Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.07.2020, Az. 6 StR 76/20

6. Strafsenat | REWIS RS 2020, 1869

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Vorlagebeschluss des Amtsgerichts an das Landgericht zur Übernahme einer Strafsache: Voraussetzungen für die Begründung der sachlichen Zuständigkeit des Landgerichts


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 29. Oktober 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) in den Fällen [X.] und 4 der Urteilsgründe;

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Seine auf eine nicht ausgeführte und damit nicht in zulässiger Weise erhobene Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]) sowie die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 [X.].

2

1. Hinsichtlich der Fälle [X.] und 4 der Urteilsgründe besteht ein Verfahrenshindernis. Insoweit hat das [X.] als sachlich unzuständiges Gericht entschieden.

3

a) Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:

4

Die Staatsanwaltschaft hatte wegen dieser beiden Taten zunächst Anklage zum [X.] erhoben. Am ersten Hauptverhandlungstag hat das Amtsgericht das Verfahren ausgesetzt, weil es nach vorläufiger Beweisaufnahme auch eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen räuberischer Erpressung für möglich gehalten und deshalb seine Strafgewalt als nicht ausreichend erachtet hat. Mit Beschluss vom 14. März 2019 hat es das Verfahren „gem. §§ 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 und 2 [X.]“ dem [X.] „zur Entscheidung über die Übernahme und Verbindung zu dem dort gegen den Angeklagten anhängigen Verfahren“ vorgelegt. In den [X.] hat es unter Verweis auf das beim [X.] anhängige Verfahren (Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe) ergänzend ausgeführt, das Verfahren werde „dementsprechend dem [X.] zwecks Verbindung gem. § 4 [X.] vorgelegt“.

5

Mit Beschluss vom 10. April 2019 hat das [X.] „festgestellt, dass der Beschluss des [X.] (...) nach § 270 Abs. 3 S. 1 [X.] die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses für das [X.] Halle - [X.] - hat und dass das Verfahren beim [X.] Halle - [X.] - unmittelbar mit Erlass des Beschlusses anhängig geworden ist“. Mit Beschluss vom 16. April 2019 hat es beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Am ersten Hauptverhandlungstag hat es ausweislich der Sitzungsniederschrift neben diesem Verbindungsbeschluss festgestellt, „dass die Anklageschrift (...) gemäß §§ 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 und 2 [X.] dem [X.] zur Entscheidung über die Übernahme und Verbindung zu dem anhängigen Verfahren (...) vorgelegt worden ist“.

6

b) Der [X.] hat hierzu in seiner Antragsschrift vom 18. Juni 2020 ausgeführt:

„Die Annahme der [X.], sie sei in Folge des Beschlusses des [X.] (Saale) vom 14. März 2019 zuständig geworden, war rechtsfehlerhaft. Nach der verfahrensrechtlichen Situation handelte es sich um einen Vorlagebeschluss gemäß § 225a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]. Einen die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung erst begründenden ausdrücklichen Übernahmebeschluss gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 [X.] hat das [X.] nicht erlassen. Ein konkludenter Übernahmebeschluss scheidet hier deshalb aus, weil die [X.] sich, wie der Wortlaut ihres Beschlusses vom 10. April 2019 ([X.]) deutlich macht, an die Abgabeentscheidung des Amtsgerichts gebunden glaubte. Sie ist fehlerhaft davon ausgegangen, dass sie nur eine eingeschränkte Willkürprüfung gemäß § 270 [X.] vornehmen kann und sah sich daher, da sie das Vorliegen von Willkür verneint hat, an die Verweisung des Amtsgerichts gebunden. Aus dem gleichen Grunde kommt eine schlüssige Übernahme der Sache in der von der [X.] durchgeführten Hauptverhandlung von vornherein nicht in Betracht, zumal darin ausweislich der Sitzungsniederschrift auch der „[X.]“ des Amtsgerichts nicht verlesen wurde.

Der Feststellung der Unzuständigkeit des [X.]s steht schließlich die Vorschrift des § 269 [X.] nicht entgegen. Zwar liegt dieser Norm der Gedanke zugrunde, dass die Verhandlung vor einem Gericht höherer Ordnung den Angeklagten generell nicht benachteiligen kann; die Anwendbarkeit der Bestimmung setzt jedoch voraus, dass die Sache nicht mehr beim Gericht niederer Ordnung anhängig ist, sondern die Zuständigkeit des Gerichts höhere Ordnung prozessordnungsgemäß begründet wurde. Daran fehlt es hier, weshalb das [X.] überhaupt nicht zur Sache verhandeln durfte.

Die mangelnde sachliche Zuständigkeit führt nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 [X.], [X.], 46).

Die Verurteilung des Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zum Nachteil des Geschädigten M.     ist daher aufzuheben. Der [X.] wird die Sache an eine andere [X.] des [X.]s zurückverweisen können. Zwar ist das Verfahren, soweit es die Verstöße gegen § 223 Abs. 1 StGB betrifft, bei dem [X.] (Saale) anhängig geblieben. Dieses Gericht hat aber nicht nur das Hauptverfahren eröffnet, sondern die Sache auch wirksam gemäß § 225a Abs. 1 Satz 1 [X.] dem [X.] zur Übernahme vorgelegt. In diesem Stadium befindet sich das Verfahren erneut nach einer ([X.] durch den [X.]. Die nunmehr zur Entscheidung berufene [X.] (§ 354 Abs. 2 [X.]) wird daher zunächst gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 [X.] über die Übernahme der Sache in den Körperverletzungsfällen zu befinden haben (vgl. [X.], Urteil vom 23. April 2015 - 4 [X.], [X.], 250).“

7

Dem schließt sich der [X.] an und bemerkt ergänzend, dass aus den dargelegten Gründen auch nicht von einem die Zuständigkeit des [X.]s begründenden (vgl. [X.], Beschluss vom 27. April 1989 - 1 StR 632/88, [X.]St 36, 175, 188 f.; [X.] in Löwe/[X.], [X.], 27. Aufl. § 4 Rn. 28) Verbindungsbeschluss nach § 4 Abs. 2 [X.] ausgegangen werden kann; insoweit fehlt es jedenfalls an einer Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens durch die [X.] (vgl. [X.], Urteile vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, [X.]St 45, 342, 351; vom 5. Februar 1963 - 1 StR 265/62, [X.]St 18, 238, 239).

8

2. Die Aufhebung der Fälle [X.] und 4 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Der [X.] kann trotz der verbleibenden erheblichen Einzelstrafen nicht gänzlich ausschließen, dass die [X.] ohne die Einzelstrafen für die Fälle [X.] und 4 auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

Sander     

        

Schneider     

        

Feilcke

        

Tiemann     

        

Fritsche     

        

Meta

6 StR 76/20

15.07.2020

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Halle (Saale), 29. Oktober 2019, Az: 10a KLs 6/19

§ 4 Abs 1 StPO, § 4 Abs 2 StPO, § 225a Abs 1 S 1 StPO, § 225a Abs 1 S 2 StPO, § 225a Abs 3 StPO, § 269 StPO, § 270 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.07.2020, Az. 6 StR 76/20 (REWIS RS 2020, 1869)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1869

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

6 StR 76/20 (Bundesgerichtshof)


4 StR 290/20 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Anforderungen an einen Übernahmebeschluss eines höherrangigen Gerichts


4 StR 360/20 (Bundesgerichtshof)

Strafverfahren: Verweisung bei Zuständigkeit eines höherrangigen Gerichts; Vorlage zur Übernahme des Verfahrens; Zuständigkeitsbegründung durch Übernahmebeschluss


4 StR 603/14 (Bundesgerichtshof)

Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer: Angriff auf die Entschlussfreiheit eines Fahrzeugführers durch Vortäuschen einer Polizeikontrolle; Kammerbesetzung …


2 StR 514/15 (Bundesgerichtshof)

Verfahrenshindernis im Strafverfahren: Wirksamkeitsvoraussetzungen für einen Übernahmebeschluss


Referenzen
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.