Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.08.2021, Az. XIII ZB 58/20

13. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 10118

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Abschiebungshaftsache: Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens durch Anhörung des Betroffenen und Haftanordnung ohne anwaltliche Vertretung


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des [X.] vom 4. August 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Antrag des Betroffenen auf Feststellung, dass der Beschluss des [X.] vom 13. Juli 2020 ihn in seinen Rechten verletzt hat, zurückgewiesen worden ist.

Es wird festgestellt, dass der Betroffene durch die in dem Beschluss des [X.] vom 13. Juli 2020 angeordnete Haft in seinen Rechten verletzt worden ist.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, hält sich seit 2015 in [X.] auf. Er verfügte nach Ablehnung seines Asylantrags über eine bis 14. Juli 2020 befristete Duldung. Am 2. Juli 2020 wurde er aus [X.] kommend an der Bundesgrenze aufgegriffen, wobei er sich nur mit einem [X.] Führerschein ausweisen konnte. Die Einreise wurde ihm verweigert. Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 3. Juli 2020 wurde ohne Anhörung des Betroffenen vorläufig bis zum 17. Juli 2020 [X.] angeordnet.

2

Mit am 9. Juli 2020 eingegangenem Schriftsatz zeigte ein Rechtsanwalt die Vertretung des Betroffenen an. Am Morgen des 13. Juli 2020 terminierte das Amtsgericht die Anhörung des Betroffenen auf den gleichen Tag um 14.30 Uhr. Die beteiligte Behörde stellte sodann einen Antrag auf Anordnung der Freiheitsentziehung zur Sicherung der [X.] bis zum 18. September 2020. Nachdem dem [X.] die Vertretungsanzeige vom 9. Juli 2020 mittags vorgelegt worden war, wurde der Verfahrensbevollmächtigte per Telefax zu dem Termin um 14.30 Uhr geladen. Er beantragte Terminsverlegung, weil er angesichts der Entfernung in der Kürze der [X.] nicht teilnehmen könne.

3

Das Amtsgericht hat den Betroffenen gleichwohl angehört und Haft bis zum 18. September 2020 angeordnet. Das Beschwerdegericht hat den Betroffenen im Beisein seines Verfahrensbevollmächtigten am 30. Juli 2020 angehört. Mit Beschluss vom 4. August 2020 hat es die Haft gegen eine [X.] außer Vollzug gesetzt und die weitergehende - auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichtete - Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

4

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, fehlerhaft habe das Amtsgericht zwar dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen die Teilnahme an der Anhörung nicht ermöglicht. Der Betroffene habe sich aber vollständig und [X.] selbst vertreten können. Auch bei der Anhörung im Beschwerdeverfahren seien keine weiteren sachdienlichen Argumente vorgetragen worden. Der Verfahrensfehler sei daher für die Entscheidung nicht ursächlich geworden. Bei zusammenfassender Abwägung und Berücksichtigung der verfahrensbezogenen Umstände sei die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Anordnung von [X.]n geeignet, der Besonderheit des Falls Rechnung zu tragen. Wie der Betroffene im Rahmen seiner Anhörung dargestellt habe, sei seine Ausreise und versuchte Wiedereinreise erfolgt, um von tragischem Schicksal getroffener Verwandtschaft Unterstützung zu leisten. Auch spreche für den Betroffenen, dass er sich bei seinem fünfjährigen illegalen Aufenthalt zumindest nicht nachweislich eines strafbaren Vergehens schuldig gemacht habe. Zuletzt verblieben hinsichtlich der tatsächlichen Durchführbarkeit der Abschiebung gerichtsbekannt Zweifel.

6

2. Die Zurückweisung der Beschwerde hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat durch seine Verfahrensgestaltung bei Anordnung der Haft das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt. Auf seinen Antrag ist deshalb festzustellen, dass der Vollzug der Haftanordnung vom 13. Juli 2020 ihn in seinen Rechten verletzt hat.

7

a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (st. Rspr., vgl. [X.], Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - [X.], [X.] 2014, 442 Rn. 8, vom 12. November 2019 - [X.]/19, juris Rn. 7, und vom 22. Juni 2021 - [X.]/20, z. Veröff. [X.]). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - [X.], [X.] 2019, 152 Rn. 5, und vom 7. April 2020 - [X.]/19, juris Rn. 9 f.). [X.] das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf dem Fehler beruht (vgl. [X.], Beschlüsse vom 6. April 2017 - [X.], [X.] 2017, 292 Rn. 7, und vom 12. November 2019 - [X.]/19, juris Rn. 7).

8

b) Danach hat das Amtsgericht den Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Anordnung der Haft verletzt, weil es dem Rechtsanwalt des Betroffenen eine Teilnahme an der Anhörung nicht ermöglicht hat. Es hat die Anhörung durchgeführt, obwohl schon bei der Ladung ersichtlich war, dass der Bevollmächtigte aufgrund der Entfernung nicht werde teilnehmen können, der Bevollmächtigte einen [X.] gestellt hatte und der Betroffene in der Anhörung angegeben hat, ohne seinen Rechtsanwalt nichts (weiter) sagen zu wollen.

9

c) [X.] durch eine Nachholung der Anhörung des Betroffenen ist zwar grundsätzlich mit Wirkung für die Zukunft möglich (vgl. [X.], Beschluss vom 15. Dezember 2020 - [X.] 123/19, juris Rn. 14 mwN). Hier hat die Anhörung aber zu einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht und zu der Entlassung des Betroffenen geführt. Damit hat die gesamte auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Entscheidung vollzogene Haft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

3. [X.] beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Meier-Beck     

        

[X.]in Prof. Dr. Schmidt-Räntsch
ist infolge Versetzung an eine oberste
Bundesbehörde an der Unterschrift
gehindert.

        

[X.]

                 

Meier-Beck

                 
        

Roloff     

        

     Tolkmitt     

        

Meta

XIII ZB 58/20

31.08.2021

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Ingolstadt, 4. August 2020, Az: 22 T 1834/20

§ 427 FamFG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 31.08.2021, Az. XIII ZB 58/20 (REWIS RS 2021, 10118)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 10118

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

XIII ZB 91/22 (Bundesgerichtshof)


XIII ZB 98/19 (Bundesgerichtshof)

Überstellungshaftsache: Rechtsbeschwerde gegen die unterbliebene Beteiligung des Verfahrensbevollmächtigten an einem Anhörungstermin


XIII ZB 38/21 (Bundesgerichtshof)

Überstellungshaftverfahren: Haftanordnung bei fehlendem anwaltlichen Beistand bei der persönlichen Anhörung; Wirksamkeit des Verzichts auf Anwesenheit …


XIII ZB 50/21 (Bundesgerichtshof)

Ausreisegewahrsamssache: Rechtswidrigkeit der Haftanordnung mangels Teilnahme des Verfahrensbevollmächtigten am Anhörungstermin


XIII ZB 22/21 (Bundesgerichtshof)

Abschiebungshaftsache: Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde trotz fehlender ladungsfähiger Anschrift des Betroffenen; Ladung des Verfahrensbevollmächtigten zum Anhörungstermin


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.