Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2010, Az. B 2 U 145/10 B

2. Senat | REWIS RS 2010, 3165

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - rechtliches Gehör - Erfordernis erneuter Anhörungsmitteilung - Frist zur Abgabe einer weiteren Stellungnahme


Leitsatz

Weist das LSG nach einer Stellungnahme des Klägers zu einer beabsichtigten Entscheidung über die Berufung durch Beschluss darauf hin, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", muss es eine ausreichende Frist für eine erneute Stellungnahme einräumen.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers werden der Beschluss des [X.] vom 14. April 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztenrente für die [X.] bis zum 23.5.2004. Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19.9.2006). Im Berufungsverfahren hat das [X.] dem Kläger mit Schreiben vom [X.] mitgeteilt, dass eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 [X.]G vorgesehen sei und hierzu bis zum [X.] Stellung genommen werden könne. Mit Schriftsatz vom [X.], per Fax am selben Tag beim [X.] eingegangen, hat der Kläger der beabsichtigten Entscheidung widersprochen und eine weitere Beweiserhebung beantragt. Daraufhin hat das [X.] mit einem den Prozessbevollmächtigten des [X.] am 13.4.2010 zugegangenen Schreiben vom [X.] mitgeteilt, dass es auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt". Mit am 16.4.2010 zugestelltem Beschluss vom 14.4.2010 hat es die Berufung zurückgewiesen.

2

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das [X.] habe durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne zuvor erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.

3

II. [X.] ist zulässig und begründet.

4

[X.]begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G iVm § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G) ergibt. [X.]begründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

5

Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör wegen Verstoßes gegen § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G verletzt, wonach die Beteiligten vor Erlass einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G zu hören sind. Der Verstoß gegen diese Verfahrensvorschrift besteht darin, dass dem Kläger keine angemessene Frist zur Stellungnahme auf das gerichtliche Schreiben vom [X.] eingeräumt war.

6

Nach § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G kann das [X.] die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet, eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des [X.] kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 [X.]G) ist. Die Beteiligten sind gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs, dem nur Genüge getan ist, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung [X.]) als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird (B[X.] vom [X.] - B 13 RS 9/09 B - Juris RdNr 12 mwN).

7

§ 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G schreibt nicht vor, dass das Gericht eine Frist zur Stellungnahme zu bestimmen hat und welche Frist zumindest einzuräumen wäre. [X.] es erstmals auf die Absicht hin, die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, muss eine [X.] allerdings so bemessen sein, dass dem Betroffenen ausreichend [X.] zur Einholung rechtlichen und ggf medizinischen Rats sowie zur Abfassung seiner Äußerung bleibt (B[X.] vom [X.] - B 5 R 386/07 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.] RdNr 15). Macht ein Beteiligter von der Gelegenheit zur Äußerung Gebrauch, ist das Berufungsgericht nicht in jedem Fall zu einer weiteren Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G verpflichtet. Es braucht insbesondere nicht auf ein Vorbringen zu reagieren, das nicht entscheidungserheblich oder unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird. Eine neue Anhörungsmitteilung mit der Möglichkeit zur Äußerung in einer angemessenen Frist muss aber dann ergehen, wenn nach einer (ersten) Anhörungsmitteilung weiter vorgetragen und ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird, das Berufungsgericht gleichwohl unter Würdigung des neuen Vorbringens an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und dem Beweisantrag nicht nachzugehen (B[X.] vom [X.] aaO RdNr 13 mwN). Anhörungsmitteilungen iS des § 153 Abs 4 Satz 2 [X.]G müssen für die Beteiligten unmissverständlich sein. Aus ihnen muss unzweifelhaft hervorgehen, dass nicht nur auf die Absicht, im Wege des Beschlusses ohne mündliche Verhandlung über die Berufung zu entscheiden, hingewiesen wird, sondern auch Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden soll. Erscheint aus der objektiven Sicht eines sorgfältig handelnden Beteiligten die Möglichkeit zur weiteren Stellungnahme nicht ausgeschlossen, muss hierfür eine ausreichende [X.] zur Verfügung stehen.

8

Es kann dahingestellt bleiben, ob auf den Schriftsatz des [X.] vom [X.] eine weitere Anhörungsmitteilung zu ergehen hatte. Es kann auch offen bleiben, ob das [X.] mit seinem Schreiben vom selben Tag eine erneute Gelegenheit zur Äußerung einräumen wollte. Aufgrund der Mitteilung, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", konnte der Kläger jedenfalls davon ausgehen, dass das [X.] nicht nur an der beabsichtigten Verfahrensweise, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, festhalten, sondern zudem entsprechend dem früheren Hinweis die Möglichkeit zur (erneuten) Stellungnahme gewähren wollte. Hierfür stand dem Kläger keine angemessene Äußerungsfrist zur Verfügung. Welche Frist vorliegend als angemessen zu gelten hätte, bedarf hier keiner Entscheidung. Von einer angemessenen Äußerungsfrist kann jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn unter Berücksichtigung der Postlaufzeiten der angegriffene Beschluss - wie hier - bereits acht Tage nach dem Ausstellungstag des Anhörungsschreibens dem Beteiligten zugeht.

9

Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Anhörung noch Gründe vorgetragen hätte, die dem [X.] zumindest Veranlassung gegeben hätten, seinem Vortrag weiter nachzugehen, und dass es - ggf auch nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung - aufgrund neuer Erkenntnisse zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Angesichts dieses [X.] können die vom Kläger außerdem erhobenen [X.] dahingestellt bleiben.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vor, kann das [X.] auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 145/10 B

21.09.2010

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Ulm, 19. September 2006, Az: S 2 U 118/04

§ 62 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.09.2010, Az. B 2 U 145/10 B (REWIS RS 2010, 3165)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3165

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