Bundespatentgericht, Beschluss vom 09.01.2012, Az. 20 W (pat) 313/06

20. Senat | REWIS RS 2012, 10346

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Gegenstand

Einspruchsverfahren – unzulässige Erweiterung –


Tenor

In der Einspruchssache

betreffend das Patent 100 46 556

hat der 20. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des [X.] auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2012 durch den Vorsitzenden [X.]. Dr. [X.], die Richterin [X.] sowie [X.] und [X.]. Dr. Wollny

beschlossen:

Das Patent 100 46 556 wird widerrufen.

Gründe

I.

1

Für die am 19. September 2000 beim [X.] eingegangene Anmeldung wurde die Erteilung des nachgesuchten Patents am 6. Oktober 2005 veröffentlicht. Das Patent betrifft ein

2

"Verfahren zur Erfassung von Bedarfsträger-spezifischen Übertragungskosten bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen in paketorientierten [X.]en".

3

Gegen das Patent hat die [X.], [X.]ufer in [X.], am 6. Januar 2006 (eingegangen am selben Tage) Einspruch erhoben mit der Begründung, der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 sei unzureichend offenbart, unzulässig erweitert und gegenüber einem im Einzelnen genannten Stand der Technik nicht neu, zumindest nicht erfinderisch.

4

Die Einsprechende stützt ihren Einspruch auf die Druckschriften

5

E1 EP 1 026 853 A1

6

E2 WO 99/17499 A2

7

E3 European Telecommunications Standards Institute ([X.]) [Hrsg.]: Digital cellular telecommunications system (Phase 2+); Lawful Interception - stage 2 ([X.] 03.33 version 0.6.1), Juli 1998 ([X.] 98D047), Seite 1-40

8

E4 European Telecommunications Standards Institute ([X.]) [Hrsg.]: [X.] ([X.]); 3G Security; Lawful Interception Architecture and Functions (3G TS 33.107 version 3.0.0 Release 1999) (Technische Spezifikation [X.] TS 133 107 [X.] (2000-01)), S. 1-55.

9

E5 WO 00/24161 A1

E6 EP 1 014 619 A1,

E4 neuheitsschädlich vorweggenommen sei.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Einsprechenden wird auf den Inhalt der Akten verwiesen.

Mit Schriftsatz vom 1. März 2010 hat die Einsprechende ihren Einspruch zurückgenommen.

[X.] ist dem Einspruch entgegengetreten, hält die Patentansprüche im erteilten Umfang für patentfähig und beantragt,

das Patent im erteilten Umfang aufrecht zu erhalten,

hilfsweise beschränkt mit folgenden Unterlagen,

Patentansprüche 1 bis 8 gemäß Hilfsantrag, überreicht in der mündlichen Verhandlung,

übrige Unterlagen gemäß Patentschrift.

Der erteilte Patentanspruch 1 des Streitpatents lautet:

"Verfahren zur Erfassung von Bedarfsträger-spezifischen Übertragungskosten bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen in paketorientierten [X.]en, wobei im [X.] überwachungsseitig eine [X.] oder ein Datenbankfeld in Form eines [X.]s angeordnet ist, das von einer Administrationseinrichtung ([X.]) über eine Schnittstelle ([X.], [X.]) situationsspezifisch definiert, geändert oder gelöscht werden kann und innerhalb dessen die gebührenrelevanten Informationen, in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Übertragung und dem Übertragungsvolumen jeder Übertragung oder den Zeitpunkten von Start und Ende der Übertragung, seitens der übertragenden Einrichtung automatisch erfasst und den entsprechenden Bedarfsträgern ([X.]) zugeordneten Zieleintragungen sowie den entsprechenden administrierten Überwachungsmaßnahmen von zu überwachenden Telekommunikationskunden zugeordnet werden, wobei das [X.] in Einzelteilen oder wahlweise komplett von der  administrativen Einrichtung gelesen oder alternativ dorthin übertragen werden kann."

Hieran schließen sich [X.] 2 bis 8, zu deren Wortlaut auf die Patentschrift verwiesen wird.

Patentanspruch 1 gemäß dem Hilfsantrag lautet:

"Verfahren zur Erfassung von Bedarfsträger-spezifischen Übertragungskosten bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen in paketorientierten [X.]en, wobei im [X.] übertragungsseitig eine [X.] oder ein Datenbankfeld in Form eines [X.]s angeordnet ist, das von einer Administrationseinrichtung ([X.]) über eine Schnittstelle ([X.], [X.]) situationsspezifisch definiert, geändert oder gelöscht werden kann und innerhalb dessen die gebührenrelevanten Informationen, in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Übertragung und dem Übertragungsvolumen jeder Übertragung oder den Zeitpunkten von Start und Ende der Übertragung, seitens der übertragenden Einrichtung automatisch erfasst und den entsprechenden Bedarfsträgern ([X.]) zugeordneten Zieleintragungen sowie den entsprechenden administrierten Überwachungsmaßnahmen von zu überwachenden Telekommunikationskunden zugeordnet werden, wobei das [X.] in Einzelteilen oder wahlweise komplett von der  administrativen Einrichtung gelesen oder alternativ dorthin übertragen werden kann."

Hieran schließen sich gegenüber der erteilten Fassung unveränderte Patentansprüche 2 bis 8 an.

Dem Streitpatent liegt die Aufgabe zugrunde, ein Verfahren anzugeben, auf dessen Basis die Erfassung von Übertragungskosten zu den sog. Bedarfsträgern bei richterlich angeordneten Überwachungsmaßnahmen in paketorientierten [X.]en möglich ist (Absatz [0009] der Patentschrift des Streitpatents).

Die Pateninhaberin vertritt die Auffassung, dass das Verfahren des Patentanspruchs 1 ausreichend offenbart, nicht unzulässig erweitert sowie neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

Wegen weiterer Einzelheiten hierzu wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

1. Nach Rücknahme des Einspruchs war das Verfahren von Amts wegen ohne die Einsprechende vor dem gemäß § 147 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] a. F. zur Entscheidung über den Einspruch zuständigen Beschwerdesenat des [X.] fortzusetzen (§ 61 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 147 Abs. 3 Satz 2 [X.] a. F.).

2. Der Einspruch ist zulässig. Er wurde form- und fristgerecht erhoben. In dem Einspruch sind auch die Tatsachen, die ihn nach Auffassung der Einsprechenden rechtfertigen, im Einzelnen angegeben.

3. Das Einspruchsverfahren führt zum Widerruf des angegriffenen Patents gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 4 [X.] im Hinblick auf den Hauptantrag; Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag ist nicht zulässig gemäß § 22 Abs. 1 2. Alternative [X.].

Als für die Beurteilung der Lehre des Streitpatents und des Standes der Technik zuständigen Fachmann sieht der Senat einen Nachrichtentechniker mit Fachhochschulausbildung sowie speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet der Gebührenerhebung in einem digitalen [X.] an.

4. Hauptantrag:

a) Im Einzelnen wird das Verfahren gemäß Anspruch 1 Streitpatent durch folgende Merkmale beschrieben (ohne Bezugszeichen, mit Merkmalsgliederung; fett der Begriff, der im Rahmen der unzulässigen Erweiterung Relevanz besitzt):

M1 Verfahren zur Erfassung von Bedarfsträger-spezifischen Übertragungskosten bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen in paketorientierten [X.]en,

M2 wobei im [X.] überwachungsseitig eine [X.] oder ein Datenbankfeld in Form eines [X.]s angeordnet ist,

M3 das von einer Administrationseinrichtung über eine Schnittstelle situationsspezifisch definiert, geändert oder gelöscht werden kann

M4 und innerhalb dessen die gebührenrelevanten Informationen,

M5 in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Übertragung und dem Übertragungsvolumen jeder Übertragung oder den Zeitpunkten von Start und Ende der Übertragung,

M6 seitens der übertragenden Einrichtung automatisch erfasst

M7 und den entsprechenden Bedarfsträgern zugeordneten Zieleintragungen sowie den entsprechenden administrierten Überwachungsmaßnahmen von zu überwachenden Telekommunikationskunden zugeordnet werden,

M8 wobei das [X.] in Einzelteilen oder wahlweise komplett von der administrativen Einrichtung gelesen oder alternativ dorthin übertragen werden kann.

b) Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 geht über den Inhalt der Anmeldung in der Fassung hinaus, in der sie bei der für die Einreichung der Anmeldung zuständigen Behörde ursprünglich eingereicht worden ist (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 [X.]).

M2, dass die [X.] oder ein Datenbankfeld in Form eines [X.]s im [X.] überwachungsseitig angeordnet ist, nicht ursprünglich offenbart. Die ursprünglichen Unterlagen enthalten demgegenüber die Angabe, dass die [X.] oder ein Datenbankfeld in Form eines [X.]s im [X.] übertragungsseitig angeordnet ist.

Die beiden Angaben "überwachungsseitig" und "übertragungsseitig" unterscheiden sich zur Überzeugung des Senats inhaltlich voneinander. Die Änderung kann deshalb - entgegen einer von der Patentinhaberin im Rahmen des Prüfungsverfahrens vorgetragenen Auffassung - nicht als bloße Schreibfehlerkorrektur qualifiziert werden.

überwachungsseitigen Anordnung einer [X.] oder eines Datenbankfelds in Form eines [X.]s im [X.] nicht lediglich um eine Beschränkung im Sinn einer Konkretisierung des ursprünglich offenbarten Merkmals einer übertragungsseitigen Anordnung der jeweiligen Komponenten im [X.], mit der Folge, dass das nicht ursprünglich offenbarte Merkmal im erteilten Patentanspruch verbleiben könnte, ohne dass das Patent widerrufen werden müsste (vgl. [X.], Beschluss vom 21. Oktober 2010 - [X.], [X.], 40 Rn. 16-18 – Winkelmesseinrichtung). Vielmehr wird in der geänderten erteilten Fassung etwas geschützt, was in diesem Umfang nicht ursprünglich offenbart ist, was also gegenüber dem der Fachwelt durch die ursprünglichen Unterlagen [X.] ein "[X.]" darstellt (vgl. [X.] a. a. O. Rn. 21 – Winkelmesseinrichtung).

Zum [X.] einer Patentanmeldung gehört nur das, was den ursprünglich eingereichten Unterlagen "unmittelbar und eindeutig" zu entnehmen ist, nicht hingegen eine weitergehende Erkenntnis, zu der der Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens oder durch Abwandlung der offenbarten Lehre gelangen kann (vgl. [X.], Urteil vom 8. Juli 2010 - [X.], [X.], 910 - Fälschungssicheres Dokument).

Mit dem in den ursprünglichen Unterlagen verwendeten Begriff "übertragungsseitig" ist für den Fachmann offenbart, dass – wie der Figur 1 der Patentschrift zu entnehmen ist – alle Elemente mit Ausnahme der Bedarfsträger ("[X.]") dieser "Seite" zuzurechnen sind, da nur diese Bausteine mit dem Prozess des aktiven Übertragens der für den [X.] relevanten Daten befasst sind.

Demgegenüber versteht der Fachmann den im erteilten Anspruch 1 enthaltenen Begriff "überwachungsseitig" dahingehend, dass allein die Bedarfsträger die "Überwachungsseite" darstellen. Die im erteilten Anspruch enthaltene Angabe "überwachungsseitig" konkretisiert damit nicht den ursprünglich offenbarten Begriff "übertragungsseitig", sondern bezeichnet einen anderen, in den ursprünglichen Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbarten technischen Aspekt ("[X.]"; vgl. [X.] a. a. O. Rn. 22; [X.] Urteil vom 21. Juni 2011 - [X.], [X.], 1003 Rn. 29 - Integrationselement).

c) Mit dem unzulässig erweiterten Patentanspruch 1 kann das Patent folglich keinen Bestand haben. Das angegriffene Patent war insgesamt zu widerrufen, da die jeweils auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 8 ebenfalls mit dem [X.] der unzulässigen Erweiterung behaftet sind. Im Übrigen hat die Pateninhaberin insoweit eine beschränkte Aufrechterhaltung nicht beantragt.

5. Hilfsantrag:

a) Der Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag ist weitgehend wortgleich zum erteilten Anspruch 1. Er unterscheidet sich von diesem lediglich durch die Ersetzung des Wortes "überwachungsseitig" im Rahmen des Merkmals M2 durch das ursprünglich offenbarte Wort "übertragungsseitig" (vgl. ursprüngliche Unterlagen, Anspruch 1).

b) Der Senat erachtet diese Ersetzung als nicht zulässig, da die Konsequenz der patentrechtliche Schutz eines Gegenstandes wäre, der vom Schutzbereich des erteilten Patents nicht umfasst war und diesen erweitert (§ 22 Abs. 1 2. Alternative [X.]).

Die Ersetzung betrifft einen technischen Aspekt, der zwar den ursprünglich eingereichten Unterlagen in seiner konkreten Ausgestaltung zu entnehmen ist, der aber keinen Eingang in die patentierte Lehre gefunden hat. Wie oben zum Patentanspruch 1 nach Hauptantrag dargelegt, versteht der Fachmann die Begriffe "übertragungsseitig" und "überwachungsseitig" nach dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen sowie dem Inhalt des erteilten Patents nicht als Synonyme, sondern als Bezeichnung für unterschiedliche technische Aspekte. Die Ersetzung der im erteilten Patentanspruch 1 enthaltenen, in den ursprünglichen Unterlagen nicht als erfindungswesentlich offenbarten Angabe "überwachungsseitig" durch die ursprünglich offenbarte Angabe "übertragungsseitig" stellt daher im Verhältnis zum erteilten Anspruch 1 ein "[X.]" unter Schutz (vgl. [X.] a. a. O. Rn. 22 - Winkelmesseinrichtung) und erweitert folglich den Schutzbereich des erteilten Patents in unzulässiger Weise.

c) Das angegriffene Patent kann daher auch mit dem Patentanspruch 1 nach Hilfsantrag keinen Bestand haben. Eine beschränkte Aufrechterhaltung bezüglich der jeweils auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Unteransprüche 2 bis 8 gemäß Hilfsantrag kam nicht in Betracht, da dies ebenfalls eine unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs des erteilten Patents die Folge hätte. Eine entsprechende Beschränkung hat die Patentinhaberin im Übrigen nicht beantragt.

6. Unter diesen Umständen bedarf die Frage, ob weitere Widerrufsgründe vorliegen, keiner Entscheidung.

Meta

20 W (pat) 313/06

09.01.2012

Bundespatentgericht 20. Senat

Beschluss

Sachgebiet: W (pat)

Zitier­vorschlag: Bundespatentgericht, Beschluss vom 09.01.2012, Az. 20 W (pat) 313/06 (REWIS RS 2012, 10346)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10346

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