Bundessozialgericht, Urteil vom 11.09.2012, Az. B 1 KR 11/12 R

1. Senat | REWIS RS 2012, 3351

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Gegenstand

Krankenversicherung - Anspruch von transsexuellen Versicherten auf geschlechtsangleichende Behandlungsmaßnahmen - Rechtweite des Anspruchs - bestehender Brustansatz - Verfassungsmäßigkeit - Begrenzung des Brustumfangs


Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des [X.] vom 25. Januar 2012 und der Gerichtsbescheid des [X.] vom 7. Januar 2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 14. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Brustvergrößerungsoperation zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einer [X.] (MAP).

2

Die bei der beklagten Krankenkasse ([X.]) versicherte Klägerin wurde 1964 anatomisch als [X.] geboren. Sie erhielt aufgrund der Diagnose [X.]-zu-Frau-Transsexualismus zu Lasten der Beklagten ab 2005 eine Östrogentherapie und im Februar 2008 eine geschlechtsangleichende [X.]. Ihren Antrag auf Versorgung mit einer MAP (31.3.2008) stützte sie auf Atteste von [X.], [X.] und [X.]. Eine operative Brustvergrößerung sei indiziert, weil sich lediglich eine mäßige seitengleiche weibliche Brust entwickelt habe, die durch [X.] nicht weiterwachse. Das minimale Brustwachstum entspreche immer noch einer männlichen Brust. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da nach Einschätzung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung die bestehende Mammahypoplasie (Unterentwicklung der Brust) nicht als krankhafter Befund zu werten sei. Der kosmetische Aspekt stünde im Mittelpunkt (Bescheid vom 14.4.2008; Widerspruchsbescheid vom 22.9.2008). Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 7.1.2010). Das L[X.] hat die Berufung zurückgewiesen: Bestehe - wie hier - ausnahmsweise die Indikation für operative Maßnahmen aufgrund von Transsexualismus als einer psychischen Regelwidrigkeit, umfasse der Anspruch zwar im Einzelfall auch einen operativen Brustaufbau bei fehlender Anlage, nicht jedoch eine Brustvergrößerung, welche die Klägerin begehre (Urteil vom 25.1.2012).

3

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision sinngemäß die Verletzung des § 27 Abs 1 S 1 [X.]B V. Ihr Anspruch auf Krankenbehandlung wegen Transsexualismus umfasse aufgrund der gegebenen medizinischen Indikation auch eine operative Brustvergrößerung.

4

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] vom 25. Januar 2012 und den Gerichtsbescheid des [X.] vom 7. Januar 2010 sowie den Bescheid vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Brustvergrößerungsoperation zu gewähren.

5

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene [X.]-Urteil, der SG-Gerichtsbescheid und die Bescheide der beklagten [X.] sind aufzuheben, denn sie verletzen § 27 Abs 1 S 1 [X.] Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch darauf, ihr eine Brustvergrößerungsoperation zu gewähren. Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass transsexuelle Versicherte nach § 27 Abs 1 [X.] Anspruch auf geschlechtsangleichende Behandlungsmaßnahmen einschließlich chirurgischer Eingriffe in gesunde Organe zur Minderung ihres psychischen Leidensdrucks haben können, um sich dem Erscheinungsbild des angestrebten anderen Geschlechts deutlich anzunähern (dazu 1.). Die Reichweite des Anspruchs auf geschlechtsangleichende Behandlung bestimmt sich auf der Basis der allgemeinen und besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankenbehandlung nach medizinischen Kriterien (dazu 2.). Der bestehende Brustansatz schließt den Anspruch auf geschlechtsangleichende Behandlung nicht aus (dazu 3.).

8

1. Versicherte - wie die Klägerin - haben nach § 27 Abs 1 S 1 [X.] Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Versicherte leidet an [X.] in Gestalt einer psychischen Krankheit, deren Behandlung notwendig ist (dazu a). Obwohl der Anspruch auf Krankenbehandlung psychischer Krankheiten grundsätzlich nicht körperliche Eingriffe in intakte Organsysteme erfasst, können zur notwendigen Krankenbehandlung des [X.] - als Ausnahme von diesem Grundsatz - operative Eingriffe in den gesunden Körper zwecks Veränderung der äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gehören (dazu b). Die genannten operativen Eingriffe in den gesunden Körper müssen medizinisch erforderlich sein (dazu c).

9

a) Grundvoraussetzung des Anspruchs Versicherter auf Krankenbehandlung ist, dass sie an einer Krankheit leiden. Krankheit iS von § 27 Abs 1 S 1 [X.] ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl nur [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 10 mwN - Zisidentität; zu Bestrebungen, den [X.] zu "entpathologisieren", vgl das [X.]-Urteil - Juris Rd[X.]). Die Klägerin leidet in diesem Sinne an einer Krankheit, nämlich an behandlungsbedürftigem [X.].

[X.] ist nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse eine psychische Krankheit. Transsexuelle leben in dem irreversiblen und dauerhaften Bewusstsein, dem Geschlecht anzugehören, dem sie aufgrund ihrer äußeren körperlichen Geschlechtsmerkmale zum Zeitpunkt der Geburt nicht zugeordnet wurden (vgl [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909, Rd[X.]4 mwN). Für die Diagnose entscheidend ist die Stabilität des transsexuellen Wunsches, der vollständigen psychischen Identifikation mit dem anderen, dem eigenen Körper widersprechenden Geschlecht (vgl [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909, Rd[X.]5 unter Hinweis auf [X.]/Berner/[X.]/Richter-Appelt, [X.], [X.], 260; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Transsexualität und Intersexualität, Medizinische, ethische, [X.] und juristische Aspekte, 2008, [X.]). Die [X.] Version 2012 ordnet [X.] mit dem Schlüssel [X.] (Störungen der Geschlechtsidentität) dem Kapitel V zu (Psychische und Verhaltensstörungen ). [X.] spricht von dem "Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden".

Die Rechtsordnung erkennt [X.] nicht nur personenstandsrechtlich, sondern auch als behandlungsbedürftige Krankheit an. Der Gesetzgeber hat bereits durch Schaffung des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz <[X.]>) vom 10.9.1980 ([X.] 1654; zuletzt geändert durch Beschluss des [X.] vom 11.1.2011 - 1 BvR 3295/07 - [X.] 224 = [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909) bestätigt, dass der Befund des [X.] eine außergewöhnliche rechtliche Bewertung rechtfertigt ([X.], 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 11; [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 17). Inzwischen erstreckt das [X.] ausdrücklich die ambulante spezialfachärztliche Versorgung auf die Diagnostik und Behandlung komplexer, schwer therapierbarer Krankheiten, die je nach Krankheit eine spezielle Qualifikation, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und besondere Ausstattungen erfordern. Hierzu gehört ua [X.] als seltene Erkrankung (vgl § 116b [X.] [X.] 2 Buchst i [X.] idF durch Art 1 [X.] Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22.12.2011, [X.] 2983; vgl dazu BT-Drucks 17/6906 [X.]; vgl zuvor Anlage 2 [X.] der Richtlinie des Gemeinsamen [X.] <[X.]> über die ambulante Behandlung im Krankenhaus nach § 116b [X.] idF vom 18.10.2005, BAnz [X.] vom 11.1.2006, zuletzt geändert am 15.12.2011, BAnz [X.], in [X.] getreten am 31.12.2011; zur erstmaligen Berücksichtigung des [X.] als seltene Erkrankung im Rahmen des § 116b [X.] aF vgl die Bekanntmachung des [X.] über eine Ergänzung des Katalogs nach § 116b Abs 3 [X.] vom 16.3.2004, BAnz [X.] 177).

b) Das Spektrum medizinisch indizierter Krankenbehandlung des [X.] ist mittlerweile - anknüpfend an den Erkenntnisfortschritt über die Erkrankung - weit gefächert. Für erforderlich werden individuelle therapeutische Lösungen erachtet, die von einem Leben im anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen über hormonelle Behandlungen bis hin zur weitgehenden operativen Geschlechtsangleichung reichen können (vgl [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909, Rd[X.]6 unter Hinweis auf [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Transsexualität und Intersexualität, Medizinische, ethische, [X.] und juristische Aspekte, 2008, 119, 122; Rauchfleisch, Transsexualität - Transidentität, 2006, 17; [X.] in [X.]/[X.], Sexualstörungen, 2004, 153, 180, 181).

Während notwendige Krankenbehandlung des [X.] auf [X.] nach den allgemeinen Grundsätzen zur Ermöglichung und Stützung eines Lebens im anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen unproblematisch von § 27 Abs 1 S 1 [X.] erfasst ist, versteht sich dies für hormonelle Behandlungen bis hin zur weitgehenden operativen Geschlechtsangleichung nicht in gleicher Weise beinahe von selbst. Der erkennende Senat erachtet dennoch solche Ansprüche weiterhin für möglich.

Die ständige Rechtsprechung des für diese Frage allein zuständigen erkennenden Senats verneint grundsätzlich eine Behandlungsbedürftigkeit psychischer Krankheiten mittels angestrebter körperlicher Eingriffe, wenn diese Maßnahmen nicht durch körperliche Fehlfunktionen oder durch Entstellung, also nicht durch einen regelwidrigen Körperzustand veranlasst werden (vgl zB [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 13 - Zisidentität; [X.], 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 16; [X.], 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 5; [X.] 82, 158, 163 f = [X.] 3-2500 § 39 [X.] f, jeweils mwN). In Bezug auf [X.]en am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, lässt sich ausgehend von der aufgezeigten Rechtsprechung grundsätzlich eine Behandlungsbedürftigkeit nicht begründen (näher dazu [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 13 mwN - Zisidentität).

Auch allein das subjektive Empfinden eines Versicherten vermag die Regelwidrigkeit und die daraus abgeleitete Behandlungsbedürftigkeit seines Zustandes nicht zu bestimmen. Maßgeblich sind vielmehr objektive Kriterien, nämlich der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse (§ 2 Abs 1 S 3, § 28 Abs 1 S 1 [X.]; vgl zur Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit [X.] 97, 190 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 23 mwN) und - bei der Frage, ob eine Entstellung besteht - der objektive Zustand einer körperlichen Auffälligkeit von so beachtlicher Erheblichkeit, dass sie die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gefährdet ([X.], 119 = [X.]-2500 § 27 [X.] LS und Rd[X.] 13 f). Andernfalls würde der Krankheitsbegriff über Gebühr relativiert und an Konturen verlieren. Es würde nicht gezielt gegen die eigentliche Krankheit selbst vorgegangen, sondern nur mittelbar die Besserung eines an sich einem anderen Bereich zugehörigen gesundheitlichen Defizits angestrebt (vgl zum Ganzen [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] mwN - Zisidentität). Daran hält der Senat fest.

Der Senat hat allerdings bisher unter Hinweis auf die Regelungen des [X.] eine Ausnahme von den dargestellten Grundsätzen in dem hier betroffenen Bereich im Falle einer besonders tief greifenden Form des [X.] gemacht. Er hat in diesen Fällen einen Anspruch auf medizinisch indizierte Hormonbehandlung und geschlechtsangleichende [X.]en bejaht (vgl zum Ganzen [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 15 - Zisidentität), zugleich aber auch - neben § 27 Abs 1 S 1 [X.] - dem Regelungskonzept des [X.] Grenzen der Reichweite des Anspruchs auf Krankenbehandlung entnommen (vgl [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 17 - Zisidentität). Die Ansprüche auf geschlechtsangleichende [X.]en sind danach beschränkt auf einen Zustand, bei dem aus der Sicht eines verständigen Betrachters eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eintritt (vgl [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 15 unter Hinweis ua auf § 8 Abs 1 [X.] 4 [X.]).

Der erkennende Senat führt seine Rechtsprechung im [X.] trotz der Entscheidung des [X.] fort, § 8 Abs 1 [X.] 4 [X.] mit Art 2 Abs 1 und Art 2 Abs 2 iVm Art 1 Abs 1 [X.] für nicht vereinbar und bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung für nicht anwendbar zu erklären (vgl [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909). Das [X.] zielt mit seiner Entscheidung nämlich nur darauf ab, Transsexuelle vor unverhältnismäßigen Belastungen zu schützen. Es sieht - nach näherer Maßgabe der Entscheidungsgründe - die von § 8 Abs 1 [X.] 4 [X.] zum Erreichen personenstandsrechtlicher Änderungen zwingend vorgegebene deutliche Annäherung der transsexuellen Person an die körperliche Erscheinung des angestrebten anderen Geschlechts im Sinne einer genitalverändernden [X.] angesichts der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken als unzumutbar an. Es ist danach unzumutbar, von einem Transsexuellen zu verlangen, dass er sich derartigen risikoreichen, mit möglicherweise dauerhaften gesundheitlichen Schädigungen und Beeinträchtigungen verbundenen [X.]en unterzieht, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind, um damit die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit seiner Transsexualität unter Beweis zu stellen und die personenstandsrechtliche Anerkennung im empfundenen Geschlecht zu erhalten ([X.] 128, 109, 131 f = NJW 2011, 909, Rd[X.] 70). Die operativen Eingriffe als solche stellen dagegen bei wirksamer Einwilligung des Transsexuellen keinen Verstoß gegen seine Menschenwürde, sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das [X.] dar (vgl zu Letzterem bereits [X.] 49, 286, 299 f). Unverändert kann bei Transsexuellen eine [X.] zur Herbeiführung einer deutlichen Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eine gebotene medizinische Maßnahme sein ([X.] 128, 109, 132 = NJW 2011, 909, Rd[X.] 66; vgl auch zur Gesetzesentwicklung und § 116b [X.] [X.] 2 Buchst i [X.] idF des [X.] unten, II. 2).

c) Ein Anspruch Versicherter auf geschlechtsangleichende [X.]en am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper zur Behandlung des [X.] bedarf danach zunächst der medizinischen Indikation. Die geschlechtsangleichende [X.] muss zudem zur Behandlung erforderlich sein. Daran fehlt es, wenn zum Erreichen der in § 27 Abs 1 S 1 [X.] genannten Therapieziele Behandlungsmaßnahmen ausreichen, die ein Leben im anderen Geschlecht ohne somatische Maßnahmen unterstützen oder sich auf hormonelle Behandlungen ohne [X.]en beschränken. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen kann nicht losgelöst von der inneren Reichweite des Anspruchs überprüft werden (dazu 2.).

2. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für eine [X.]. Die Reichweite des Anspruchs Transsexueller auf Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 S 1 [X.]) im Sinne von geschlechtsangleichender Behandlung kann nach der dargelegten Rechtsprechung des [X.] allerdings nicht mehr unter Rückgriff auf Wertungen des § 8 Abs 1 [X.] 4 [X.] eingegrenzt werden. Das Ausmaß des Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung bestimmt sich nunmehr unter Einbeziehung der Wertungen des § 116b [X.] [X.] 2 Buchst i [X.] idF des [X.] auf der Basis der allgemeinen und besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankenbehandlung (vgl dazu [X.], [X.] 2007, 461) nach den medizinischen Kriterien des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse (dazu a). Für das erforderliche Ausmaß der Behandlung ist dagegen nicht auf das Erscheinungsbild des Betroffenen im gesellschaftlichen Alltag in dem Sinne abzustellen, dass dem Anspruch bereits mit der Behebung einer Entstellung Genüge getan ist (dazu b).

a) Besteht eine Indikation für eine begehrte geschlechtsangleichende [X.] transsexueller Versicherter, bestimmen vornehmlich objektivierte medizinische Kriterien das erforderliche Ausmaß. Hierbei ist vor allem die Zielsetzung der Therapie zu berücksichtigen, den Leidensdruck der Betroffenen durch solche operativen Eingriffe zu lindern, die darauf gerichtet sind, das körperlich bestehende Geschlecht dem empfundenen Geschlecht anzunähern, es diesem näherungsweise anzupassen.

Die Begrenzung auf eine bloße Annäherung des körperlichen Erscheinungsbildes an das gefühlte Geschlecht ergibt sich nicht nur aus den faktischen Schranken, die hormonelle Therapie und plastische Chirurgie setzen. Die Einräumung von Ansprüchen für transsexuelle Versicherte führen unverändert nicht dazu, Betroffenen Anspruch auf jegliche Art von geschlechtsangleichenden operativen Maßnahmen im Sinne einer optimalen Annäherung an ein vermeintliches Idealbild und ohne Einhaltung der durch das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung vorgegebenen allgemeinen Grenzen einzuräumen (vgl schon bisher [X.]-2500 § 27 [X.] Rd[X.] 15 - Zisidentität; [X.], 252 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 11). Die Ansprüche sind vielmehr beschränkt auf einen Zustand, der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts deutlich angenähert ist.

Der Anspruch auf Krankenbehandlung hat sich nach § 27 Abs 1 S 1 [X.] iVm § 2 Abs 1 S 3, § 2 Abs 4, § 12 Abs 1 [X.] daran auszurichten, welche Behandlung unter Beachtung des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und ausreichend ist, um das angestrebte, in § 27 Abs 1 S 1 [X.] bezeichnete Behandlungsziel zu erreichen. Hierzu ist unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nicht nur dem Grunde nach, sondern auch dem Umfang nach zu ermitteln, welche Reichweite der Therapie indiziert ist.

In Abkehr von den bisherigen Überlegungen, Transsexuellen zum Erreichen personenstandsrechtlicher Änderungen nach § 8 Abs 1 [X.] 4 [X.] (bisherige Fassung) eine genitalverändernde [X.] abzuverlangen, können sich hierbei die gebotenen individuellen operativen Therapieansätze lediglich auf [X.] ohne genitalverändernde [X.]en beschränken. Denn neuere wissenschaftliche Erkenntnisse stützen die Relativierung des [X.]swunsches in seiner Bedeutung für Diagnose und Therapie Transsexueller (vgl [X.] 128, 109 = NJW 2011, 909, Rd[X.]5 mwN). Insoweit muss medizinisch abgeklärt sein, dass die begehrte Therapie - [X.] - geeignet, ausreichend und erforderlich, im Rahmen gleichwertiger Alternativen zudem im engeren Sinne wirtschaftlich ist. Auch der [X.]swunsch hinsichtlich einer [X.] darf nicht eine Lösungsschablone für etwa verborgene andere psychische Störungen oder Unbehagen mit etablierten Geschlechtsrollenbildern sein, sondern muss aufgrund des [X.] indiziert sein.

Die genannten Voraussetzungen sind bei der Klägerin nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] erfüllt. Das [X.] zieht die ärztlich gestellte Indikation nicht in medizinischer Hinsicht in Zweifel, sondern hat lediglich in rechtlicher Hinsicht Bedenken gegen die Reichweite des geltend gemachten Anspruchs der Klägerin.

b) Der gegenüber der bisherigen Rechtslage geänderte rechtliche Ausgangspunkt des Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung schließt es demgegenüber aus, die Reichweite des Anspruchs primär anhand von Kriterien des Behandlungsanspruchs wegen Entstellung zu umreißen. Eine Entstellung begründet einen Anspruch auf Krankenbehandlung wegen einer körperlichen, nicht psychischen Krankheit (vgl zum Ganzen grundlegend [X.], 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 13 f mwN). Innerer Grund des Anspruchs Transsexueller auf geschlechtsangleichende [X.]en ist es dagegen nicht, eine Entstellung zu heilen oder zu lindern. Ein solcher Anspruch, der bei Entstellung für alle Versicherte, auch für transsexuelle Versicherte besteht, bleibt hiervon unberührt.

3. Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht wegen ihres bereits vorhandenen Brustansatzes ausgeschlossen. Es steht fest, dass die Klägerin einen Brustumfang hat, der eine medizinisch indizierte [X.] erfordert.

Ansprüche Transsexueller auf geschlechtsangleichende Behandlung im Sinne medizinisch indizierter [X.] sind zusätzlich durch das objektive Erscheinungsbild des [X.] begrenzt. Die hierdurch gezogenen Grenzen sind allerdings weiter, als sie durch die oben dargelegte Rechtsprechung zur Entstellung gezogen sind. Wer als Mann-zu-Frau-Transsexueller - etwa aufgrund einer Hormontherapie - einen Brustansatz entwickelt hat, der die für konfektionierte Damenoberbekleidung vorgesehene Größe A nach [X.] EN 13402 bei erfolgter Ausatmung im Rahmen normaler Messung ohne weitere Mittel voll ausfüllt, kann keine [X.] beanspruchen (vgl zu [X.] EN 13402: [X.] (2001) http://www.beuth.de/langanzeige/[X.]-EN-13402-1/de/38031428). Das damit erreichte körperliche Erscheinungsbild bewegt sich nämlich - trotz der großen Vielfalt der Phänotypen bei Männern und Frauen - in einem unzweifelhaft geschlechtstypischen Bereich.

Die Grenze trägt auch dem Gleichbehandlungsgebot gemäß Art 3 Abs 1 [X.] Rechnung. Die Grenzziehung vermeidet es, transsexuellen Versicherten einen umfassenden leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen [X.]en zu eröffnen, der nichttranssexuellen Versicherten von vornherein versperrt ist (vgl dazu zB [X.], 119 = [X.]-2500 § 27 [X.], Rd[X.] 13 mwN).

Nach den [X.], den Senat bindenden (§ 163 S[X.]) Feststellungen des [X.] hat die [X.] der Klägerin nicht ein Ausmaß, das nach den dargelegten Kriterien einen Anspruch auf eine [X.] ausschließt.

4. [X.] beruht auf § 193 S[X.].

Meta

B 1 KR 11/12 R

11.09.2012

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Freiburg (Breisgau), 7. Januar 2010, Az: S 19 KR 5214/08, Gerichtsbescheid

§ 2 Abs 1 SGB 5, § 2 Abs 4 SGB 5, § 12 Abs 1 SGB 5, § 27 Abs 1 S 1 SGB 5, § 116b Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst i SGB 5 vom 22.12.2011, § 8 Abs 1 Nr 4 TSG, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 3 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 11.09.2012, Az. B 1 KR 11/12 R (REWIS RS 2012, 3351)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3351

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1 BvR 3295/07

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