Bundessozialgericht, Beschluss vom 11.06.2021, Az. B 9 SB 64/20 B

9. Senat | REWIS RS 2021, 5059

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - Darlegungsanforderungen - aus sich selbst heraus verständliche Beschwerdeschrift - Bezeichnung aller Tatsachen - Schilderung einer vollständigen Prüfungsgrundlage - Gesamtzusammenhang einer zitierten Urteilspassage - Erforderlichkeit der ergänzenden Aktenlektüre - kein Rückgriff auf den Akteninhalt - Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme - Einlassungen des Klägers vor dem Sozialgericht - andere Würdigung durch das Berufungsgericht - schriftliche Anhörung im Berufungsverfahren als "wiederholte Beweisaufnahme" - Glaubwürdigkeitsbeurteilung - Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit - Divergenz - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Diabetes mellitus - Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung - Abweichung von der BSG-Rechtsprechung - Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 23. September 2020 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grad der Behinderung (GdB) wegen seines Diabetes mellitus.

2

Der Beklagte hatte beim Kläger zuletzt einen [X.] von 40 festgestellt. Den Neufeststellungsantrag des [X.] lehnte der Beklagte ab. Der GdB des [X.] betrage unverändert 40 bei einem Einzel-GdB für den Diabetes mellitus von 40, von 20 für Schwerhörigkeit und von 10 für degenerative Wirbelsäulenveränderungen (Bescheid vom 8.3.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.2.2018).

3

Das [X.] hat den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide verurteilt, beim Kläger einen GdB von 50 festzustellen. Für den Diabetes mellitus des [X.] hat es dabei einen Einzelwert von 50 zugrunde gelegt. Zur Begründung hat es sich auf die Einschätzungen des von ihm gehörten Sachverständigen [X.] und auf die Krankheitsschilderung des [X.] in der mündlichen Verhandlung gestützt (Urteil vom 14.8.2019).

4

Das L[X.] hat neben [X.] ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt. Anders als das [X.] hat der Sachverständige Dr. A die [X.] durch den Beklagten bestätigt. Das L[X.] hat den Kläger schriftlich zu Einzelheiten seiner Erkrankung angehört.

5

Mit Urteil vom 23.9.2020 hat es das [X.]-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Lebensführung des [X.] sei nicht, wie von der Versorgungsmedizinverordnung für einen GdB von 50 verlangt, durch erhebliche Einschnitte gravierend beeinträchtigt. Das ergebe sich unter anderem aus seinen schriftlichen Äußerungen im Berufungsverfahren.

6

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum B[X.] eingelegt. Das L[X.] habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und sei von der Rechtsprechung des B[X.] abgewichen.

7

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder der behauptete Verfahrensmangel (1.), noch eine Divergenz (2.) ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

8

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] 3 Halbsatz 1 [X.]G), so muss sie bei der Bezeichnung dieses [X.] (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegen.

9

Bereits diese erforderlichen Darlegungen der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen enthält die Beschwerde nicht. Es fehlt dafür an der zusammenhängenden, vollständigen und aus sich heraus verständlichen Darlegung des Streitgegenstands, der Verfahrens- und Prozessgeschichte sowie des vom L[X.] festgestellten Sachverhalts und damit der Umstände, die möglicherweise zu einem entscheidungsrelevanten Verfahrensfehler geführt haben. Es ist nicht Aufgabe des [X.], sich die erforderlichen Tatsachen aus dem Urteil und erst recht nicht aus den Verfahrensakten herauszusuchen (Senatsbeschluss vom 28.6.2018 - [X.] SB 53/17 B - juris Rd[X.] 5).

Der Kläger sieht sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach §§ 62, 128 Abs 2 [X.]G, Art 103 GG verletzt, weil das L[X.] seine Angaben zu den Folgen seines Diabetes mellitus allein aufgrund seiner schriftlichen Befragung im Berufungsverfahren anders gewertet habe als das [X.], ohne ihn erneut persönlich anzuhören. Wie er indes angibt, hat das Berufungsgericht sein Urteil ua auch auf ein von ihm eingeholtes Gutachten des Sachverständigen Dr. A gestützt. Auf dessen Inhalt geht der Kläger in der Beschwerdebegründung nicht näher ein, sondern teilt dazu nur eine Aktenfundstelle mit. Das Urteil des L[X.] zitiert er zudem lediglich ausschnittsweise, um seinen Vorwurf einer Gehörsverletzung zu untermauern. Der Gesamtzusammenhang der zitierten Passage und insbesondere ihre Verknüpfung mit dem vom Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten bleiben danach ebenso unklar wie der vollständige Inhalt der vom L[X.] eingeholten schriftlichen Äußerungen des [X.] zu den Auswirkungen seines Diabetes mellitus. Diese teilt er ebenfalls lediglich stichwortartig mit. Allein auf der Grundlage dieser Darlegungen kann der Senat aber den Vorwurf der Gehörsverletzung (vgl dazu Senatsbeschluss vom [X.] - [X.] V 11/19 B - juris Rd[X.] 10 mwN) nicht näher prüfen. Weder lässt sich anhand des lückenhaften Beschwerdevortrags beurteilen, ob das L[X.] die schriftlichen Äußerungen des [X.] in einer auch für einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten überraschenden Weise gewertet noch, ob es in der Zusammenschau mit den Äußerungen des von ihm gehörten Sachverständigen tragend darauf abgestellt hat.

Unabhängig davon hat das L[X.] nach dem Beschwerdevortrag nicht lediglich entgegen § 117 [X.]G die Einlassungen des [X.] vor dem [X.], das ihn als Beteiligten vernommen hat, anders gewertet als das erstinstanzliche Gericht (zur Zeugenvernehmung vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - B 7a [X.] 78/06 B - juris Rd[X.] 8 ff; B[X.] Beschluss vom 6.6.1989 - 12 BK 1/89 - [X.] 1750 § 398 [X.] 1 juris Rd[X.] 3; B[X.] Urteil vom 18.2.1988 - 6 [X.] 24/87 - B[X.]E 63, 43, 46 f = [X.] 2200 § 368 a [X.] 21 S 77 - juris Rd[X.] 16 sowie die in der Beschwerdebegründung zitierte Rechtsprechung des [X.] und des [X.]). Vielmehr hat das Berufungsgericht schriftliche Antworten des [X.] auf verschiedene Fragen zu den Auswirkungen seines Diabetes mellitus eingeholt. Er hätte angesichts dessen aufzeigen müssen, warum seine schriftliche Anhörung als Beteiligter als wiederholte Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz nicht ausreichte (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 157 Rd[X.] 2 ff mwN), zumal die Wiederholung der Anhörung ohnehin grundsätzlich entsprechend § 118 Satz 1 [X.]G iVm § 398 Abs 1 ZPO im Ermessen des Gerichts stand (vgl B[X.] Urteil vom [X.]/7a [X.] 14/07 R - [X.] 4-1500 § 128 [X.] 7 juris Rd[X.] 11 mwN). Seine Behauptung, das L[X.] habe ihn zu Unrecht als unglaubwürdig eingeschätzt, obwohl dies zwingend eine erneute persönliche Anhörung verlangt hätte, hat der Kläger nicht belegt. Aus der gerafften Mitteilung der entscheidungserheblichen Passagen des L[X.]-Urteils kann der Senat einen an den Kläger gerichteten Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Die mitgeteilte Einordnung seiner Angaben als "nicht verständlich" oder "schon verwunderlich" durch das L[X.] müssen je nach Kontext nicht zwingend als Kritik an seiner Glaubwürdigkeit, sondern können ebenso gut als Hinweis auf unauflösbare sachliche Widersprüche und damit auf fehlende Glaubhaftigkeit verstanden werden. Eine abschließende Einschätzung ist dem Senat insoweit auch deshalb verwehrt, weil der Kläger, wie ausgeführt, seine schriftlichen Äußerungen weder vollständig vorgelegt noch ausreichend wiedergegeben hat.

2. Soweit der Kläger dem L[X.] darüber hinaus vorwirft, es sei von der Senatsrechtsprechung zur GdB-Einschätzung des Diabetes mellitus abgewichen (vgl dazu zuletzt Senatsbeschluss vom 1.7.2020 - [X.] SB 5/20 B - juris Rd[X.] 8 mwN), fehlt es wiederum bereits an einer vollständigen Darlegung des entscheidungserheblichen Sachverhalts und der Prozessgeschichte. Erst sie würde die Einschätzung ermöglichen, ob das angegriffene Urteil auf der geltend gemachten Rechtsprechungsabweichung beruhen kann.

Unabhängig davon legt der Kläger auch sonst die Voraussetzungen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] 2 [X.]G) nicht substantiiert dar. Dafür wäre es erforderlich, entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des B[X.], des [X.] oder des [X.] andererseits gegenüberstellen und dazu auszuführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen. Erforderlich ist, dass das L[X.] einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (Senatsbeschluss vom 12.1.2017 - [X.] V 58/16 B - juris Rd[X.] 21 mwN).

Einen solchen abweichenden Rechtssatz des L[X.] legt der Kläger nicht dar. Vielmehr wirft er dem Berufungsgericht vor, es weiche mit seiner Einschätzung des Ausmaßes der Teilhabebeeinträchtigung durch den Diabetes mellitus von der Rechtsprechung des B[X.] ab. Damit wendet sich der Kläger aber letztlich gegen die mit der [X.] verbundene Rechtsanwendung des Berufungsgerichts gerade in seinem Fall. Die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung des L[X.] im Einzelfall ist aber nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (Senatsbeschluss vom 24.8.2017 - [X.] SB 24/17 B - juris Rd[X.] 16 mwN).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 [X.]G).

4. [X.] beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 9 SB 64/20 B

11.06.2021

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Koblenz, 14. August 2019, Az: S 9 SB 109/18, Urteil

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 117 SGG, § 118 S 1 SGG, § 128 SGG, § 398 Abs 1 ZPO, § 152 Abs 1 S 1 SGB 9 2018, § 2 VersMedV, Anlage Teil B Nr 15.1 VersMedV, Art 103 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 11.06.2021, Az. B 9 SB 64/20 B (REWIS RS 2021, 5059)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5059

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 SB 5/20 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Diabetes …


B 9 SB 2/13 R (Bundessozialgericht)

Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Diabetes mellitus - GdB von 50 - Insulintherapie - Gesamtbetrachtung der …


B 9 SB 71/19 B (Bundessozialgericht)

(Nichtzulassungsbeschwerde - Divergenz - Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Verkennung der Bedeutung der Dokumentation für die …


B 9 SB 3/12 R (Bundessozialgericht)

Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - GdB von 50 - Diabetes mellitus - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Heranziehung …


B 9 SB 26/19 B (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Antrag auf Parteivernehmung kein prozessordnungsgemäßer Beweisantrag nach § …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.