Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.11.2020, Az. B 9 SB 34/20 B

9. Senat | REWIS RS 2020, 2358

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - Sachverständigengutachten - Feststellung von Mängeln des Gutachtens im Urteil - Vorhersehbarkeit bei entsprechendem Beklagtenvorbringen


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 28. Mai 2020 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In der Hauptsache begehrt der Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab Antragstellung im September 2012. Mit Urteil vom 28.5.2020 hat das [X.] den Anspruch verneint. Das [X.] sei zutreffend davon ausgegangen, dass beim Kläger die Behinderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 30 erst ab Januar 2015 nachgewiesen seien und sich die weiteren Behinderungen von jeweils 10 (Beinvenenthrombose und Harnröhrenstriktur) nicht erhöhend auf den [X.] auswirkten. Die von dem Sachverständigen PD Dr. P in seinem im Berufungsverfahren auf Antrag des [X.] nach § 109 [X.]G erstellten Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme mitgeteilte Intensität der psychiatrischen Leiden und deren Bewertung mit einem GdB von jeweils 50 sei nicht nachvollziehbar.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim B[X.] Beschwerde eingelegt. Er rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Der Kläger hat den von ihm allein geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) nicht ordnungsgemäß bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

4

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G), so müssen bei der Bezeichnung des [X.] zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des [X.] - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 2 [X.]G kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 [X.]G und auf eine Verletzung des § 103 [X.]G nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das [X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen ist die Beschwerdebegründung nicht gerecht geworden.

5

Der Kläger rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 [X.]G, Art 103 Abs 1 GG). Das [X.] habe eine für ihn überraschende Entscheidung getroffen. Erst in der Urteilsbegründung habe das [X.] auf Mängel im Gutachten des Sachverständigen PD Dr. P hingewiesen, ohne ihm zuvor entsprechende Hinweise nach § 106 Abs 1 [X.]G zu erteilen. Es habe ihm damit die Möglichkeit entzogen, die gerichtliche Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens zu beantragen oder den Gutachter zu den Vorbehalten des Gerichts schriftlich zu hören.

6

Der Kläger versäumt es jedoch, den behaupteten Gehörsverstoß hinreichend substantiiert darzulegen. Der Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Prozessgericht grundsätzlich nicht, die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, zB Senatsbeschluss vom [X.] - [X.] SB 19/19 B - juris Rd[X.] 6 mwN). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 27.8.2018 - [X.] SB 19/18 B - juris Rd[X.] 7; Senatsbeschluss vom [X.] - juris Rd[X.] 8; Senatsbeschluss vom 25.2.2016 - [X.] V 69/15 B - juris Rd[X.] 11). Dies ist nach der Beschwerdebegründung aber nicht anzunehmen.

7

Hierzu hätte der Kläger aufzeigen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom [X.] getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es besteht nämlich insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 18.6.2018 - [X.] V 1/18 B - juris Rd[X.] 22; Senatsbeschluss vom [X.] SB 44/17 B - juris Rd[X.] 8). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger [X.] nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, zB Senatsbeschluss vom [X.] - [X.] SB 19/19 B - juris Rd[X.] 6; Senatsurteil vom 16.3.2016 - [X.] V 6/15 R - juris Rd[X.] 26). Der Kläger legt nicht substantiiert dar, dass er nach dem bisherigen Prozessverlauf unter keinen Umständen mit der vom [X.] getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Hierzu hätte er unter Bezugnahme auf den Gang des Gerichtsverfahrens und das Vorbringen der Beteiligten sowie unter Hervorhebung von Äußerungen des Berufungsgerichts darlegen müssen, dass die Entscheidung des [X.] nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl Senatsbeschluss vom [X.] - [X.] SB 67/18 B - juris Rd[X.] 10; B[X.] Beschluss vom [X.] R 273/17 B - juris Rd[X.] 26; B[X.] Beschluss vom [X.] KR 24/06 B - juris Rd[X.] 9). Dies hat der Kläger jedoch nicht getan. Vielmehr räumt er selbst ein, dass der Beklagte auch nach der ergänzenden schriftlichen Stellungnahme des Sachverständigen PD Dr. P vom 25.10.2019 mit [X.] vom 18.11.2019 erklärt habe, dass er sich dessen Bewertung der gesundheitlichen Verhältnisse mit einem [X.] von 50 seit September 2012 "weiter" nicht anschließen könne, weil die von dem Sachverständigen erfolgte Bildung der Einzel-GdB für die psychiatrischen Erkrankungen sowie des [X.] von 50 nicht schlüssig sei und den Vorgaben der Anlage "[X.] Grundsätze" zu § 2 der [X.] widerspreche. Der Kläger behauptet auch nicht, dass das [X.] im Vorfeld der Entscheidung Äußerungen getätigt habe, aus denen er entnehmen hätte können, dass das Urteil zu seinen Gunsten ausfallen werde. Ebenso wenig rügt er, dass das Berufungsgericht sein Urteil auf Tatsachen oder Beweisergebnisse gestützt hat, zu denen er sich nicht äußern konnte (vgl § 128 Abs 2 [X.]G).

8

Im Übrigen sind die Tatsachengerichte nicht verpflichtet, auf die Stellung von Beweisanträgen hinzuwirken (Senatsbeschluss vom 22.3.2018 - [X.] SB 78/17 B - juris Rd[X.] 17). Dass der Kläger vom [X.] in der mündlichen Verhandlung darin gehindert worden sei, weitere aus seiner Sicht sachdienliche Beweisanträge zu stellen, trägt er nicht vor.

9

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 [X.]G).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 [X.]G.

Meta

B 9 SB 34/20 B

05.11.2020

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SB

vorgehend SG Gotha, 16. Juni 2016, Az: S 4 SB 1702/13, Urteil

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 62 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 109 SGG, § 2 VersMedV, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.11.2020, Az. B 9 SB 34/20 B (REWIS RS 2020, 2358)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2358

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