Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.11.2023, Az. VIII ZB 59/23

8. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 9381

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Gegenstand

Gehörsverletzung in Berufungsverfahren bei Nichtkenntnisnahme einer fristgerecht eingereichten Berufungsbegründungsschrift


Leitsatz

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Falle der Nichtberücksichtigung einer zwar rechtzeitig bei Gericht eingegangenen, aber nicht zur Verfahrensakte gelangten Berufungsbegründungsschrift (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 19. Mai 2022 - V ZB 66/21, NJW-RR 2022, 995 Rn. 8).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des [X.] - Zivilkammer 66 - vom 7. Juli 2023 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gerichtskosten für das Rechtsbeschwerdeverfahren werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des [X.] wird auf die Wertstufe bis 13.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Räumung und Herausgabe einer Mietwohnung sowie auf Zahlung rückständiger Miete nebst Zinsen in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben.

2

Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 16. März 2023 zugestellte Urteil des Amtsgerichts hat der Beklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt.

3

Mit der angefochtenen Entscheidung hat das [X.] die Berufung des Beklagten wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, eine Berufungsbegründung liege auch nach dem Verstreichen der (bis zum 19. Juni 2023 verlängerten) Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vor. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, welches erneut über die Zulässigkeit der Berufung und gegebenenfalls über deren Begründetheit zu entscheiden haben wird.

5

1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht geltend gemacht hat - in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat [X.] die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte [X.] nicht zur Kenntnis genommen.

6

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Berufung des Beklagten nicht als unzulässig verworfen werden. Denn das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung die innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist bei ihm eingegangene [X.] nicht berücksichtigt.

7

a) Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich (vgl. [X.] 48, 394, 395 f.; 53, 219, 222 f.; siehe auch [X.], Beschluss vom 19. Mai 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 995 Rn. 8). Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 19. Mai 2022 - [X.], aaO; vom 4. Juli 2018 - [X.]/17, NJW 2018, 3786 Rn. 8 f. mwN).

8

b) Gemessen hieran hätte das Berufungsgericht, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, das Vorbringen des Beklagten in dem [X.]satz vom 16. Juni 2023 berücksichtigen müssen. Denn dieser ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen.

9

Für den rechtzeitigen Eingang einer [X.] ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Juni 2003 - [X.], NJW 2003, 3418 unter [X.]; vom 17. März 2009 - [X.], juris Rn. 5; siehe auch [X.], Beschluss vom 19. März 2018 - 1 BvR 2313/17, juris Rn. 12 mwN [zum rechtzeitigen Eingang einer Duplik im Klageverfahren]; zum Eingang elektronischer Dokumente - wie hier - vgl. [X.], Beschlüsse vom 25. August 2020 - [X.]/19, NJW-RR 2020, 1519 Rn. 7; vom 11. Mai 2021 - [X.], NJW 2021, 2201 Rn. 18 mwN; vom 30. November 2022 - [X.], NJW-RR 2023, 351 Rn. 8; zum Prüfvermerk siehe [X.], Beschlüsse vom 2. Februar 2022 - [X.] 304/21, juris Rn. 7; vom 30. November 2022 - [X.], juris Rn. 9; [X.]/[X.], 2. Aufl., §130a ZPO Rn. 329; Musielak/[X.]/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 130a Rn. 11).

Ausgehend hiervon hat der Beklagte nach dem auf die von der Rechtsbeschwerde erhobene Verfahrensrüge hin zu beachtenden Sachverhalt (§ 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO; siehe auch Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 - [X.], NJW-RR 2022, 1436 Rn. 20 mwN) die Berufungsbegründungsfrist gewahrt. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum 19. Juni 2023 (wirksam) verlängert worden. Die - von dem Beklagtenvertreter per [X.] übersandte (vgl. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) - [X.] ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen und von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Prüfvermerks an diesem Tag ("Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17") und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument - offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens - erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

c) Der angefochtene Beschluss beruht auf diesem Gehörsverstoß (vgl. zu diesem Erfordernis Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2021 - [X.]/20, juris Rn. 39 mwN). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei Kenntnisnahme des Inhalts der [X.] von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen wäre.

III.

Nach alledem kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben; sie ist daher aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

Die Entscheidung über die Nichterhebung von Gerichtskosten beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dr. Bünger     

      

Kosziol     

      

Dr. Schmidt

      

Dr. Matussek     

      

Dr. Böhm     

      

Meta

VIII ZB 59/23

08.11.2023

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Berlin, 7. Juli 2023, Az: 66 S 71/23

Art 103 Abs 1 GG, § 520 Abs 2 S 1 ZPO, § 522 Abs 1 S 1 ZPO, § 522 Abs 1 S 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.11.2023, Az. VIII ZB 59/23 (REWIS RS 2023, 9381)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9381 MDR 2024, 395 REWIS RS 2023, 9381

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