Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 07.06.2011, Az. VI ZR 87/10

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 6008

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BUNDES[X.]ERI[X.]HTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
VI [X.]/10
Verkündet am:

7. Juni 2011

Holmes,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin

der [X.]eschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
B[X.]HZ:
nein
B[X.]HR:
ja
B[X.]B § 823 Abs. 1 Aa, [X.]; ZPO § 286 B, [X.]
Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler kommt eine Beweislastumkehr für die Frage des [X.] mit dem tatsächlich eingetretenen [X.]esundheitsschaden auch dann in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Ab-klärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fun-damental oder
die [X.] auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde, und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen [X.]e-sundheitsschaden herbeizuführen.

Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu [X.]unsten des Patienten,
dass die Verkennung des Befundes und
das Unterlassen der gebo-tenen Therapie völlig unverständlich sind (Senatsurteil vom 29.
September 2009 -
VI
ZR 251/08, [X.], 115 zum groben Befunderhebungsfehler).

B[X.]H, Urteil vom 7. Juni 2011 -
VI [X.]/10 -
OL[X.] Hamm

L[X.] Paderborn

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Der VI.
Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom

7. Juni 2011 durch den Vorsitzenden [X.],
die [X.] Zoll und [X.], die [X.]in [X.] und den [X.] Stöhr
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 26.
Zivilsenats des [X.] vom 5.
März 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur
neuen
Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:
Die Klägerin begehrt materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld für von ihr behauptete Folgen einer ärztlichen Behandlung in einem
Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, dessen Träger der Beklagte ist.
Die am 3.
November 1965 geborene Klägerin wurde am 31.
Oktober 1998 in tief somnolentem
Zustand durch den Notarzt in das [X.] ein-gewiesen. Nach Durchführung einer
[X.]omputertomografie
und einer Liquordiag-nostik wurde sie mit der Diagnose eines
psychogenen bzw. depressiven [X.] am 2.
November 1998 in die Einrichtung des Beklagten verlegt. Aufgrund 1
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der Unterbringungsverfügung des Ordnungsamtes
wegen Eigengefährdung, bestätigt durch gerichtlichen Beschluss,
befand sich die Klägerin bis 11.
Dezember 1998 -
zuletzt freiwillig
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dort in stationärer Behandlung. In der Folgezeit durchlief sie stationäre Behandlungen in verschiedenen anderen Ein-richtungen. Bei
einer Untersuchung im März 1999 wurde festgestellt, dass die Klägerin am 31.
Oktober 1998 einen embolischen Thalamusinfarkt erlitten [X.]. Sie leidet unter bleibenden Sprachbeeinträchtigungen und Schluckstörun-gen, die sie auf die unzureichende ärztliche Behandlung in der Einrichtung des Beklagten zurückführt. Die Einlieferungsdiagnose sei trotz dagegen
sprechen-der Symptome von den verantwortlichen Ärzten
nicht überprüft worden.
Eine mögliche
frühzeitigere
Behandlung des Thalamusinfarkts sei deshalb unterblie-ben. Dadurch habe sie irreparable Schäden erlitten.
Auch sei
sie ohne [X.]rund in
der psychiatrischen Einrichtung untergebracht gewesen.
Das [X.] hat sachverständig beraten einen groben [X.] bejaht und der Klage teilweise stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil abgeändert und die Klage abge-wiesen. Die Anschlussberufung der Klägerin, mit der diese Haushaltsführungs-
und Erwerbsschäden geltend gemacht hat, hat das Berufungsgericht [X.]. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das
im Berufungsverfahren erweiterte Klagebegehren in vollem Um-fang weiter.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt:

Im Hinblick auf das im
Streitfall anzuwendende alte Recht komme die Zahlung von
Schmerzensgeld nur
auf
der [X.]rundlage
eines
deliktischen
An-spruchs
in Betracht. Ein solcher sei aber zu verneinen, weil nicht erwiesen sei, dass die Sprach-
und Schluckbeeinträchtigungen der Klägerin durch eine früher einsetzende Therapie bei rechtzeitiger Feststellung des [X.] verhindert worden wären. Ein schuldhafter Diagnosefehler könne
den in der Einrichtung des Beklagten tätigen Ärzten nicht vorgeworfen
werden. Der Beklagte hafte auch nicht wegen eines
Befunderhebungsfehlers. Soweit die behandelnden Ärzte es unterlassen hätten, die Einlieferungsdiagnose eines psychogenen Stupors
kritisch zu hinterfragen und eine neurologische Ursache in Betracht zu ziehen, könne nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass eine frühere Therapie zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Der [X.] als solcher sei nicht als grober Fehler zu bewerten.
Eine Beweiser-leichterung greife für die Klägerin deshalb nicht ein.
Die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen
für die weitere Ursächlichkeit der unterlassenen Befun-derhebung
seien nicht
gegeben. Soweit der Sachverständige Prof. [X.] die Auf-fassung vertreten habe, dass bei Durchführung einer MRT-Untersuchung der Schlaganfall im Zeitraum kurz nach dem 6.
November 1998 mit hinreichender Sicherheit festgestellt worden wäre, hätten beide Sachverständige die [X.] vertreten, dass das Fehlen der sich daran
anschließenden Sprachtherapie jedenfalls nicht völlig unverständlich sei, weil man
nämlich
gar nicht mit hinrei-chender Sicherheit sagen könne, dass eine frühzeitige Therapie der Klägerin 4
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wirklich geholfen hätte. Soweit es um die fehlende Schlucktherapie gehe, habe der Sachverständige Prof. [X.] einen schweren Fehler lediglich vor dem Hinter-grund angenommen, dass damit die [X.]efahr des [X.] -
insbesondere bei älteren hilfsbedürftigen oder bettlägerigen Patienten
-
mit der [X.]efahr einer Lungenentzündung gebannt werden solle. Diese [X.]efahr habe sich hier nicht realisiert.
Beeinträchtigungen der Klägerin durch die [X.] als solche
seien
nicht feststellbar.
Die Mobilisationstherapien im Rahmen der psychiatrischen Behandlung seien mit denen im Rahmen einer neurologischen vergleichbar.

II.
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Die Revision bemängelt mit Recht, dass das Berufungsgericht die rechtlichen [X.]rundsätze für
eine mögliche Beweislastumkehr
für den
Kausalitätszusam-menhang
zu [X.]unsten der
Klägerin verkannt hat.
1.
Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler -
wie er vom Berufungs-gericht bejaht worden ist
-
kommt eine
Beweislastumkehr
auch
dann in [X.], wenn sich bei der gebotenen
Abklärung der Symptome mit hinreichen-der Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hät-te, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder
die [X.] auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen [X.]esundheitsschaden herbeizuführen
(vgl. Se-natsurteile vom 13.
Februar 1996 -
VI
ZR 402/94, B[X.]HZ 132, 47, 51
f.; vom 27.
April 2004 -
VI
ZR 34/03, B[X.]HZ 159, 48, 56; vom 6.
Oktober 1998 -
VI
ZR 239/97, [X.], 60, 61;
vom 3.
November 1998 -
VI
ZR 253/97, [X.], 231, 232
und vom 23.
März 2004 -
VI
ZR 428/02, [X.], 790, 792).
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Es
ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache des Schadens ist. Eine Umkehr der Beweislast ist nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende [X.] äußerst un-wahrscheinlich ist
(vgl. Senatsurteile vom 27.
April 2004 -
VI
ZR 34/03, aaO; vom 27.
Juni 2000 -
VI
ZR 201/99, VersR
2000, 1282, 1283
und vom 5.
April 2005 -
VI
ZR 216/03, [X.], 942 Rn.
14 mwN). In einem derartigen Fall führt bereits das -
nicht grob fehlerhafte
-
Unterlassen der gebotenen Befun-derhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungs-schwierigkeiten hinsichtlich des [X.]. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder ver-schoben wird (vgl. Senatsurteile vom 21.
September 1982 -
VI
ZR 302/80, B[X.]HZ 85, 212, 216; vom 3.
Februar 1987 -
VI
ZR 56/86, B[X.]HZ 99, 391, 395 und
vom 13.
Februar 1996 -
VI
ZR 402/94, B[X.]HZ 132, 47;
[X.]roß
in
Festschrift für [X.]eiß, 2000, S.
429,
435).
Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu [X.]unsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und
das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind
(vgl. zur Beweislastumkehr beim
groben Befunderhebungsfehler, Senatsurteil vom 29.
September 2009 -
VI
ZR 251/08, [X.], 115 Rn.
8). Auch muss der Patient nicht den Nachweis dafür erbringen, dass eine
frühzeitigere
Therapie das Schadensbild positiv ver-ändert hätte.
Für die Begründung einer Haftung aus schweren Behandlungsfeh-lern reicht es grundsätzlich aus, dass der grobe Verstoß des Arztes
generell
geeignet ist, den konkreten [X.]esundheitsschaden hervorzurufen (vgl. [X.] vom 27.
April 2004 -
VI
ZR 34/03, aaO, S. 54
f.). Der Wegfall der [X.] zu [X.]unsten des Patienten käme unter Umständen nur dann in [X.], wenn ein ursächlicher Zusammenhang völlig unwahrscheinlich ist, was 8
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freilich zur Beweislast des Arztes steht (vgl. Senatsurteil vom 28.
Juni 1988 -
VI
ZR 217/87, [X.], 80, 81).
2. Feststellungen dazu, ob bei Durchführung einer MRT-Untersuchung im Zeitraum kurz nach dem 6.
November 1998 der Schlaganfall bei der Kläge-rin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkannt werden musste und sich die Verkennung eines solchen Befundes oder die [X.] auf ihn als grob fehlerhaft dargestellt
hätte, hat das Berufungsgericht bislang aufgrund der [X.] Beurteilung der Voraussetzungen der Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler nicht in zureichender Weise getroffen. Die medizinischen Sachverständigen sind nicht dazu gehört worden, wie das
Nichterkennen des Schlaganfalls bei Durchführung der gebotenen Untersu-chungen bei der Klägerin bzw. im Falle des Erkennens des Schlaganfalls das Unterlassen der gebotenen Therapie medizinisch zu bewerten sei.
Darauf weist die Revision mit Recht hin. Auch wenn die Beurteilung eines Behandlungsge-schehens als grob fehlerhaft eine juristische ist, die dem Tatrichter obliegt, muss diese doch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des [X.] durch den Sachverständigen stützen können; es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende Darlegungen oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen das [X.] nur aufgrund
eigener Wertung zu beurteilen
(vgl. etwa Senatsurteile vom 28.
Mai 2002 -
VI
ZR 42/01, [X.], 1026, 1027; vom 3.
Juli 2001 -
VI
ZR 418/99,
VersR 2001, 1116, 1117
und
vom 19.
Juni 2001 -
VI
ZR 286/00,
VersR 2001, 1115, 1116 jeweils mwN).
3. Das angefochtene Urteil kann danach nicht aufrechterhalten werden. Es
ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit über die Frage der Beweislastumkehr
auf der [X.]rundlage der nachzuho-9
10
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lenden erforderlichen Feststellungen erneut entschieden werden kann.
Käme nach der gebotenen Aufklärung des Sachverhalts der Klägerin aufgrund eines grob fehlerhaften [X.] die Beweislastumkehr zugute, hätte der Beklagte darzulegen und zu beweisen, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden nicht auf der unterbliebenen Behandlung in seiner Einrichtung beruhten.
Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Umkehr der Beweis-last wegen eines groben Behandlungsfehlers grundsätzlich nur den Beweis von dessen Ursächlichkeit für den haftungsbegründenden Primärschaden
umfasst, nicht hingegen die haftungsausfüllende Kausalität (vgl. Senatsurteile vom 21.
Oktober 1969 -
VI
ZR 82/68, [X.], 1148, 1149; vom 9.
Mai 1978 -
VI
ZR 81/77, [X.], 764, 765; vom 16.
November 2004 -
VI
ZR 328/03, [X.], 228 Rn.
17 und vom 12.
Februar 2008 -
VI
ZR 221/06, [X.], 644 Rn.
13), begegnet hingegen keinen rechtlichen Bedenken.

[X.]alke
Zoll
[X.]

[X.]
Stöhr

Vorinstanzen:
L[X.] Paderborn, Entscheidung vom 25.06.2008 -
4 [X.]/06 -

OL[X.] Hamm, Entscheidung vom 05.03.2010 -
I-26 U 147/08 -

Meta

VI ZR 87/10

07.06.2011

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 07.06.2011, Az. VI ZR 87/10 (REWIS RS 2011, 6008)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6008

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VI ZR 87/10

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