Bundesgerichtshof, Urteil vom 25.05.2023, Az. 4 StR 479/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 3323

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Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] ([X.]) vom 1. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Entscheidungsgründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Ferner hat es angeordnet, dass der Angeklagte für erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen ist. Gegen den Freispruch wendet sich die [X.]taatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, mit der sie insbesondere die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten im [X.]inne des Anklagevorwurfs beanstandet. Die [X.]taatsanwaltschaft wendet sich zudem mit der sofortigen Beschwerde gegen die Entschädigungsentscheidung des [X.]s. Die vom [X.] teilweise vertretene Revision der [X.]taatsanwaltschaft hat Erfolg; die sofortige Beschwerde ist damit gegenstandslos.

I.

2

1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage vom 3. Januar 2022 legt dem Angeklagten zur Last, am 7. August 2021 in einer Gaststätte in [X.]                   versucht zu haben, den Geschädigten zu töten. Dieser habe eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Beteiligten inklusive des Angeklagten schlichten wollen. Aus Verärgerung hierüber habe sich der Angeklagte auf den Geschädigten gestürzt und ihm in Tötungsabsicht mit einem Messer mit einer Klingenlänge von mindestens neun Zentimetern drei [X.]tiche versetzt. Eine [X.]tichverletzung des Geschädigten an der rechten Flanke sei neun Zentimeter tief gewesen, habe die zwölfte Rippe sowie drei [X.]ehnen durchtrennt und Organe nur knapp verfehlt. Eine weitere [X.]tichverletzung im linken Achselbereich habe sechs Zentimeter tief in den Thorax des Geschädigten gereicht, dem der Angeklagte zudem einen Durchstich am rechten Beckenkamm versetzt habe. Als der Geschädigte stark blutend zurückgewichen sei und sich die Mitarbeiter des [X.] dem Geschehen genähert hätten, sei der Angeklagte geflüchtet.

3

2. Nach den Feststellungen des [X.]s kam es am Tattag in dem Gasthaus zu einer auch mit körperlicher Gewalt geführten Auseinandersetzung zwischen mehreren Beteiligten, bei der sich zwei Personengruppen einander gegenübersahen. Der Zeuge     C.    , der der Gruppe um den Angeklagten angehörte, schlug hierbei dem Onkel des späteren Geschädigten mit der Faust in das Gesicht. Der zuvor nicht an der Auseinandersetzung beteiligte Geschädigte wollte nun seinem Onkel beistehen, ging auf die Gruppe um den Angeklagten zu und sprach den Zeugen     C.     an, was dies – der ausgeführte [X.]chlag – solle. Als sich der Zeuge dem Geschädigten zuwandte, kamen die weiteren Mitglieder aus der Gruppe um den Angeklagten hinzu. Der Geschädigte wurde von hinten weggezogen und zu Boden gebracht. Wie viele Personen hieran beteiligt waren, konnte die [X.] nicht sicher feststellen. Wahrscheinlich handelte es sich aber um mindestens zwei Personen. Als sich der Geschädigte umdrehte und aufstand, fing er eine kurze Rangelei mit dem Angeklagten an. Dieser wurde – wie auch der Geschädigte – schließlich von einer anderen Person weggezogen. Im Rahmen dieses Geschehens trug der Geschädigte die in der Anklage benannten [X.]tichverletzungen davon.

4

Das [X.] vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass der Angeklagte dem Geschädigten diese [X.]tichverletzungen beibrachte. Es hat den Angeklagten daher aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

II.

5

Der Freispruch hat keinen Bestand. Die [X.] hat den [X.]achverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft.

6

1. Die Beweiswürdigung des [X.]s ist – unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen [X.] (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 5. Dezember 2017 ‒ 1 [X.]tR 416/17 Rn. 17; Urteil vom 27. Juli 2017 ‒ 3 [X.]/17 Rn. 12; Urteil vom 21. März 2013 ‒ 3 [X.], [X.][X.]t 58, 212 Rn. 6) – entgegen den Ausführungen der Revision allerdings rechtsfehlerfrei, soweit es sich nicht davon hat überzeugen können, dass der Angeklagte dem Geschädigten die Messerstiche versetzte.

7

a) Die Beweiswürdigung des [X.]s ist weder lückenhaft oder widersprüchlich noch verstößt sie gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen. Auch hat das [X.] keine überspannten Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt. Es hat eine Beteiligung anderer Personen als des Angeklagten an dem „Gerangel“ mit dem Geschädigten nicht ausschließen können. [X.]eine Annahme, dass dem Geschädigten die Messerstiche zudem – von ihm ebenfalls unbemerkt – bereits beim „Zurückziehen und zu Boden bringen“ beigebracht worden sein könnten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die verschiedenen Einstichstellen und [X.]tichrichtungen hat das [X.] bei seiner Würdigung bedacht. Die fehlende optische Wahrnehmung eines anderen [X.] als des Angeklagten durch den Geschädigten und dessen zunächst erhaltene Handlungsfähigkeit waren nicht gesondert erörterungsbedürftig. Beides steht den von der [X.] in den Blick genommenen Möglichkeiten nicht entgegen, dass die Messerstiche dem Geschädigten allein durch einen anderen Täter – ggf. bereits vor der Rangelei im [X.]tehen mit dem Angeklagten – versetzt worden sein könnten.

8

Hierbei handelt es sich auch nicht nur um denktheoretische Möglichkeiten, die das [X.] rechtsfehlerhaft zugunsten des Angeklagten unterstellt hätte. An der Auseinandersetzung waren weitere Personen beteiligt, nach den vom [X.] ohne Rechtsfehler als glaubhaft bewerteten Aussagen insbesondere der Zeuginnen [X.]und [X.]      auch bei dem den Geschädigten betreffenden Geschehen. Innere Widersprüche weist die Beweiswürdigung dabei nicht auf, denn die [X.] ist nicht zugleich von einer durchgehenden Konfrontation der weiteren Personen aus der Gruppe um den Angeklagten mit den sonstigen Beteiligten ausgegangen.

9

b) Die [X.] ist zudem rechtsfehlerfrei dem Gebot nachgekommen, alle wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse, die Gegenstand der Hauptverhandlung waren, in einer Gesamtschau zu würdigen (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 2022 – 2 [X.]tR 292/21 Rn. 9 [X.]).

2. Das [X.] hat es jedoch rechtsfehlerhaft unterlassen, eine [X.]trafbarkeit des Angeklagten wegen weiterer in Betracht kommender Delikte zu prüfen. Damit hat es gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht verstoßen.

a) Die sich aus § 264 [X.]tPO ergebende Kognitionspflicht erfordert, dass der – durch die zugelassene Anklage abgegrenzte – [X.] durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Zur angeklagten Tat im prozessualen [X.]inne gehört das gesamte Verhalten des [X.], soweit es nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt. Der Unrechtsgehalt dieser Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. [X.], Urteil vom 13. April 2023 ‒ 4 [X.]tR 429/22 Rn. 16; Urteil vom 15. Dezember 2022 – 3 [X.]tR 295/22 Rn. 12 [X.]).

b) Ein solcher Mangel liegt hier vor.

aa) Der Gegenstand der Anklage vom 3. Januar 2022 beschränkt sich nicht darauf, dass der Angeklagte dem Geschädigten in dem Gasthaus am 7. August 2021 drei Messerstiche versetzt habe. Der Lebensvorgang, aus dem die vom Tatgericht zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, umfasst allgemein auch alle damit zusammenhängenden und darauf bezogenen Vorkommnisse (vgl. [X.], Urteil vom 18. Januar 2023 – 5 [X.]tR 343/22 Rn. 28 [X.]). Im vorliegenden Fall knüpft der konkrete Anklagesatz grundlegend an die körperliche Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Beteiligten in dem Gasthaus an. Der Verfolgungswille der [X.]taatsanwaltschaft umfasst nach den vorstehenden Maßgaben daher jedes strafrechtlich relevante Verhalten des Angeklagten gegenüber dem Geschädigten, das im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung erfolgt ist.

bb) Vor diesem Hintergrund war die [X.] gehalten, eine über die Messerstiche hinausreichende mögliche [X.]trafbarkeit des Angeklagten wegen einer gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 [X.]tGB zu erörtern. Dies hat sie rechtsfehlerhaft unterlassen.

(1) Die weitere Prüfung einer zumindest versuchten Körperverletzung im [X.]inne von § 223 [X.]tGB wird zum einen durch die von der [X.] als glaubhaft angesehene Aussage der Zeugin [X.]  nahegelegt, wonach der Angeklagte „auf“ den Geschädigten „gesprungen“ sei. Zum anderen kann die anschließende Rangelei des Angeklagten mit dem Geschädigten (ebenfalls) auf die Beibringung einer Körperverletzung angelegt gewesen sein.

[X.]chon allein eine (Versuchs-)[X.]trafbarkeit des Angeklagten nach § 223 [X.]tGB hätte trotz der zum Urteilszeitpunkt fehlenden Voraussetzungen des § 230 Abs. 1 [X.]atz 1 [X.]tGB – nunmehr hat der [X.] das besondere öffentliche Interesse an der [X.]trafverfolgung bejaht – einen Freispruch des Angeklagten gehindert (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Juni 1983 – 3 [X.] ([X.]), [X.][X.]t 32, 1, 10; BayObLG[X.]t 1991, 39; [X.]tuckenberg in [X.], [X.]tPO, 27. Aufl., § 260 Rn. 44). Denn insoweit geht es um ein behebbares Verfahrenshindernis, das für sich nur eine Verfahrenseinstellung nach § 260 Abs. 3 [X.]tPO rechtfertigen kann.

(2) Dessen ungeachtet hätte die [X.] auch den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 [X.]tGB, dem eine konkludente Übereinkunft der Tatbeteiligten aufgrund arbeitsteiliger Tatausführung zugrunde liegen kann (vgl. [X.], Urteil vom 1. März 2023 – 2 [X.]tR 434/22 Rn. 22; Urteil vom 13. April 2023 – 5 [X.]tR 533/22 Rn. 7; [X.]. [X.]), prüfen müssen. Denn das [X.] hat selbst ausgeführt, dass sich aus den Zeugenaussagen Hinweise ergeben, wonach mehrere Personen gemeinsam gegen den Geschädigten agiert hätten.

cc) Ein weiterer Erörterungsmangel liegt darin, dass die [X.] eine [X.]trafbarkeit des Angeklagten wegen (versuchter) Nötigung gemäß § 240 [X.]tGB nicht in den Blick genommen hat. Nach den Feststellungen wollte der Geschädigte seinem Onkel beistehen und wandte sich hierzu an einen der Gruppe um den Angeklagten zugehörigen Beteiligten, nachdem dieser dem Onkel des Geschädigten einen Faustschlag versetzt hatte. Diese festgestellten Umstände boten der [X.] Anlass zu der Erörterung, ob der Angeklagte ein Eingreifen des Geschädigten zugunsten eines Kontrahenten gewaltsam zu verhindern bzw. zu unterbinden suchte (vgl. auch [X.], Urteil vom 31. März 2022 – 4 [X.]tR 424/21 Rn. 12 ff.). Auch eine solche Prüfung hat die [X.] rechtsfehlerhaft nicht vorgenommen.

3. Die getroffenen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie den Angeklagten belasten und er sie mangels Beschwer durch den Freispruch nicht hat angreifen können (vgl. [X.], Urteil vom 15. Dezember 2022 – 3 [X.]tR 245/22 Rn. 12; Urteil vom 14. Juli 2021 – 6 [X.]tR 282/20 Rn. 37 [X.]).

Für den Fall, dass der Angeklagte im zweiten Rechtsgang erneut freigesprochen werden sollte, weist der [X.]enat vorsorglich darauf hin, dass die sich aus § 267 Abs. 5 [X.]atz 1 [X.]tPO ergebenden Darstellungsanforderungen an ein freisprechendes Urteil (vgl. allgemein [X.], Urteil vom 22. Mai 2019 – 5 [X.]tR 36/19 Rn. 12 [X.]) das Tatgericht ggf. auch verpflichten, die für den Tatvorwurf bedeutsamen persönlichen Verhältnisse des Angeklagten in den Urteilsgründen festzustellen (st. Rspr.; vgl. etwa [X.], Urteil vom 10. Mai 2017 – 2 [X.]tR 258/16 Rn. 13; Urteil vom 2. Februar 2017 – 4 [X.]tR 423/16 Rn. 10; Urteil vom 13. März 2014 – 4 [X.]tR 15/14 Rn. 8).

III.

Mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils ist die sofortige Beschwerde der [X.]taatsanwaltschaft gegen die Entscheidung über eine Entschädigung des Angeklagten nach den Vorschriften über die Entschädigung für [X.]trafverfolgungsmaßnahmen gegenstandslos geworden (vgl. [X.], Urteil vom 28. März 2019 – 4 [X.]tR 530/18 Rn. 21 [X.]; Urteil vom 24. Januar 2006 – 1 [X.]tR 357/05, [X.][X.]t 50, 347).

[X.]     

  

Maatsch     

  

      [X.]cheuß

  

Messing     

  

Ri‘in[X.] Dr. Momsen-Pflanz
ist wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung gehindert.

  

  

  

  

[X.]

  

Meta

4 StR 479/22

25.05.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Frankenthal, 1. Juni 2022, Az: 1 Ks 5120 Js 27895/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 25.05.2023, Az. 4 StR 479/22 (REWIS RS 2023, 3323)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3323

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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