Bundessozialgericht, Urteil vom 08.03.2016, Az. B 1 KR 35/15 R

1. Senat | REWIS RS 2016, 14923

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Gegenstand

Krankenversicherung - kein Anspruch auf Brustvergrößerung bei fehlender Brustanlage - allgemeiner Gleichheitssatz


Leitsatz

Versicherte ohne Brustanlage haben keinen Anspruch auf Brustvergrößerung, auch wenn Versicherten nach einer Brustamputation eine Brustrekonstruktion zusteht.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. September 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten des Verfahrens sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einer beidseitigen [X.] ([X.]).

2

Die 1984 geborene, bei der beklagten Krankenkasse ([X.]) versicherte Klägerin leidet an dem [X.] ([X.]), einer autosomal-dominant vererbten Erkrankung, die durch [X.] geprägt ist. Das [X.] wirkte sich bei der Klägerin auch in einer deutlichen Verzögerung der Pubertät aus, weshalb die Ärzte die Klägerin ab dem 20. Lebensjahr mit einem Hormonersatzpräparat behandelten. Gleichwohl kam es zu keiner Brustentwicklung (präpubertäre Brust, [X.] B2); lediglich die [X.] entsprechen denen einer erwachsenen Frau. Die Beklagte lehnte nach gutachtlichen Stellungnahmen des [X.] ([X.]), die nur eine kosmetische Indikation sahen, die Versorgung der Klägerin mit einer beidseitigen [X.] ab (Bescheid vom 24.9.2012, Widerspruchsbescheid vom [X.]). Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das [X.] hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einer [X.] zu versorgen. Eine vollständig fehlende Brustanlage stelle eine behandlungsbedürftige Krankheit dar, weil das geschlechtstypische Erscheinungsbild der Frau schwer beeinträchtigt sei. Auch gebiete der allgemeine Gleichheitssatz, dass Frauen, bei denen es krankheitsbedingt zu keiner Brustentwicklung komme, nicht anders behandelt werden dürften als Frauen, die eine Brustrekonstruktion nach krebsbedingter Brustamputation (Mastektomie) erhielten. Die Kosten letzterer übernähmen aber die [X.]n, obwohl die Brustrekonstruktion nicht der Behandlung des Brustkrebses diene. Auch verwiesen die [X.]n die davon betroffenen Frauen nicht auf eine Psychotherapie anstelle der Brustrekonstruktion (Urteil vom [X.]).

3

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 27 Abs 1 S 1 [X.]B V. Mit der begehrten [X.] würden weder - insoweit nicht vorhandene - körperliche Krankheitsbeschwerden des [X.] gelindert noch fehlende Körperfunktionen wiederhergestellt oder substituiert. Auch liege keine Entstellung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor. Schließlich handele es sich bei einer Brustrekonstruktion nach vorausgegangener karzinombedingter Mastektomie um einen wesentlich anderen Sachverhalt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum [X.]-Anspruch von [X.] sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht entsprechend anwendbar.

4

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des [X.] vom 9. September 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das [X.] die Beklagte verurteilt, eine beidseitige [X.] als Naturalleistung zu gewähren. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen dahingehenden Anspruch.

8

1. Entgegen der Auffassung des [X.] stellt eine fehlende Brustanlage nicht schon für sich genommen eine behandlungsbedürftige Krankheit dar. Die fehlende Brustanlage ist zwar eine Krankheit (dazu a), eine [X.] ist aber keine geeignete Therapie dieser Krankheit (dazu b). Eine behandlungsbedürftige Entstellung liegt nicht vor (dazu c). Die Brustoperation ist auch zur Behandlung einer - vom [X.] nicht festgestellten - psychischen Erkrankung nicht notwendig (dazu d). Die Klägerin kann schließlich nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) iVm § 27 Abs 1 S 1 [X.]B V keinen Anspruch deswegen für sich herleiten, weil Versicherte nach krankheitsbedingter, namentlich krebsbedingter Mastektomie einen Anspruch auf Brustrekonstruktion haben (dazu e). Die Voraussetzungen, nach denen [X.] Anspruch auf Versorgung mit einer [X.] haben, sind hier ohnehin nicht erfüllt (dazu f).

9

a) Die Klägerin kann nach § 27 Abs 1 S 1 [X.]B V Krankenbehandlung verlangen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl zB B[X.] [X.]-2500 § 27 [X.]; B[X.]E 100, 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 10; B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.]; B[X.]E 85, 36, 38 = [X.]-2500 § 27 [X.]; B[X.]E 72, 96, 98 = [X.]-2200 § 182 [X.] S 64, jeweils mwN).

Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (stRspr, vgl zB B[X.]E 100, 119 = [X.]-2500 § 27 [X.] LS und Rd[X.] 13 f; B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 6; B[X.]E 93, 94 = [X.]-2500 § 13 [X.], Rd[X.] 16; zu einer Hodenprothese B[X.]E 82, 158, 163 f = [X.]-2500 § 39 [X.] f; vgl auch B[X.] [X.]-2500 § 33 [X.]5 S 253 f). Die Klägerin ist in der Körperfunktion, Stillen zu können, dadurch beeinträchtigt, dass sie über keine Brust mit Drüsengewebe verfügt (vgl B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 5).

b) Die begehrte [X.] dient jedoch nicht dazu, die Funktionsbeeinträchtigung des Stillens zu behandeln. Weder soll die [X.] durch fehlendes Drüsengewebe verursachte physiologische Funktionsausfälle beheben noch ist sie dazu objektiv geeignet. Vielmehr soll die [X.] lediglich das Erscheinungsbild der Klägerin verändern.

c) Das Erscheinungsbild der Klägerin ist nicht behandlungsbedürftig. Die bei der Klägerin vorhandene anatomische Abweichung wirkt nicht entstellend.

aa) Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der [X.] zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, sodass deren Teilhabe am Leben in der [X.] ist (vgl B[X.]E 100, 119 = [X.]-2500 § 27 [X.] LS und Rd[X.] 13; B[X.] [X.]-2500 § 33 [X.]5 S 253 f).

Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche [X.] überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl B[X.]E 100, 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.]; B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 6). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl B[X.] [X.]-3870 § 48 [X.] f). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung zB das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau (vgl B[X.] [X.]-2500 § 33 [X.]5 S 253 f) oder eine Wangenatrophie (vgl L[X.] Rheinland-Pfalz Urteil vom [X.] - L 5 KR 93/01 - [X.] 02.021) oder Narben im [X.] angenommen oder erörtert (vgl B[X.] [X.]-1750 § 372 [X.] 1). Dagegen hat der erkennende Senat bei der Fehlanlage eines Hodens eines männlichen Versicherten eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen (vgl B[X.]E 82, 158, 163 f = [X.]-2500 § 39 [X.] 5) und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt (B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 6). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (vgl B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 6; B[X.] [X.]-1750 § 372 [X.] 1).

bb) Nach diesen Maßstäben ergibt sich bei der Klägerin keine Behandlungsbedürftigkeit wegen Entstellung. Allerdings hat das [X.] ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung, das vollständige Fehlen der weiblichen Brust sei in jedem Fall eine behandlungsbedürftige Krankheit (ähnlich, aber ebenfalls unzutreffend L[X.] Hamburg Urteil vom 2.5.2012 - L 1 KR 38/10 - Juris Rd[X.] 23: bei [X.] aufgrund eines Poland-Syndroms liege immer eine durch Brustaufbau zu behandelnde Krankheit vor), keine ausdrückliche Feststellung dazu getroffen, dass die Klägerin entstellt ist. Dem Gesamtzusammenhang der den Senat bindenden, nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren Feststellungen (§ 161 Abs 4, § 163 [X.]G) des [X.] ist jedoch zu entnehmen, dass bei der Klägerin eine als Entstellung zu bewertende körperliche Auffälligkeit in Alltagssituationen für außenstehende Dritte nicht zu erkennen ist und damit die [X.] nicht erreicht wird. Das entspricht auch der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats.

d) Eine mögliche - vom [X.] im Sinne eines psychischen Leidens nicht festgestellte - psychische Belastung der Klägerin aufgrund ihres Erscheinungsbildes rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats können psychische Leiden einen Anspruch auf eine [X.] zum Brustaufbau nicht begründen (vgl B[X.]E 100, 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 18; B[X.]E 93, 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 7 ff). Hieran hält der Senat fest. Nichts anderes ergibt sich, wenn die fehlende Brustanlage zwar - wie hier - auch den Ausfall einer körperlichen Funktion mit sich bringt, durch den Eingriff aber nicht die Funktion wiederhergestellt, sondern nur das äußere, nicht entstellte Erscheinungsbild korrigiert werden soll.

e) Entgegen der Ansicht der Klägerin ergibt sich nichts Abweichendes aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) im Hinblick auf Patientinnen, die sich - insbesondere im Rahmen einer Therapie von Brustkrebs - aus kurativen Gründen einer Mastektomie unterziehen und Anspruch auf eine Brustrekonstruktion mittels [X.] haben.

Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl [X.] 133, 1 Rd[X.]4 mwN). So verhält es sich hier nicht. Der Anspruch einer Versicherten auf [X.]-Versorgung nach Mastektomie etwa aufgrund eines Mammakarzinoms ist darin begründet, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung durch ärztliches Handeln vorrangig darauf gerichtet ist, Erkrankte unter Wahrung ihrer körperlichen Integrität zu heilen. Wird zur Behandlung in den Körper eingegriffen, ist dieser möglichst - als Teil der einheitlichen ärztlichen Heilbehandlung - wiederherzustellen, sei es mit körpereigenem oder mit körperfremdem Material. Diese Fälle unterscheiden sich grundlegend von Eingriffen in einen nicht behandlungsbedürftigen natürlichen Körperzustand, um das nicht entstellte äußere Erscheinungsbild zu ändern.

f) Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Anspruch auf [X.]-Versorgung bei Mann-zu-Frau-Transsexualismus ist durch die Besonderheiten dieser gesetzlich besonders geregelten Krankheit geprägt und grundsätzlich nicht auf andere Sachverhalte wie den hier vorliegenden oder auch vergleichbare Fälle mit psychischer Erkrankung übertragbar (vgl nur B[X.]E 111, 289 = [X.]-2500 § 27 [X.] 23, Rd[X.] 10 ff; offengelassen für die Intersexualität B[X.] [X.]-2500 § 27 [X.] 24 Rd[X.] 13).

2. [X.] beruht auf § 193 [X.]G.

Meta

B 1 KR 35/15 R

08.03.2016

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Halle (Saale), 9. September 2015, Az: S 35 KR 71/13, Urteil

§ 27 Abs 1 S 1 SGB 5, Art 3 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 08.03.2016, Az. B 1 KR 35/15 R (REWIS RS 2016, 14923)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 14923

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