Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.06.2014, Az. B 4 AS 349/13 B

4. Senat | REWIS RS 2014, 4998

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - Unzulässigkeit der Berufung - fehlendes Rechtsschutzbedürfnis des Grundsicherungsträgers - Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - angemessene Unterkunftskosten - Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts - fehlende Darlegungen zum Ausfall der Erkenntnismöglichkeiten


Tenor

Auf die Beschwerde des Beklagten wird der Beschluss des [X.] vom 13. August 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Höhe der [X.] II-Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) in der [X.] vom 1.6. bis 31.7.2011. Von der durch die Kläger zu zahlenden Bruttokaltmiete in Höhe von 720 Euro berücksichtigte der Beklagte nur einen Betrag in Höhe von 606 Euro (Bescheide vom [X.]17.6.2011 idF des Widerspruchsbescheides vom 11.7.2011).

2

Das [X.] hat den [X.] verurteilt, den Klägern für die Monate Juni und Juli 2011 weitere Leistungen für KdU in Höhe von 54 Euro pro Monat zu erbringen (Urteil vom [X.]). Da der Beklagte ein schlüssiges Konzept für seinen Zuständigkeitsbereich bislang nicht erstellt habe, sei auf die Werte nach § 12 [X.] zzgl eines angemessenen Zuschlags abzustellen. Entsprechend den [X.] sei die angemessene Wohnfläche für die alleinerziehende Klägerin von 75 qm für einen [X.] auf 85 qm für einen Vier-Personen-Haushalt zu erhöhen.

3

Das L[X.] hat die vom [X.] zugelassene Berufung des [X.] gemäß § 158 [X.]G als unzulässig verworfen (Beschluss vom [X.]). Es fehle das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar sei eine pauschale Erhöhung der angemessenen Wohnfläche bei [X.] nach der mittlerweile ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht möglich. Ohne Kenntnis des angemessenen qm-Preises sei die Frage eines "Zuschlags" für Alleinerziehende aber eine lediglich abstrakte Rechtsfrage, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich bereits aus dem Produkt des angemessenen qm-Preises mit der (zunächst nicht durch einen Zuschlag für Alleinerziehende erhöhten) angemessenen [X.] der vom [X.] zugesprochene Gesamtbetrag ergebe. Der Beklagte habe trotz ausdrücklicher Aufforderung durch den Senat (Hinweise vom 4.4., [X.] und [X.]) weder dargelegt, welche Ermittlungen er bislang zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts für den streitigen [X.]raum unternommen habe, noch habe er Tatsachen für fehlende Erkenntnismöglichkeiten benannt. Angesichts des Fehlens irgendwelcher auf die Erstellung eines schlüssigen Konzepts gerichteter Bemühungen des [X.] könne ein "Ausschöpfen aller Erkenntnismöglichkeiten" nicht angenommen werden. Dem [X.] als einer an Recht und Gesetz gebundenen Behörde fehle somit das Rechtsschutzbedürfnis für eine Berufung gegen ein ihn beschwerendes Urteil, in dem nur deshalb auf einen rechtlichen Hilfsmaßstab abgestellt worden sei, weil der Beklagte seiner prozessualen Mitwirkungspflicht bei der Erstellung des eigentlich anzuwendenden schlüssigen Konzepts nicht nachgekommen sei und auch im Berufungsverfahren weiterhin nicht nachkommen wolle. Der Beklagte könne nicht verlangen, dass der Senat in einem vom [X.] als Berufungsführer geführten Verfahren die eigentlich diesem obliegende Erstellung eines schlüssigen Konzepts übernehme, während er weiterhin seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletze. Ebenso wenig könne der Beklagte durch die beharrliche Verletzung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht erreichen, dass das [X.] oder der Senat Rechtsfragen beantworte, die möglicherweise erst bei Anwendung eines Hilfsmaßstabs entscheidungserheblich würden. An der grundsätzlichen Beantwortung der Rechtsfrage, ob bei [X.] die angemessene Wohnfläche zu erhöhen sei, bestehe zudem kein Rechtsschutzinteresse mehr (Hinweis auf B[X.] Urteil vom [X.] [X.]/12 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.]). Durch die Weigerung des [X.], das ihm durch die Rechtsprechung des B[X.] vorgegebene schlüssige Konzept zu erstellen, sei sein fehlendes Interesse an einer den gesetzlichen Vorgaben des [X.] II entsprechenden gerichtlichen Entscheidung hinreichend belegt.

4

Mit Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Beklagte folgende Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung geltend:

5

"Welche Anforderungen sind, sofern erforderlich, an die kommunalen Träger der Grundsicherung für die nachträgliche Erstellung eines schlüssigen Konzepts zu stellen? Ab wann sind die von den Grundsicherungsträgern ggf. nachzuholenden Ermittlungen zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts unverhältnismäßig aufwendig?"

6

Nach der Rechtsprechung des B[X.] sei weiterhin unklar, ab welchem Umfang bzw ab welchem [X.]ablauf sich Ermittlungen als unverhältnismäßig erwiesen. Ohne Konkretisierung einer solchen Grenze bestehe die Gefahr, dass die Grundsicherungsträger zu zeit- und kostenintensiven, letztlich auch den Steuerzahler zur Last f[X.]den Ermittlungen verpflichtet würden, die in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle kaum noch zu ausreichenden Ergebnissen iS der Anforderungen des B[X.] an ein schlüssiges Konzept führen könnten. Die Frage, wann nachzuholende Ermittlungen unverhältnismäßig seien, habe entscheidenden Einfluss darauf, ob hier ein Ermittlungsausfall festgestellt werden könne. Das L[X.] habe insoweit keine Feststellungen getroffen. Es habe ihm eine Verweigerungshaltung vorgeworfen, sich aber inhaltlich mit der Frage der Unverhältnismäßigkeit nachzuholender Ermittlungen trotz seines mehrfachen Vorbringens, dass der streitige [X.]raum mehr als zwei Jahre zurückliege und zudem mit zwei Monaten sehr kurz sei, nicht ausreichend auseinandergesetzt.

7

Weiter sei die Revision wegen eines [X.] zuzulassen. Das L[X.] habe ein Prozessurteil erlassen, obwohl eine Entscheidung in der Sache hätte ergehen müssen. Es habe sich lediglich auf die Prüfung eines [X.] wegen einer "Weigerungshaltung" des [X.] bezogen, nicht jedoch begründete Einwände für eine Unzumutbarkeit weiterer Ermittlungen einbezogen. Das L[X.] hätte das Fehlen eines schlüssigen Konzepts feststellen müssen. Auch liege ein Verstoß gegen das [X.] vor, weil das Berufungsgericht seinen Vortrag zur Unzumutbarkeit zum Anlass hätte nehmen müssen, diese Umstände näher zu prüfen. Zudem habe das L[X.] den [X.]ablauf zum streitigen [X.]raum von zwei Jahren, aufgrund dessen bereits von einer Unzumutbarkeit weiterer Ermittlungen zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts auszugehen sei, in nicht unerheblicher Weise mit verursacht.

8

II. [X.] führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsbeschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das L[X.] gemäß § 160a Abs 5 [X.]G.

9

Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zu Unrecht mit der Begründung eines fehlenden [X.] als nicht statthaft angesehen. Wird - wie hier - zu Unrecht ein Prozessurteil nach § 158 [X.]G statt eines [X.] erlassen, liegt ein Verfahrensmangel vor, weil beide eine jeweils qualitativ andere Entscheidung und damit sowohl ein Entscheidungs- als auch ein Verfahrensmangel gegeben sind (seit B[X.]E 1, 183; B[X.]E 2, 245, 252 ff = [X.] [X.] 11 zu § 150 [X.]G; B[X.]E 15, 169, 172 = [X.] [X.] 1 zu § 52 [X.]G; B[X.] [X.] 1500 § 160a [X.] 55).

Mit dem Erfordernis eines [X.], das sich im allgemeinen ohne weiteres aus der formellen Beschwer des Rechtsmittelklägers ergibt, der mit seinem Begehren in der vorangegangenen Instanz unterlegen ist, soll erreicht werden, dass das Rechtsmittel nicht eingelegt wird, ohne dass ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelklägers hieran besteht ([X.], 224, 225 = NJW 1972, 112). Es gilt der allgemeine Grundsatz, dass niemand die Gerichte grundlos oder für unlautere Zwecke in Anspruch nehmen darf. Trotz Vorliegens der Beschwer kann in seltenen Ausnahmefällen das Rechtsschutzinteresse fehlen, wenn der Rechtsweg unnötig, zweckwidrig oder missbräuchlich beschritten wird ([X.] aaO; [X.] in: [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 8. Aufl 2005, vor § 143 Rd[X.] 5 mwN). [X.] und deshalb unzulässig ist ein Rechtsmittel insbesondere dann, wenn durch die angefochtene Entscheidung keine Rechte, rechtlichen Interessen oder sonstigen schutzwürdigen Belange des Rechtsmittelführers betroffen sind und die weitere Rechtsverfolgung ihm deshalb offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (B[X.] Urteil vom 8.5.2007 - B 2 U 3/06 R - [X.] 4-2700 § 136 [X.] Rd[X.] 13).

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt ein solcher Sachverhalt hier jedoch nicht vor, weil sich der Beklagte - ausgehend von seiner Rechtsauffassung - nicht zu weiteren Ermittlungen verpflichtet sieht. Dies lässt sein Rechtsschutzbedürfnis für die vom [X.] ausdrücklich zugelassene Berufung nicht entf[X.]. Eine derart weitgehende Folge des Prozessverhaltens des [X.] sieht das [X.]G nicht vor. Im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens besteht nach § 131 Abs 5 [X.]G - begrenzt auf einen [X.]raum von sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei dem Gericht (§ 131 Abs 5 S 4 [X.]G) - die Möglichkeit, den angefochtenen Verwaltungsakt aufzuheben, wenn das [X.] eine weitere Aufklärung für notwendig hält und die noch erforderlichen Ermittlungen nach Art und Umfang erheblich sind (B[X.] Urteil vom [X.] - B 14 AS 33/08 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.] Rd[X.] 23). Diese Frist ist hier verstrichen; auf die Klage vom 17.8.2011 ist das Urteil des [X.] vom [X.] ohne Aufforderung zu weiterer Sachaufklärung durch den [X.] und unter Rückgriff auf die Werte der [X.] ergangen.

Zwar ist der Grundsicherungsträger, wenn er ohne eine hinreichende Datengrundlage entscheidet, im Rahmen seiner prozessualen Mitwirkungspflicht nach § 103 [X.] 2. Halbs [X.]G gehalten, dem Gericht eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen und ggf eine unterbliebene Datenerhebung und -aufbereitung nachzuholen; es kann von ihm erwartet werden, dass er die bei ihm vorhandenen Daten sowie die personellen und/oder sachlichen Voraussetzungen für die Erhebung und Auswertung der erforderlichen Daten zur Verfügung stellt (B[X.] Urteil vom [X.] - B 14 AS 33/08 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.] Rd[X.] 22). In gleicher Weise muss im Rahmen der Darlegung zu einem Erkenntnisausfall von dem vorrangig zuständigen Jobcenter im Einzelnen begründet werden, dass und warum ein schlüssiges Konzept nicht mehr entwickelt werden kann. Hierzu gehört auch die Festlegung des Vergleichsraums (B[X.] [X.] 4-4200 § 22 [X.] Rd[X.] 16; B[X.] Urteil vom 14.2.2013 - B 14 [X.]/12 R - Rd[X.] 22 ff und B[X.] [X.] 4-4200 § 22 [X.] Rd[X.]2 f). Bereits hieran fehlt es, weil der Beklagte noch im Berufungsverfahren offen gelassen hat, ob der [X.] oder der Teilbereich der [X.] als Vergleichsraum heranzuziehen ist. Auch durfte er sich für die Darlegung eines Erkenntnisausfalls nicht [X.] auf das Fehlen von [X.] für die in Betracht gezogenen Vergleichsräume berufen (vgl B[X.] Urteil vom [X.] - B 14 AS 33/08 R - [X.] 4-4200 § 22 [X.]).

Dass der Beklagte den von ihm zu erwartenden Darlegungspflichten für einen Erkenntnisausfall nicht nachgekommen ist, führt gleichwohl nicht zu einem Wegfall des [X.]. Der Beklagte konnte sich hier (noch) darauf berufen, dass die Frage, mit welchen Umständen ein Erkenntnisausfall begründet werden könne, höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt sei. Die Situation, in der sich das Berufungsgericht findet, ist insofern keine andere als in anderen [X.], wenn ein Sozialleistungsträger die Leistungserbringung aus unzutreffenden Rechtsgründen ablehnt, obgleich - bei zutreffender Auslegung sozialrechtlicher Vorschriften - weitere Ermittlungen hätten durchgeführt werden müssen.

Vor diesem Hintergrund lässt der Senat offen, ob die von dem [X.] aufgeworfene Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat. Er weist aber darauf hin, dass er in seinem (nicht veröffentlichten) Beschluss vom [X.] (B 4 [X.]/11 B) die Auffassung vertreten hat, dass es sich bei einzelnen Fragestellungen im Rahmen eines schlüssigen Konzepts (vorgenommene Ermittlungen, daraus gezogene Rückschlüsse und Feststellungen zur Aktualität der Werte) regelmäßig um Feststellungen und Beweiswürdigungen der Tatsacheninstanzen handelt. Welche konkreten tatsächlichen Anforderungen zu stellen sind, kann zur Überzeugung des Senats nicht generell, sondern nur unter Beachtung der tatsächlichen regionalen Gegebenheiten durch die Tatsacheninstanzen beantwortet werden. Dies betrifft auch die hier von dem [X.] aufgeworfene Rechtsfrage. Insofern handelt es sich um der revisionsgerichtlichen Prüfung weitgehend entzogene tatrichterliche Würdigungen (B[X.] aaO).

Demgemäß hätte das L[X.] über die Berufung der Kläger nicht durch einen Verwerfungsbeschluss (§ 158 [X.]G), sondern durch eine Sachentscheidung befinden müssen. Dies ist im erneut durchzuführenden Berufungsverfahren nachzuholen.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 4 AS 349/13 B

05.06.2014

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Lüneburg, 22. März 2012, Az: S 36 AS 1072/11, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 SGG, § 131 Abs 5 S 1 SGG, § 131 Abs 5 S 4 SGG, § 103 S 1 Halbs 2 SGG, § 22 Abs 1 S 1 SGB 2

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.06.2014, Az. B 4 AS 349/13 B (REWIS RS 2014, 4998)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 4998

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