Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.04.2014, Az. VI ZR 382/12

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 6289

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
VI [X.]

Verkündet am:

15. April 2014

Böhringer-Mangold

Justizamtsinspektorin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
BGB §§ 611, 823 Abs. 1 Aa
Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände [X.] nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den [X.]punkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veral-ten.
[X.], Urteil vom 15. April 2014 -
VI [X.] -
O[X.]

[X.]
-

2

-

Der VI. Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. April 2014
durch den Vorsitzenden [X.], [X.], die Richterin [X.], den
Richter Pauge und die Richterin von
Pentz

für Recht erkannt:
Die Revision der [X.] zu
2 als Streithelferin der Klägerin ge-gen das Teilurteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 12.
Juli 2012 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens und der [X.] trägt die Beklagte zu
2.
Von Rechts wegen

Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die
[X.] wegen fehlerhafter ärztlicher [X.] auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
Die Mutter der Klägerin wurde am 22.
Juni 1995 in der 27.
Schwanger-schaftswoche wegen vorzeitiger Wehen und einer Cervixinsuffizienz in dem von der [X.] zu
1 betriebenen Krankenhaus aufgenommen. Ihr wurden
Bett-ruhe und wehenhemmende Medikamente (Partusisten)
verordnet. Nachdem am 27.
Juni 1995 der Muttermund bereits 3 cm geöffnet und die Fruchtblase prola-biert
war,
unternahmen die Ärzte der [X.] zu
1 am 28.
Juni 1995 den [X.], den Muttermund operativ
zu verschließen. Hierbei kam es zu einer erheb-1
2
-

3

-

lichen Blutung bei der Mutter und zum vorzeitigen Blasensprung, weshalb be-schlossen wurde, eine Notsectio durchzuführen. Da es sich um eine [X.] handelte, wurden zwei Neonatologen
aus dem von der [X.] zu
2 betriebenen Klinikum angefordert, die um 12.50 Uhr eintrafen. Die Klägerin wurde um 12.59
Uhr als zweites Zwillingsmädchen mit einem Gewicht von 920 Gramm und einer Größe von 38 cm geboren. Als sie vom Operations-tisch zum Reanimationsplatz getragen wurde, tropfte aus dem sie umhüllenden Tuch Blut. Bei der weiteren Behandlung und Untersuchung wurde ein Einriss der Nabelschnur zwischen dem Körper der Klägerin und der Nabelklemme fest-gestellt. Es wurden
eine zweite Nabelklemme zwischen dem Nabel und dem Einriss gesetzt und 17
ml [X.] verabreicht. Um 13.45 Uhr wurde die Klägerin in das von der [X.] zu
2 getragene Klinikum transpor-tiert, wo sie insgesamt weitere 25
ml [X.] erhielt. Die Kläge-rin leidet u.a. an einer spastischen Tetraparese und an einer fokalen Epilepsie.
Das [X.] hat die
auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststel-lung der Ersatzverpflichtung der [X.] gerichtete
Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das [X.] mit Grund-
und Teilurteil vom 18.
Dezember 2008 dem Feststellungsantrag gegen beide [X.] und den Leistungsantrag dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dieses Urteil ist hinsichtlich der [X.] zu
2 rechtskräftig. Auf
die Nichtzu-lassungsbeschwerde der [X.] zu
1 hat der erkennende Senat das Grund-
und Teilurteil mit Beschluss vom 30.
November 2010 aufgehoben, soweit zum Nachteil der [X.] zu
1 erkannt worden ist, und hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen. Mit Teilurteil vom 12.
Juli 2012 hat das [X.] die Berufung der Kläge-rin gegen das landgerichtliche Urteil in Bezug auf die Beklagte zu
1 zurückge-wiesen. Die Beklagte zu
2 ist daraufhin dem Rechtsstreit auf Seiten der [X.]
-

4

-

rin als Nebenintervenientin beigetreten. Mit der vom [X.] zuge-lassenen Revision begehrt sie die Verurteilung der [X.] zu
1.

Entscheidungsgründe:
A.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehen der Klägerin gegen die Beklagte zu
1 keine Schadensersatzansprüche zu. Es sei insbesondere nicht behandlungsfehlerhaft gewesen, die Mutter der Klägerin in dem von der [X.] zu
1 betriebenen Krankenhaus der Grundversorgung aufzunehmen und zu behandeln. Es sei nicht festzustellen, dass es im Behandlungszeitpunkt bereits einen medizinischen Standard gegeben habe, der die Verlegung von Risiko-schwangeren in ein Perinatalzentrum gefordert habe. Nach den nachvollziehba-ren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T. sei es
im Juni 1995 noch nicht medizinischer Konsens gewesen, dass eine Frau, bei der eine Hochrisikoschwangerschaft festgestellt worden sei, vor der Geburt möglichst in ein Perinatalzentrum verlegt werden müsse. Es habe seinerzeit noch keine wi[X.]pruchsfreien
Aussagen
und Empfehlungen gegeben. Aus der Präambel der kurz nach der Behandlung der Mutter der Klägerin im November 1995 veröffentlichten Leitlinien der einschlägigen geburtsmedizinischen Fach-gesellschaft, der [X.]
(nachfolgend: [X.]),
gehe klar hervor, dass die Konsensbildung noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Vielmehr sei der Diskussionsprozess in der medi-zinischen Fachwelt jedenfalls im [X.] noch so in Gang gewesen,
dass von der [X.] eine Leitlinie veröffentlicht worden sei, die es dem betroffenen [X.] in eigener Sachprüfung erlaubt habe, zu beurteilen, ob eine [X.] in ein Perinatalzentrum ausgesprochen werden müsse oder 4
-

5

-

nicht. Die Beklagte zu
1 habe auch über die nötigen personellen und apparati-ven Möglichkeiten verfügt, um die Mutter der Klägerin sachgerecht zu [X.]. Das Krankenhaus der [X.] zu
1 sei personell hinreichend besetzt gewesen, da bei der Geburt ein geburtshilflicher Facharzt, zwei Neonatologen und ein Anästhesist zugegen gewesen seien. Darüber hinaus seien alle dem
damaligen ärztlichen und organisatorischen Standard entsprechenden
Maß-nahmen ergriffen worden, die auch in einer Einrichtung der Maximalversorgung ergriffen worden wären, um den speziellen Risiken des vorliegenden Geburts-falles Rechnung zu tragen.
Soweit der Sachverständige Prof. Dr.
F. im Gegensatz zu dem Sachver-ständigen Prof. Dr. T. eine Verlegung von Hochrisiko-Schwangeren in [X.] bereits für das [X.] gefordert habe, fehle es an einer hinrei-chend nachvollziehbaren Grundlage. Der Beschluss des Vorstandes [X.]
vom Juni 1991 enthalte bloße Empfehlungen, die sich noch nicht zum Standard herausgebildet hätten. Die erstmals am 1.
September 1996 erstellte Leitlinie der [X.] "Antepartaler Transport von [X.]"
könne den medizinischen Standard für die mehr als ein Jahr zurückliegende Behandlung nicht indizieren. Soweit die Leitli-nie der [X.] "Aufga-ben des Neugeborenen-Notarztdienstes"
vom 8.
Dezember 1993 eine obligate Aufklärung der [X.] über die Notwendigkeit einer pränatalen Verlegung formuliere, stehe die Leitlinie jedenfalls im Wi[X.]pruch zu der 1995 veröffentlichten Leitlinie der [X.]. Schließlich belege der Umstand, dass die Sachverständigen
Prof. Dr.
F., Prof. Dr.
V. (Schlichtungsgutachter) und Prof. Dr.
P. ([X.]) einerseits und die Sachverständigen
Prof. Dr.
T., Prof. Dr.
W. (Schlichtungsgutachter) und Prof. Dr. J. andererseits unterschiedliche Auffassungen vertreten hätten, dass sich im Jahre 1995 noch kein entspre-chender Standard etabliert habe.
5
-

6

-

Jedenfalls gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass ein etwaiger Be-handlungsfehler als schlechterdings unverständlich und damit grob qualifiziert werden könne. Da nicht feststellbar sei, worauf die Schädigung der Klägerin letztlich zurückzuführen sei
-
ihre Schädigung könne auch allein auf ihre [X.] als solche zurückzuführen sein
-, scheide eine Haftung der [X.] zu 1 unter dem Gesichtspunkt des Übernahmeverschuldens aus.
Gleiches gelte für den Vorwurf eines fehlerhaften Umgangs mit der [X.]. Zwar habe bei der Klägerin an der Nabelschnur eine durch eine Nabelklemme verursachte Verletzung vorgelegen. Die Nabelklemme sei auch durch einen Mitarbeiter der [X.] zu
1 gesetzt worden. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass die Verletzung durch einen groben Behandlungsfehler
verursacht worden sei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Nabelklemme zunächst ordnungsgemäß gesetzt worden und erst anschließend
-
z.B. durch das Einschlagen
des
Kindes
in Tücher, seine Übergabe oder das insgesamt damit verbundene Hantieren mit ihm
-
aus ihrer Grundstellung gebracht worden oder unter Zug geraten sei. Ein solcher Ablauf sei nicht als
grob
fehlerhaft zu bewerten.
Angesichts der besonderen Verletzlichkeit der Nabelschnur eines geringgewichtigen Frühgeborenen und der Eilbedürftigkeit der Versorgung handle es sich um ein Szenario im Grenzbereich zwischen Verwirklichung [X.] Risiken und einem Behandlungsfehler.

B.
I.
Die von der [X.] zu
2 als Streithelferin der Klägerin eingelegte Re-vision ist zulässig. Dem
steht nicht entgegen, dass die
Beklagte zu
2 dem 6
7
8
-

7

-

Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin in den Vorinstanzen nicht beigetreten war und die Klägerin selbst keine Revision eingelegt hat. Denn nach §
66 Abs.
2 ZPO kann die [X.] in jeder Lage des Rechtsstreits bis zur rechts-kräftigen Entscheidung, auch in Verbindung mit der Einlegung eines Rechtsmit-tels, erfolgen. Die Beklagte zu
2 hat mit
-
innerhalb der für die Klägerin laufen-den Revisionsfrist eingegangenen
-
Schriftsätzen vom 27. und 30.
August 2012 den Beitritt auf Seiten der Klägerin erklärt und Revision eingelegt. Die Revision ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Beklagte zu
2 durch die Abweisung der gegen die Beklagte zu
1 gerichteten Klage nicht selbst beschwert ist. Das Rechtsmittel
eines Streithelfers ist nämlich stets ein Rechtsmittel für die Haupt-partei; für die Beurteilung, ob die zu erreichende Rechtsmittelsumme und die erforderliche Beschwer gegeben sind, kommt es allein auf sie an (vgl. Senatsur-teil vom 9.
März 1993 -
VI
ZR 249/92, [X.], 625, 626; [X.], Urteile
vom 15.
Juni 1989 -
VII
ZR 227/88, [X.], 932; vom 16.
Januar 1997 -
I
ZR 208/94, [X.], 1020 Rn.
19
f.).

II.
Die Revision ist aber nicht begründet.
Die Beurteilung des Berufungsge-richts, wonach der Klägerin gegen die Beklagte zu 1 keine [X.] aus §§
611, 278, 823 Abs.
1, §
831 Abs.
1 Satz 1, §
847 BGB a.F. we-gen fehlerhafter ärztlicher Behandlung zustehen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1.
Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen die Annahme
des [X.]s,
den Ärzten der [X.] zu 1 sei nicht deshalb ein [X.]sfehler vorzuwerfen, weil sie die Mutter der Klägerin in dem von der [X.] zu
1 betriebenen Krankenhaus der Grundversorgung aufgenommen und 9
10
-

8

-

behandelt haben, statt ihr die Aufnahme in einem Perinatalzentrum [X.].
a) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Übernahme der Behandlung der Mutter der Klägerin nur dann als Behandlungs-fehler qualifiziert werden kann, wenn sie dem im [X.]punkt der Behandlung be-stehenden medizinischen
Standard zuwiderlief (vgl. Senatsurteile vom 8.
Juli 2003 -
VI
ZR 304/02, [X.], 1256; vom 21.
Dezember 2010 -
VI
ZR 284/09, [X.]Z 188, 29 Rn.
9, 12). Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus
der
berufsfachlichen
Sicht seines Fachbereichs im [X.]punkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen [X.] erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat
(vgl. Senatsurteile vom 22.
September 1987 -
VI
ZR 238/86, [X.]Z 102, 17, 24 f.;
vom
29.
November 1994
-
VI
ZR 189/93, [X.], 659, 660 mwN; vom 16.
März 1999 -
VI
ZR 34/98, [X.], 716, 718; vom 16.
Mai 2000 -
VI
ZR 321/98, [X.]Z 144, 296, 305 f.;
[X.]
in Laufs/[X.]/[X.], Arztrecht, 6.
Auflage, [X.] X
Rn.
6; [X.]/[X.], [X.], Rn.
1426 ff.; [X.]/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12.
Aufl., Rn.
157 ff., 174; [X.]/[X.], Arzthaftpflichtrecht,
7.
Auflage,
B Rn.
2 ff.; [X.], FS [X.], S.
379 f., jeweils mwN).
b) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, nach dem im [X.]punkt der Behandlung im Juni 1995 bestehenden medizinischen Standard sei es geboten gewesen, der Mutter der Klägerin die Aufnahme in einem Perinatalzentrum na-hezulegen bzw. sie in ein solches Zentrum zu verlegen.
11
12
-

9

-

aa) Die Ermittlung des Standards ist
grundsätzlich Sache des Tatrichters, der sich dabei auf die medizinische Bewertung des [X.] durch einen Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet stützen muss.
Das Ergebnis dieser tatrichterlichen Würdigung kann [X.] nur auf Rechts-
und Verfahrensfehler überprüft werden, also insbe-sondere darauf, ob ein Verstoß gegen Denkgesetze und allgemeine Erfah-rungssätze vorliegt, das Gericht den Begriff des medizinischen Standards ver-kannt oder den ihm unterbreiteten
Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt hat
(vgl. Senat, Urteil vom 27.
März 2007
-
VI
ZR 55/05, [X.]Z 172, 1
Rn. 17 ff.; Beschlüsse vom 16.
Oktober 2007 -
VI
ZR 229/06,
VersR 2008, 221 Rn.
13; vom 28.
März 2008 -
VI
ZR 57/07, [X.] 2008, 361).
Derartige Rechtsfehler liegen nicht vor.
bb) Das Berufungsgericht ist nach Einholung von Gutachten der ge-burtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr.
F. und Prof. Dr.
T. und -
teils mehrfacher
-
Anhörung dieser Sachverständigen sowie der pädiatrischen Sach-verständigen
Prof. Dr.
J., Prof. Dr.
V.
(Schlichtungsgutachter)
und
Prof. Dr.
P. ([X.]) auf der Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis gekommen, es könne nicht festgestellt werden, dass es im Be-handlungszeitpunkt bereits einen medizinischen Standard gegeben habe, der die Verlegung von [X.] in ein Perinatalzentrum gefordert
habe. Es konnte
sich bei dieser Beurteilung in vollem Umfang auf die Angaben des geburtsmedizinischen Sachverständigen Prof. Dr.
T. stützen. Dieser hat
im Rahmen seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 7.
Juni 2012 ausgeführt, es habe
in der [X.] von 1989 bis 1995 einen Diskussionsprozess über die Zentralisierung von [X.] gegeben, der noch nicht zu einem festen Ergebnis geführt habe.
Es habe zwar -
vor allem von Seiten der Neona-tologen
-
vernünftige Argumente für die Zentralisierung von [X.] ge-geben, nicht hingegen eine Evidenz durch Zahlen. Die Fachwelt im hier maß-13
14
-

10

-

geblichen Fachbereich der Gynäkologen und geburtshilflichen Ärzte sei im [X.]-raum bis 1995 einschließlich
noch nicht einheitlich überzeugt gewesen. Dies werde u.a. durch die seitens der [X.] als der maßgeblichen Vertreterin für die Leitlinienbildung im November 1995 veröffentlichten "Mindestanforderungen an prozessuale, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für geburtshilf-liche Abteilungen" belegt. Darin sei eine Empfehlung, [X.] auf keinen Fall in Kliniken der Grundversorgung aufzunehmen, gerade nicht ausgesprochen worden. Ziffer
3.4.2 empfehle die Regionalisierung von [X.] vielmehr nur für solche, deren Bewältigung offenbar und vo-raussehbar die personellen und organisatorischen Möglichkeiten des [X.] übersteige.
Auch der Einleitung der "Mindestanforderungen"
-
Stand Dezember 2011
-
sei zu entnehmen, dass erst viel später das zum Standard geworden sei, was 1995 gefordert worden sei. Denn danach hätten die "[X.]"
von 1995 dazu beigetragen, das Niveau der klinischen ge-burtshilflichen Versorgung zu verbessern, und definierten den heute gebotenen Standard der Versorgung. Die
Forderungen im
Beschluss des Vorstandes der [X.] von Juni 1991 seien
als Vorstufe zu den Leitlinien zu sehen, die sich noch nicht als Standard durchgesetzt hätten, sondern zur Verbesserung des Standards für die Zukunft erhoben worden seien. Die Umsetzung dieser Forde-rungen
sei zum damaligen [X.]punkt in [X.] gar nicht möglich gewesen, weil die dafür erforderlichen Strukturen noch nicht vorhanden gewesen seien. Was die Fachgesellschaften anderer Fachbereiche gefordert hätten, könne nicht standardbildend für die hier zu entscheidende Frage sein.
[X.]) Die gegen die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts erho-benen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
(1) Die Revision
rügt ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe den [X.] von Leitlinien verkannt
und deshalb Handlungsanweisungen in Quellen 15
16
-

11

-

aus der [X.] nach der Behandlung rechtsfehlerhaft keine Bedeutung beigemes-sen.

(a) Entgegen der Auffassung der Revision fassen Leitlinien nicht nur das zusammen, was bereits zuvor medizinischer Standard war. Handlungsanwei-sungen in
Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbe-sehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in be-sonderem
Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht
worden sind. Leitlinien
ersetzen kein Sachverständi-gengutachten. Zwar können sie
im Einzelfall den medizinischen Standard
für den [X.]punkt ihres
Erlasses
zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln
oder ihrerseits veralten (vgl. zum Ganzen: Senat, Urteil vom 15.
Februar 2000 -
VI
ZR 48/99, [X.]Z 144, 1, 9; Beschlüsse
vom 28.
März 2008 -
VI
ZR 57/07, [X.] 2008, 361;
vom 7.
Fe-bruar 2011
-
VI
ZR 269/09, [X.], 1202; [X.] in Laufs/Katzen-meier/[X.], aaO Rn.
9
f.; [X.]., [X.], 327738; [X.] in [X.]/[X.]/
[X.]/[X.], [X.], [X.] 530, Rn.
5, 16 ff.
[Stand: Februar 2011]; [X.]/[X.], aaO Rn.
1483
ff.; [X.]/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12.
Aufl., Rn.
157 ff., 174; [X.]/[X.], aaO, B Rn.
2 ff.; [X.]/[X.]/[X.], Arzthaftungsrecht, 5.
Aufl., Rn.
89; [X.] in [X.]/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, §
287 ZPO Rn.
25;
[X.],
FS [X.], S.
379, 380
f.; [X.], [X.], S.
431 ff.; [X.]/Winkhart-[X.], Arzthaftungsrecht, 4.
Aufl., [X.] ff., 72, jeweils mwN).
Entsprechendes gilt für Handlungsanweisungen in klinischen Leitfäden oder Lehrbüchern. Entgegen der Auffassung der Revision geben auch sie nicht stets einen bereits zuvor bestehenden medizinischen Standard wieder.
17
18
-

12

-

(b) Vor diesem Hintergrund
ist es revisionsrechtlich nicht zu [X.], dass das Berufungsgericht weder die am 1. September 1996 erstellte [X.] der
[X.] "Ante-partaler Transport von [X.]"
noch die vom Sachverständigen Prof. Dr.
F. vorgelegten Lehrbuchauszüge
aus dem Jahr 1997 als geeignet an-gesehen hat, um dessen Angaben zum Bestehen eines entsprechenden Stan-dards bereits im Juni 1995 maßgeblich zu stützen.
(2) Ohne Erfolg rügt die Revision als willkürlich, dass das Berufungsge-richt den Angaben des Sachverständigen Professor [X.] nicht im Hinblick auf die Leitlinie der [X.] "Aufgaben des Neugeborenen-Notarztdienstes"
vom 8.
Dezember 1993 den Vorzug gegenüber den Angaben des Prof. Dr.
T gegeben hat. Zwar bestimmt Ziffer 3 dieser Leitlinie, dass Schwangere mit hohen Risiken über die Möglich-keit und Notwendigkeit einer präpartalen Verlegung aufzuklären
sind; dabei sind als Beispiel für
eine Hochrisikoschwangerschaft insbesondere Wehen vor der 33. Woche aufgeführt. Die Frage, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation im [X.]punkt der Behandlung erwartet werden kann, bestimmt sich indes
aus der berufsfachli-chen Sicht seines Fachgebiets und nicht derjenigen anderer Fachbereiche
(vgl. Senatsurteile vom 22.
September 1987 -
VI
ZR 238/86, [X.]Z 102, 17, 24
f.; vom 29.
November 1994 -
VI
ZR 189/93, [X.], 659, 660 mwN; vom 16.
März 1999 -
VI
ZR 34/98, [X.], 716, 718; vom 16.
Mai 2000 -
VI
ZR 321/98, [X.]Z 144, 296, 305 f.). Die Ärzte der [X.] zu 1 waren nicht
als Neonatologen, sondern im Fachbereich Gynäkologie
und
Geburtshilfe tätig. Die in diesem Fachgebiet zuständige Fachgesellschaft, die [X.],
hatte aber im November 1995 und damit kurz nach der Geburt der Klägerin mit der
Leitlinie "Mindestanforderungen an pro-zessuale, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für geburtshilfliche 19
20
-

13

-

Abteilungen"
Handlungsanweisungen
herausgegeben, die inhaltlich hinter den Forderungen
der Leitlinie "Aufgaben des Neugeborenen-Notarztdienstes"
zu-rückblieben
und die
dem betroffenen Krankenhaus die Beurteilung überließen, ob eine Verlegung der Schwangeren in ein Perinatalzentrum erfolgen musste. Gemäß Ziffer 3.4.2 war die geburtshilfliche Abteilung zur Regionalisierung nur solcher Hochrisikofälle verpflichtet, deren Bewältigung offenbar und vorausseh-bar die personellen und organisatorischen Möglichkeiten des Krankenhauses überstieg. Unter anderem aus dieser Leitlinie 1995 sowie
aus der Einleitung ihrer Neufassung, Stand 2011, hat der Sachverständige Professor Dr.
T. abge-leitet, dass im [X.]punkt der Behandlung im Juni 1995 im maßgeblichen [X.] der Gynäkologie und Geburtshilfe noch nicht der erforderliche
Konsens
bestanden habe, dass Hochrisiko-Schwangeren
vor der Geburt die Aufnahme in einem Perinatalzentrum nahezulegen war bzw.
sie in ein solches Zentrum zu verlegen waren. Dabei hat der Sachverständige ausdrücklich auch den Be-schluss des Vorstands der [X.] von Juni 1991 in seine Erwägungen mitein-bezogen, in dem empfohlen wird, innerhalb der drei Ebenen der Krankenhaus-versorgung -
Grundversorgung, [X.] und Krankenhaus in der Maximalversorgung
-
stärker als bisher eine graduelle und dem Bedarf an-gepasste Verschiebung von [X.] in die nächst höhere
Versorgungsstufe vorzunehmen und entsprechend den Mutterschaftsrichtlinien auch in Verdachts-fällen ein Perinatalzentrum zu konsultieren. Er hat den Beschluss als fordernde Vorstufe zu den Leitlinien mit Empfehlungscharakter qualifiziert; die darin
aus-gesprochenen Empfehlungen hätten sich noch nicht als Standard durchgesetzt, sondern der Verbesserung des Standards für die Zukunft gedient.
Bei dieser Sachlage ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich das [X.] von der Existenz eines entsprechenden medizinischen Standards im [X.] nicht überzeugt hat. Soweit die Revision geltend macht, es habe von Seiten der Fachgesellschaften und Mediziner bei Vorliegen einer Risiko--

14

-

schwangerschaft schon 1995 offensichtlich kein Zweifel an dem Erfordernis der Aufnahme in einem Krankenhaus der Maximalversorgung bzw. in einem Perina-talzentrum bestanden, versucht sie lediglich in unzulässiger Weise, die tatrich-terliche Würdigung durch ihre eigene zu ersetzen.
(3)
Die Revision wendet sich auch ohne Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Mutter der Klägerin habe nicht deshalb in ein Perinatal-zentrum verlegt werden müssen, weil die Beklagte zu 1 nicht über die personel-len und apparativen Möglichkeiten zur Betreuung von [X.]
verfügt habe. Ihre Rüge, die personellen Voraussetzungen seien nicht gegeben gewe-sen, weil die Neonatologen nicht "bereitgestanden", sondern erst hätten herbei-gerufen werden müssen, ist nicht begründet. Entscheidend ist, dass die Mög-lichkeit bestand, das [X.] rechtzeitig durch das Hinzuziehen von Neonatologen zu verstärken. Dies war der Fall.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts waren bei der Geburt der Klägerin zwei Neonatologen zugegen.
Soweit die Revision geltend macht, in einer Einrichtung der [X.] sei von einer anderen Arbeits-
und Vorgehensweise als in einem [X.] der Grundversorgung auszugehen, übersieht sie, dass der Sachver-ständige Prof. Dr. T. in seinem schriftlichen Gutachten die bei
der Mutter der Klägerin ergriffenen Behandlungsmaßnahmen im Einzelnen untersucht, mit der hypothetischen Behandlung in einer Einrichtung der Maximalversorgung vergli-chen hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass alle dem damaligen ärztli-chen und organisatorischen Standard entsprechenden Maßnahmen ergriffen worden sind, die auch in einer Einrichtung der Maximalversorgung durchgeführt
worden wären, um den speziellen Risiken des vorliegenden Geburtsfalles Rechnung zu tragen. Insoweit erhebt die Revision keine
Beanstandungen.
21
22
-

15

-

Auch der Umstand, dass im Krankenhaus der [X.] zu 1 ein Blut-druckmessgerät für die nichtinvasive Blutdruckmessung bei Säuglingen
nicht zur Verfügung stand, stellt die tatrichterliche Würdigung nicht in Frage.
Sie wird von den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T. im Rahmen seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 7.
Juni 2012 getragen, wonach im Streitfall in Bezug auf die technische Ausstattung und die räumliche Situation keine wesentlich andere Situation
bestanden habe, als wenn die Mutter der Klägerin in der von der [X.] zu
2 betriebenen Geburtsklinik der Maximal-versorgung aufgenommen worden wäre. Dass eine präpartale Verlegung der Mutter der Klägerin in ein Perinatalzentrum nur wegen des [X.] eines Blutdruckmessgeräts für die nichtinvasive Blutdruckmessung medi-zinisch nicht geboten war, wird auch durch die -
von der Revision herangezo-genen
und der (rechtskräftigen) Verurteilung der [X.] zu 2 zugrunde lie-genden
-
Angaben des pädiatrischen
Sachverständigen Prof. Dr.
B.
bestätigt. Dieser gab nämlich nicht nur an, dass ein entsprechendes Blutdruckmessgerät nicht zur Verfügung stand. Vielmehr führte er auch aus, dass die Höhe des Blutverlustes der Klägerin durch andere Maßnahmen im Krankenhaus
der [X.] zu 1 hätte festgestellt werden können. Insbesondere habe die [X.] durch einen zentralen Zugang bestimmt oder der Blutdruck durch Dekonnektion des Nabelvenenkatheters geschätzt werden können. [X.] hinaus habe der [X.] auch durch eine Femoralispulsmessung und die Beobachtung der Kapillarfüllungszeit festgestellt werden können. Ge-stützt auf diese Beurteilung hat das Berufungsgericht das Unterlassen
dieser Maßnahmen durch die hinzugezogenen Neonatologen als
-
teilweise grob
-
be-handlungsfehlerhaft angesehen
und
die Haftung der [X.]
zu 2 bejaht.

(4) Die Tatsache, dass in den dem
Senatsurteil vom 14.
Dezember 1993 (VI
ZR 67/93, [X.], 480) und dem Urteil des [X.]s
Zwei-brücken vom 16.
Mai 1994
(7
U 211/91) zugrunde liegenden Fällen die Nicht-23
24
-

16

-

verlegung einer [X.] in ein Perinatalzentrum von den Sachver-ständigen als behandlungsfehlerhaft angesehen worden ist, musste das [X.] nicht
zu einer anderen Beurteilung
veranlassen.
Denn diesen [X.] lagen jeweils an[X.] gelagerte Sachverhalte zugrunde. Insbesondere waren -
an[X.] als im Streitfall
-
bei der Geburt
jeweils keine Neonatologen zugegen.
(5) Die weiteren Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß §
564 Satz
1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision rügt
auch ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe die Verletzung der Nabelschnur der Klägerin, -
soweit sie darauf zurückgeführt werden könne, dass die ordnungsgemäß gesetzte Nabelklemme durch die [X.] der [X.] zu 1 nachträglich aus ihrer Grundstellung gebracht worden sei,
-
zu Unrecht als nicht grob fehlerhaft bewertet. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht nicht verkannt, dass die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht grob einzustufen ist, eine juristische Wertung ist, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt
(vgl. Senatsurteil vom 25.
Oktober 2011 -
VI
ZR 139/10, [X.], 362 Rn.
9 mwN). Es hat den Ausführungen des Sachverständigen lediglich nicht die erfor-derliche tatsächliche Grundlage entnommen, um das [X.] als grob fehlerhaft zu qualifizieren. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu [X.]. Nachdem das Berufungsgericht den Sachverständigen Prof. Dr.
T. zur Schwere des Behandlungsfehlers in der mündlichen Verhandlung vom 7.
Juni 2012 ausführlich angehört und dieser das nach dem Setzen der Nabelklemme liegende [X.] im Grenzbereich zwischen Verwirklichung behandlungsspezifischer Risiken und einem Behandlungsfehler angesiedelt hatte, bestand
entgegen der Auffassung der Revision auch kein Anlass, den Sachverständigen nochmals zu befragen.
25
26
-

17

-

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
97 Abs.
1, § 101 Abs.
1 ZPO.
Galke
[X.]
[X.]

Pauge
von Pentz

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 11.12.2003 -
4 O 371/02 -

O[X.], Entscheidung vom 12.07.2012 -
1 U 1/04 -

27

Meta

VI ZR 382/12

15.04.2014

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.04.2014, Az. VI ZR 382/12 (REWIS RS 2014, 6289)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 6289

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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