hat auch das [X.] unter Neufassung von Ziff. 5 des Bescheids vom 22. Januar 2020 eine weitere Abschiebungsandrohung erlassen und eine Frist zur freiwilligen Ausreise von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung mit der Maßgabe gesetzt, dass die Vollziehung ausgesetzt wird bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und - bei fristgerechter Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage - bis zur Bekanntgabe einer ablehnenden Entscheidung über den Eilantrag.

4

Mit Beschluss vom 10. September 2020 hat das [X.] die gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts vom 21. August 2020 gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf des [X.] die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amts- und des [X.]s ihn in seinen Rechten verletzt haben.

5

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

6

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Verlängerung der Haft sei rechtmäßig. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der Bescheid des [X.]s vom 24. August 2020 enthalte nunmehr eine vollziehbare Abschiebungsandrohung. Gegen diese Androhung habe der Betroffene nach Kenntnis des Gerichts auch kein Rechtsmittel eingelegt. Die Klagefrist sei mittlerweile abgelaufen. Überdies habe die beteiligte Behörde bereits am 21. August 2020 eine für sofort vollziehbar erklärte Abschiebungsandrohung ohne Gewährung einer Ausreisefrist erlassen. Es sei nicht erforderlich, dass die [X.] vor der Haftentscheidung vorliege. Es genüge vielmehr, wenn deren Erlass während der Haftzeit zu erwarten sei.

7

2. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Es fehlte bereits an einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen.

8

a) Eine solche ergab sich nicht aus dem Bescheid des [X.]s vom 22. Januar 2020, weil die Abschiebungsandrohung, wie das [X.] mit Beschluss vom 20. August 2020 festgestellt hat, nicht sofort vollziehbar war.

9

b) Auch die Abschiebungsandrohung im Bescheid der beteiligten Behörde vom 21. August 2020 bot keine Grundlage für die Annahme, der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Zwar hat sie ihm darin die Abschiebung in die [X.] angedroht. Dieser Bescheid ergänzte aber lediglich die frühere Verfügung vom 14. Oktober 2015, enthielt jedoch keine selbständige Ausweisungsentscheidung. Die Ausweisungsentscheidung aus dem [X.] konnte die Ausreisepflicht des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftentscheidung nicht mehr begründen, weil das [X.] auf Antrag des Betroffenen ein weiteres Asylverfahren durchgeführt hatte und diesem daher der Aufenthalt im [X.] nach § 55 Abs. 1 [X.] gestattet war (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Januar 2019 - [X.], juris Rn. 20).

c) Das Beschwerdegericht konnte sich schließlich nicht auf den Änderungsbescheid des [X.]s vom 24. August 2020 und die darin enthaltene Abschiebungsandrohung stützen.

aa) Für den vor Bekanntgabe des Bescheids vom 24. August 2020 angeordneten Haftzeitraum konnte dieser Bescheid schon keine tragfähige Grundlage bilden, weil die Abschiebungsandrohung, die nach § 59 Abs. 1 [X.] eine unabdingbare Vollstreckungsvoraussetzung bildet, nicht wie erforderlich ([X.], Beschlüsse vom 21. August 2019 - [X.], [X.] 2020, 28 Rn. 9; vom 31. August 2021 - [X.]/19, NVwZ-RR 2022, 115 Rn. 11) im Zeitpunkt der Verlängerung der Sicherungshaft vorlag.

bb) Aber auch für den darüber hinaus gehenden Zeitraum konnte sich das Beschwerdegericht auf den Bescheid des [X.]s vom 24. August 2020 nicht stützen, ohne den Betroffenen zuvor dazu anzuhören.

Das Beschwerdegericht kann von der nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG an sich vorgeschriebenen und vom Gesetzgeber wegen der Bedeutung des Eingriffs in das [X.] für nicht begründungsbedürftig gehaltenen (erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen (vgl. § 420 FamFG) nach Satz 2 der genannten Vorschrift - auch bei der gebotenen Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 [X.] - absehen, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (näher [X.], Beschluss vom 21. September 2021 - [X.]/19, juris Rn. 24). Ob es von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, steht im Ermessen des [X.] ([X.], Beschluss vom 29. Oktober 2015 - [X.], [X.] 2016, 54 Rn. 4). Die erneute persönliche Anhörung des Betroffenen ist aber zwingend, wenn das Beschwerdevorbringen eine weitere Sachaufklärung erwarten lässt, sich nach Erlass der Haftanordnung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben haben oder sich das Beschwerdegericht auf Tatsachen stützen will, zu denen der Betroffene noch nicht gehört worden ist ([X.], Beschluss vom 21. September 2021 - [X.]/19, juris Rn. 24, mwN). Eine solche neue Tatsache ist ebenso wie das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 5, 8 [X.], § 51 Abs. 5 VwVfG ([X.], Beschlüsse vom 11. Oktober 2012 - [X.] 274/11, [X.] 2013, 77 Rn. 11; vom 21. September 2021 - [X.]/19, juris Rn. 24) auch die erstmalige Androhung der Abschiebung. Damit hat sich die Grundlage für die Haftanordnung nicht nur geändert. Mit der Abschiebungsandrohung vom 24. August 2020 sind vielmehr erstmals die Voraussetzungen für die Haftanordnung geschaffen worden.

3. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht kommt nicht in Betracht, da die hier nach § 68 Abs. 3, § 420 Abs. 1 FamFG erforderliche Anhörung wegen der Ausreise des Betroffenen nicht mehr möglich ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 17. März 2016 - [X.] 39/15, juris Rn. 10; vom 25. August 2020 - [X.]/19, juris Rn. 31; vom 23. Februar 2021 - [X.]/19, juris Rn. 16).

4. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

  

[X.]     

  

Tolkmitt

  

Picker     

  

Holzinger     

  

Meta

XIII ZB 64/20

25.10.2022

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Paderborn, 10. September 2020, Az: 5 T 195/20

§ 55 Abs 1 AsylVfG, § 71 Abs 5 AsylVfG, § 71 Abs 8 AsylVfG, Art 6 Abs 1 MRK, § 58 FamFG, §§ 58ff FamFG, § 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 420 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.10.2022, Az. XIII ZB 64/20 (REWIS RS 2022, 7628)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7628

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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