Bundessozialgericht, Beschluss vom 20.09.2023, Az. B 4 AS 44/23 B

4. Senat | REWIS RS 2023, 6719

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Beschwerdefrist - Monatsfrist ab Zustellung der Berufungsentscheidung - Verfahrensfehler - Zurückverweisung


Leitsatz

Für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gilt die Monatsfrist ab Zustellung der Berufungsentscheidung unabhängig davon, wie viel Zeit zwischen deren Verkündung und deren Zustellung vergangen ist.

Tenor

Auf die Beschwerde des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 8. Juni 2022 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Die Beschwerde des Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere - entgegen der Auffassung des [X.] - fristgemäß eingelegt worden. Die Monatsfrist beginnt nach § 160a Abs 1 Satz 2 [X.] ausdrücklich "nach Zustellung des Urteils" und nicht nach dessen Verkündung. § 160a Abs 1 Satz 2 [X.] ist lex specialis, so dass ein Rückgriff auf § 544 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO, wonach die Nichtzulassungsbeschwerde spätestens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen ist, nicht möglich ist (vgl Söhngen in [X.], [X.], § 202 Rd[X.] 49, Stand Februar 2016). Die Nichtzulassungsbeschwerde und damit auch die heute in § 544 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO enthaltene Regelung (zwischen dem 1.1.2002 und dem 31.12.2019: § 544 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO) ist im zivilgerichtlichen Verfahren erst mit Wirkung zum 1.1.2002 eingeführt worden (durch Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom [X.], [X.] 1887). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass durch die Einfügung dieser Regelung in die ZPO zugleich die bereits seit dem [X.] geltende Regelung des § 160a Abs 1 Satz 2 [X.] modifiziert werden sollte. Im Gegenteil: Obwohl der Gesetzgeber zeitgleich § 160a [X.] geändert hat (durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom [X.], [X.] 2144), hat er die Fristenregelung des § 544 ZPO nicht in das [X.] übernommen. Die durch die Zustellung des Urteils des [X.] an den Beklagten am [X.] beginnende Frist endete damit gemäß § 64 Abs 2 Satz 1, Abs 3 [X.] am 2.5.2023 (Dienstag); diese Frist ist durch die Beschwerdeschrift, die beim BSG am 24.4.2023 als elektronisches Dokument eingegangen ist, gewahrt.

2

Die Beschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das [X.]. Der vom Beklagten in der Beschwerdebegründung (§ 160a Abs 2 [X.]) ausreichend bezeichnete Verfahrensmangel - Verletzung des § 136 Abs 1 [X.] [X.] - liegt vor. Obwohl das Berufungsurteil Entscheidungsgründe enthält, ist es nicht iS des § 547 [X.] ZPO, der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 Satz 1 [X.]), mit Gründen versehen.

3

Denn dem Fehlen von Gründen wird nach der Rechtsprechung die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgesetzt. Nach § 134 Abs 2 Satz 1 [X.] soll das Urteil bereits vor Ablauf eines Monats, vom [X.] an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übergeben werden. Hierbei handelt es sich jedoch um eine sogenannte Soll-Vorschrift; ein Verstoß gegen diese Regel ist grundsätzlich unschädlich ([X.] [X.] RJ 41/03 R - [X.], 283 = [X.]-1500 § 120 [X.] 1, Rd[X.] 4). Dagegen ist ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des [X.] vom 27.4.1993 - GmS-OGB 1/92 - [X.] 3-1750 § 551 ZPO [X.] 4 S 8 f = juris Rd[X.] 8; [X.] [X.] RJ 41/03 R - [X.], 283 = [X.]-1500 § 120 [X.] 1, Rd[X.] 4 mwN; BSG vom 18.6.2014 - B 3 P 5/14 B - juris Rd[X.] 4).

4

Vorliegend ist das Urteil des [X.] im [X.] an die mündliche Verhandlung am [X.] verkündet worden. Aus den Vermerken und Verfügungen in der Akte des [X.] ergibt sich, dass das Berufungsgericht seine Akte anschließend zunächst der Staatsanwaltschaft [X.] vorgelegt hat, weil sich im Nachgang zur mündlichen Verhandlung der Verdacht zweier falscher uneidlicher Aussagen und eines (versuchten) [X.] ergeben habe. Die Akten gingen im Oktober 2022 wieder beim [X.] ein. Das von den Berufsrichtern unterschriebene Urteil ist sodann auf der Geschäftsstelle des [X.] erst am [X.] eingegangen und wurde den Beteiligten am selben Tag zugestellt. Damit ist die Fünf-Monats-Frist eindeutig überschritten worden; maßgeblich ist insofern der Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle ([X.] vom 18.6.2014 - B 3 P 5/14 B - juris Rd[X.]).

5

Das Fehlen der Entscheidungsgründe iS des § 547 [X.] ZPO führt als unbedingter (absoluter) Revisionsgrund grundsätzlich immer zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung. Ob im Revisionsverfahren etwas anderes gelten würde, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet wäre (vgl zu dieser Diskussion [X.] [X.] RJ 41/03 R - [X.], 283 = [X.]-1500 § 120 [X.] 1, Rd[X.] 10 f), kann hier schon deswegen dahinstehen, weil es mangels rechtlich verwertbarer Entscheidungsgründe an Tatsachenfeststellungen fehlt, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglichen würden. Der Ausgang des Verfahrens hängt vielmehr unter anderem von einer Beweiswürdigung ab, die dem [X.] obliegt. Der Senat macht daher von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 [X.] Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Dabei übt er das ihm nach § 202 Satz 1 [X.] iVm § 563 Abs 1 Satz 2 ZPO zustehende Ermessen ([X.] vom 2.11.2007 - B 1 KR 72/07 B - [X.]-1100 Art 101 [X.] 3 Rd[X.] 14; Voelzke in [X.]/Voelzke, jurisPK-[X.], 2. Aufl 2022, § 160a Rd[X.] 230) aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls dahingehend aus, die Sache an einen anderen Senat des [X.] zurückzuverweisen.

6

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

        

Söhngen

B. Schmidt

Burkiczak

Meta

B 4 AS 44/23 B

20.09.2023

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Dresden, 24. Juni 2020, Az: S 51 AS 3564/19

§ 134 Abs 2 S 1 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 1 S 2 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 SGG, § 544 Abs 3 S 1 Halbs 2 ZPO, § 547 Nr 6 ZPO, § 563 Abs 1 S 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 20.09.2023, Az. B 4 AS 44/23 B (REWIS RS 2023, 6719)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6719

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