Bundessozialgericht, Urteil vom 16.12.2014, Az. B 9 SB 2/13 R

9. Senat | REWIS RS 2014, 328

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - GdB-Feststellung - Diabetes mellitus - GdB von 50 - Insulintherapie - Gesamtbetrachtung der Beeinträchtigung der Teilhabe in allen Lebensbereichen - besonderes berufliches Betroffensein irrelevant - erhebliche Einschnitte und gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung - Einschränkungen bei Reisen, Teilnahme an Veranstaltungen und Nahrungsaufnahme


Leitsatz

1. Zur Beurteilung des Vorliegens einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung bedarf es einer Gesamtbetrachtung der Einschnitte, die den behinderten Menschen in allen Lebensbereichen beeinträchtigen.

2. Ein eventuelles besonderes berufliches Betroffensein ist für den GdB irrelevant.

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 15. November 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 festzustellen ist.

2

Der 1968 geborene Kläger beantragte wegen eines insulinpflichtigen Diabetes Mellitus Typ 1 am 4.10.2001 erstmalig die Feststellung einer Behinderung. Daraufhin stellte das beklagte Land bei ihm wegen dieses Leidens einen GdB von 40 fest (Bescheid vom 23.11.2001). Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24.9.2002; Urteil des [X.] vom 12.2.2004). Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen. Zur Begründung hat es angeführt, der Kläger sei durch sein einziges Leiden (Diabetes mellitus) nicht gravierend in seiner gesamten Lebensführung beeinträchtigt. Erhebliche Einschränkungen seien nur hinsichtlich der Berufsausübung festzustellen. Insoweit sei zwar der Kernbereich der Erfüllung der dem Kläger obliegenden Pflichten betroffen; er habe aber seine Tätigkeit nicht aufgeben müssen, sondern könne ihr unter modifizierten Bedingungen nachgehen. In allen anderen Lebensbereichen seien keine gravierenden Einschränkungen gegeben. Der insoweit festzustellende erhöhte Planungs- und Organisationsaufwand bei zahlreichen Freizeitaktivitäten beruhe auf den täglich mindestens vier Insulininjektionen (mit jeweils selbständiger Dosisanpassung). Selbst gravierende Beeinträchtigungen in einem Lebensbereich seien nicht geeignet, eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung im gesamten gesellschaftlichen Leben hervorzurufen. Schließlich werde der Kläger nicht zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität eingeschränkt (Urteil vom 15.11.2012).

3

Mit seiner - vom L[X.] zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das L[X.] habe die Anforderungen an die Bejahung einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung überspannt, indem es hierfür erhebliche Einschnitte in mehreren Lebensbereichen verlange. Hinzu komme, dass das L[X.] weitere Einschränkungen zwar zutreffend festgestellt, aber nicht hinreichend gewürdigt habe.

4

Der Kläger beantragt,
die Urteile des [X.] vom 15.11.2012 und des [X.] vom 12.2.2004 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei dem Kläger für die [X.] ab dem 4.10.2001 einen GdB von mindestens 50 festzustellen.

5

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Revision zurückzuweisen.

6

Er hält das Urteil des L[X.] für zutreffend und stützt sich dabei auf die bisherige Senatsrechtsprechung.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision des [X.] ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).

8

1. Der Kläger erstrebt mit seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 SGG - siehe zur statthaften [X.] zuletzt [X.] vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 24 mwN) die Verpflichtung des beklagten [X.], unter Abänderung des Bescheids vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 (§ 95 SGG) mit Wirkung ab dem 4.10.2001 den GdB mit mindestens 50 festzustellen. Da es sich nicht um einen punktuellen oder nur auf die Zukunft bezogenen Streitgegenstand handelt, kommt es - entgegen dem insoweit zu engen Obersatz des [X.] - maßgebend auf die Sach- und Rechtslage im gesamten [X.]raum vom 4.10.2001 bis zum 15.11.2012 (Tag der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz) an.

9

2. Die Revision ist nicht erfolgreich, da der Kläger für diesen [X.]raum keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines höheren GdB als 40 hat. Der angefochtene Bescheid des beklagten [X.] vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.9.2002 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

a) Rechtsgrundlage für den Anspruch des [X.] auf Feststellung eines GdB für die [X.] ab 4.10.2001 ist § 69 Abs 1 und 3 [X.] idF vom 19.6.2001 ([X.] 1046), für die [X.] ab 1.5.2004 idF des [X.] ([X.] 606), für die [X.] ab 21.12.2007 idF des [X.] ([X.] 2904) und für die [X.] ab 1.7.2011 idF des [X.] ([X.] 1114). Nach § 69 Abs 1 S 1 [X.] (in den genannten Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes ([X.]) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB in einem besonderen Verfahren fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 S 3 (bzw idF seit 1.5.2004: [X.]) [X.] die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der [X.] nach [X.] abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs 1 [X.] (bzw idF seit 1.5.2004: [X.]) [X.] aF galten bis zum 20.12.2007 (nur) die im Rahmen des § 30 Abs 1 [X.] festgelegten Maßstäbe entsprechend. Durch diesen Verweis stellte § 69 [X.] aF auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, [X.] die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" ([X.]) waren. Gemäß § 69 Abs 1 [X.] [X.] wird seit dem 21.12.2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs 17 (bzw Abs 16) [X.] erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 [X.] ([X.] ) Bezug genommen, sodass seit 1.1.2009 die [X.] ([X.] 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der [X.] vom 11.10.2012 ([X.] 2122), anstelle der [X.] Grundlage für die Feststellung des GdB ist (vgl auch [X.] vom [X.] - [X.] SB 4/08 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] Rd[X.] f). Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "[X.] Grundsätze" ([X.]) erlassen worden, in denen ua die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen ([X.]) iS des § 30 Abs 1 [X.] festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend, weil beide Begriffe - insoweit übereinstimmend - ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und [X.] Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens bilden (vgl Teil A Nr 2 [X.]). Die [X.] und die zum 1.1.2009 in [X.] getretene [X.] stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (stRspr: zuletzt [X.] vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 28; vgl ferner etwa Urteil vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 25 mwN). Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der [X.] nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die [X.] auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des [X.] zu entwickeln (vgl [X.] aaO RdNr 28; [X.] vom 29.8.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - [X.], 204, 208 f = [X.] 3-3870 § 4 Nr 1 [X.] f).

Die Bemessung des GdB ist nach ständiger Rechtsprechung des [X.] grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl Urteil vom 29.11.1956 - 2 [X.] 121/56 - [X.]E 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 - 9a RVs 5/86 - [X.]E 62, 209, 212 f = [X.] 3870 § 3 [X.] f; Urteil vom [X.] - [X.] SB 4/08 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 23 mwN). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom [X.] die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets §§ 2 Abs 1, 69 Abs 1, 3 [X.] (vgl [X.] aaO Rd[X.] bis 21 mwN); maßgebend sind danach die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der [X.] (zuletzt [X.] vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 30 mwN).

b) Der [X.] hat sich in den letzten Jahren bereits in etlichen Revisionsurteilen zur [X.] geäußert. Aufgrund dieser gefestigten Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, sind die sich in diesem Zusammenhang stellenden Rechtsfragen weitestgehend geklärt (kurz zusammengefasst im [X.]surteil vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 31).

Formal betrachtet sind nach dem oben Gesagten für die [X.] ab Stellung des Feststellungsantrags durch den Kläger am 4.10.2001 zunächst bis zum Ende des Jahres 2008 die [X.] (Ausgaben 1996, 2004, 2005 und 2008) und für die [X.] ab dem 1.1.2009 die VersMedV idF vom 10.12.2008 bzw der fünf seitdem erlassenen Änderungsverordnungen heranzuziehen. Der [X.] hat jedoch bereits entschieden, dass diese Vorschriften teilweise nicht zur [X.] bei Diabetes mellitus geeignet, teilweise sogar wegen Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht nichtig sind (Urteil vom [X.] - [X.] SB 3/08 R - Juris RdNr 25 ff mwN). Insoweit kann letztlich - wie im Urteil des [X.] geschehen - für den gesamten Streitzeitraum auf die Neufassung der Vorschrift Teil [X.] 15.1 [X.] vom [X.] zurückgegriffen werden (so schon [X.]surteil vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 32 mwN). Für die [X.] ab dem [X.] ist diese Regelung ohnehin unmittelbar zur [X.] bei Diabetes mellitus anwendbar. Der [X.] hat nach wie vor keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Bestimmungen nicht mehr dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen könnten (siehe schon [X.] aaO RdNr 35 mwN).

Die danach allein maßgebende Rechtsgrundlage hat folgenden Wortlaut:

        

15.1 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).

        

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den [X.] keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines [X.] rechtfertigt. Der [X.] beträgt 0.

        

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den [X.] eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der [X.] beträgt 20.

        

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des [X.]s und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der [X.] beträgt 30 bis 40.

        

Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses [X.]s eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die [X.] und [X.] (beziehungsweise [X.] über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der [X.] beträgt 50.

        

Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere [X.]-Werte bedingen.

Was den entscheidungserheblichen Lebenssachverhalt angeht, bleibt es demgegenüber dabei, dass der tatsächliche Verlauf der Funktionsstörungen infolge des Diabetes mellitus im gesamten [X.]raum seit dem 4.10.2001 zu berücksichtigen ist. Denn die Verpflichtungsklage des [X.] ist nicht nur in die Zukunft gerichtet, sondern erstreckt sich auch auf die Feststellung eines (höheren) GdB für die Vergangenheit. Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] ist indes mit (noch) hinreichender Klarheit zu entnehmen, dass insofern keine wesentlichen Veränderungen eingetreten sind. Die tatsächlichen Feststellungen zu den eingetretenen Teilhabebeeinträchtigungen beziehen sich auf den gesamten streitgegenständlichen [X.]raum.

Für die hier streitige Feststellung eines GdB von (mindestens) 50 enthält Teil [X.] 15.1 Abs 4 [X.] drei Beurteilungskriterien: täglich mindestens vier Insulininjektionen, selbständige Variierung der Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung durch erhebliche Einschnitte. Diese Kriterien sind nach Auffassung des [X.]s nicht jeweils gesondert für sich genommen starr anzuwenden; vielmehr sollen sie eine sachgerechte Beurteilung des [X.] erleichtern (so schon [X.] vom 25.10.2012 - [X.] SB 2/12 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 34).

Das [X.] hat die beiden erstgenannten, auf den [X.] bezogenen Beurteilungskriterien als erfüllt angesehen. Dagegen ist revisionsrechtlich nichts einzuwenden.

Zu Recht geht das Berufungsurteil weiter davon aus, dass dies allein nicht ausreicht, um den GdB mit (mindestens) 50 festzustellen. Vielmehr muss die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes mellitus auch insgesamt gesehen erheblich in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sein. Der [X.] hat bereits in mehreren Entscheidungen ausführlich dargelegt und begründet, dass und warum es sich hierbei trotz des insoweit missverständlichen Wortlauts des letzten Teilsatzes von Teil [X.] 15.1 Abs 4 [X.] um eine zusätzlich zu erfüllende Anforderung handelt (zuletzt im Urteil vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris RdNr 39 ff mwN; siehe auch Urteil vom 25.10.2012 - [X.] SB 2/12 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 37 ff mit insoweit zustimmender [X.], [X.] 2013, 647, 653 f). Das kommt bereits durch die Verwendung des Wortes "und" deutlich zum Ausdruck. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber, der ausdrücklich an die vorausgegangene [X.]srechtsprechung angeknüpft hat (siehe [X.]), davon ausgegangen ist, dass bei einem entsprechenden [X.] immer eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegt. Zudem ist für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam (vgl Teil [X.] 15.1 Abs 3 [X.]; grundlegend [X.] vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 40). Der darin zum Ausdruck kommende Therapieerfolg kann aber nur im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden.

Vor diesem Hintergrund hat das [X.] ohne durchgreifenden Rechtsfehler verneint, dass der Kläger durch erhebliche Einschnitte gravierend in seiner Lebensführung beeinträchtigt ist. Bei der insoweit erforderlichen am Einzelfall orientierten Beurteilung, die alle die Teilhabe am Leben in der [X.] beeinflussenden Umstände berücksichtigt, lässt sich bei dem Kläger auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des [X.], an die der [X.] mangels entsprechender Verfahrensrügen gebunden ist (§ 163 SGG), keine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung konstatieren.

Allerdings teilt der [X.] nicht die Auffassung des [X.], eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung iS von Teil [X.] 15.1 Abs 4 [X.] komme aus Rechtsgründen nur in Betracht, wenn die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führenden erheblichen Einschnitte mindestens zwei verschiedene Lebensbereiche betreffen. Dagegen spricht schon der Wortlaut der genannten Norm, der eine solche differenzierende Betrachtungsweise nicht nahelegt. Auch in der Begründung der Neufassung wird lediglich beispielhaft auf verschiedene Bereiche hingewiesen (Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten, Berufsausübung und Mobilität; vgl [X.]). Schließlich gebietet auch die Vereinbarkeit der Regelung mit höherrangigem Recht ein weiteres Verständnis, das eine Gesamtbetrachtung der Teilhabebeeinträchtigung ermöglicht. Denn schon die gesetzliche Vorschrift, die die Maßstäbe für die Feststellung des GdB enthält (vgl den Verweis in § 69 Abs 1 [X.] [X.] aF), gibt vor, dass die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen "in allen Lebensbereichen" zu ermitteln und zu berücksichtigen sind (§ 30 Abs 1 [X.]). Auch der in § 2 Abs 1 S 1 [X.] definierte Begriff der Behinderung setzt nur voraus, dass die "Teilhabe am Leben in der [X.]" in irgendeiner Form beeinträchtigt ist - ohne dass nach einzelnen Bereichen differenziert würde. Dies entspricht der Finalität des modernen Behinderungsbegriffs (vgl dazu [X.] vom [X.] - [X.] SB 4/08 R - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 20, 30 ff; [X.], [X.] 2010, 373, 378). Schließlich hält der [X.] den Lösungsansatz des [X.] auch nicht für praktikabel, weil keine rechtlichen Maßstäbe für die Abgrenzung von "Lebensbereichen" existieren. Dem Gebot der Rechtssicherheit wäre nur Genüge getan, wenn sich nach abstrakten, vorhersehbaren Kriterien bestimmen ließe, ob etwa die oben aus der Verordnungsbegründung zitierten Aktivitäten jeweils eigene Lebensbereiche darstellen oder nicht. Dazu verhält sich das Berufungsurteil nicht; es stellt der Berufsausübung nur noch den Oberbegriff "Freizeit- bzw. Mobilitätsbereich" gegenüber.

Bei der demnach anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche lässt sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen (aA wohl [X.], [X.] 2013, 647, 654). Das zeigt sich schon an der Formulierung der Vorschrift, die eine für einen Normtext seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält (erheblich, gravierend, ausgeprägt). In diesem Zusammenhang hat der Beklagte zu Recht auf die Systematik der Regelung der Teil [X.] 15.1 [X.] hingewiesen, die diese Wortwahl erklärt. Dem Verordnungsgeber ging es ersichtlich darum, mit jedem Absatz eine Steigerung der Anforderungen zu verdeutlichen (der auf der [X.] jeweils ein höherer GdB gegenübersteht). Weiterhin lässt sich aus dem oben dargestellten Zusammenspiel der drei Beurteilungskriterien der Teil [X.] 15.1 Abs 4 [X.] ableiten, dass die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte nicht geeignet sind, eine zusätzliche ("und") gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. [X.] ist daher nur ein dieses hohe Maß noch übersteigender, besonderer [X.]. Daneben kann - wie oben ausgeführt - ein unzureichender Therapieerfolg die Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung rechtfertigen. Schließlich sind auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten.

Gemessen an diesen Kriterien ist das Berufungsurteil im Ergebnis nicht zu beanstanden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.] muss der Kläger bis zu sechs Insulininjektionen am Tag vornehmen und dabei - nach entsprechender Blutzuckermessung - auch die jeweilige Dosis anpassen. Unbeschadet des damit verbundenen, die Lebensführung einschränkenden [X.]s wird der Kläger nicht noch zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in seiner Leistungsfähigkeit und damit in seiner Teilhabefähigkeit am Leben in der [X.] erheblich beeinträchtigt. Trotz des Entstehens von [X.] ist es bisher fast nie zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe gekommen. Die Erkrankung hat nicht zu nennenswerten [X.]en von Arbeitsunfähigkeit oder stationärer Behandlungsbedürftigkeit geführt. Die den Kläger ambulant behandelnden Ärzte haben nach den Feststellungen des [X.] durchgehend eine "sehr gute Stoffwechseleinstellung berichtet". Folgeschäden an anderen Organen sind bislang nicht aufgetreten. Betrachtet man schließlich die erkrankungsbedingten Beeinträchtigungen in der konkreten Lebensführung des [X.], so hat das [X.] keine hinreichend gewichtigen Einschnitte festgestellt, um eine gravierende Einschränkung der Teilhabe am Leben in der [X.] in seiner Gesamtheit annehmen zu können. Einzelne Ausfallzeiten infolge von [X.] sind unvermeidbare Folge des Diabetes mellitus und können angesichts des insgesamt überdurchschnittlichen Therapieerfolgs keine besondere Beeinträchtigung darstellen. Die vom [X.] festgestellten Einschränkungen bei (privaten oder zwingenden dienstlichen) Reisen, beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen und bei der Nahrungsaufnahme bedeuten nicht nur eine signifikante, sondern eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung (vgl Teil [X.] 15.1 Abs 2, 3 [X.]). Das Ausmaß einer darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung (Teil [X.] 15.1 Abs 4 [X.]) erreichen sie hingegen nicht.

Entgegen der Revision führt auch nicht etwa der Umstand, dass der Kläger nach den Feststellungen des [X.] gerade in seiner Berufsausübung gravierend beeinträchtigt ist, zu einem anderen Ergebnis. Vielmehr erlaubt die zur Prüfung des Vorliegens einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung anzustellende Gesamtbetrachtung der Einschnitte, die den behinderten Menschen in seiner Lebensführung beeinträchtigen, eine wechselseitige Kompensation von durch Krankheitsfolgen gestörten und ungestörten Aktivitäten. Den allgemeinen Grundsätzen des Schwerbehindertenrechts entspricht es, die Auswirkungen von Funktionsstörungen in allen Lebensbereichen zu berücksichtigen. Dies geschieht mit gleicher Gewichtung, ohne dass - wie in der Revisionsbegründung vorgeschlagen - die existenzielle Bedeutung einer Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen wäre. Das ergibt sich schon im Umkehrschluss aus § 30 Abs 2 [X.], wonach der auf der Grundlage des § 30 Abs 1 [X.] iVm der VersMedV ermittelte [X.] höher zu bewerten ist, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in ihrem Beruf besonders betroffen sind. Auf diese Regelung wird jedoch in § 69 Abs 1 [X.] für die GdB-Feststellung gerade nicht verwiesen. Demzufolge wird in den allgemeinen Grundsätzen des Teils A Nr 2 b [X.] zutreffend davon ausgegangen, dass der GdB grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten oder angestrebten Beruf zu beurteilen ist.

Was die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft angeht, hat das [X.] zu Recht auf deren allgemeine Beschreibung in den einleitenden Teilen der [X.] bzw der [X.] verwiesen. Insofern bietet sich für die Maßstabsbildung ein Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen an, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 fest vorgegeben ist. Die tatrichterliche Einschätzung, dass der Kläger nicht in ähnlich gravierender Weise in seiner Lebensführung eingeschränkt ist, wie die im Berufungsurteil als Vergleichsgruppe herangezogenen Personen (behinderte Menschen mit einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, einem Verlust eines Beins im Unterschenkel oder einer Aphasie (Sprachstörung) mit deutlicher Kommunikationsstörung), begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Wollte man dagegen bei der Prüfung des Teils [X.] 15.1 Abs 4 [X.] geringere Anforderungen an die Anerkennung einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung stellen, käme es insoweit zu Wertungswidersprüchen innerhalb der [X.].

Abschließend lässt sich auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des [X.] auch ausschließen, dass der GdB des [X.] wegen außergewöhnlich schwer regulierbarer Stoffwechsellagen im Sinne von Teil [X.] 15.1 Abs 5 [X.] einen Wert von (mindestens) 50 erreicht.

3. [X.] beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 9 SB 2/13 R

16.12.2014

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Magdeburg, 12. Februar 2004, Az: S 12 SB 169/02, Urteil

Anlage Teil B Nr 15.1 Abs 4 VersMedV, Anlage Teil B Nr 15.1 Abs 1 VersMedV, Anlage Teil B Nr 15.1 Abs 2 VersMedV, Anlage Teil B Nr 15.1 Abs 3 VersMedV, Anlage Teil A Nr 2 Buchst b VersMedV, § 2 VersMedV, § 69 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 1 S 3 SGB 9, § 2 Abs 1 S 1 SGB 9

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 16.12.2014, Az. B 9 SB 2/13 R (REWIS RS 2014, 328)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 328

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