Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.02.2010, Az. B 1 KR 112/09 B

1. Senat | REWIS RS 2010, 9286

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Recht auf mündliche Verhandlung - Terminverlegungsantrag - Verhinderung des Beteiligten - Vertagung - Zurückverweisung


Tatbestand

1

Der bei der beklagten [X.] versicherte Kläger, der - wie aus den Akten eines [X.] hervorgeht - an den Folgen von [X.] leidet, ist mit seinem (von den Vorinstanzen so ausgelegten) Begehren, die Beklagte zu verpflichten, über Leistungs- und Akteneinsichtsanträge sowie Auskunftsersuchen der Jahre 1994 bis 2002 zu entscheiden und ihm Ablichtungen der Verwaltungsakten herauszugeben, bislang ohne Erfolg geblieben. Das [X.] ([X.]) hat seine Berufung gegen den in erster Instanz ergangenen klageabweisenden Gerichtsbescheid zurückgewiesen, weil die Klage unzulässig sei: Der Kläger habe nicht schlüssig vorgetragen, dass die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Satz 1 SGG gegeben seien; es werde nicht deutlich, welche Anträge er gestellt haben wolle (Urteil vom 13.2.2009).

2

Nach Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wendet sich der Kläger nunmehr gegen die Nichtzulassung der Revision im [X.]-Urteil. Er rügt ua die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Entscheidungsgründe

3

Die zulässige Beschwerde des [X.] ist begründet.

4

1. Das [X.]-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] SGG), der den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG genügend gerügt worden ist. Das [X.] hat den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention, § 62 SGG) verletzt, weil das Gericht am [X.] entschieden hat, obwohl der Kläger annehmen durfte, eine instanzbeendende Entscheidung werde jedenfalls an diesem Tag nicht ergehen.

5

Nach § 160 Abs 2 [X.] Halbsatz 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Grundsätzlich bedarf es allerdings keines weiteren Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl [X.] [X.] 4-1500 § 158 [X.] 2 Rd[X.] 4; [X.]-1500 § 160 [X.]3 S 62). Wird einem Beteiligten zB ein vom Gericht anberaumter Verhandlungstermin nicht mitgeteilt, reicht es wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens vielmehr aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen ([X.] 44, 292, 295 = [X.] 1500 § 124 [X.] 2; [X.]-1500 § 160 [X.]3; Beschluss des Senats vom 14.12.2006 - B 1 KR 113/06 B). Gleichermaßen wird einem Verfahrensbeteiligten das Recht auf mündliche Verhandlung versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache abschließend entscheidet, obwohl der Beteiligte zuvor gemäß § 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG einen Terminverlegungsantrag gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das Gericht ist in einem derartigen Fall bei ordnungsgemäßem Vorgehen verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen oder zu vertagen ([X.]-1750 § 227 [X.] 1 S 2; BSG, Beschluss vom 13.11.2008 - [X.] R 303/07 B). Nichts anderes kann gelten, wenn der Beteiligte vor der Verhandlung einen Terminverlegungsantrag gestellt hat und davon ausgehen durfte, dass auf die anberaumte mündliche Verhandlung hin wegen seiner Eingabe jedenfalls keine ihm nachteilige instanzabschließende Entscheidung ergehen würde. So verhält es sich hier.

6

Das [X.] war zwar nach § 227 Abs 2 ZPO iVm § 202 SGG berechtigt, den (unvertretenen) Kläger auf die von ihm wegen seines "sehr schlechten Gesundheitszustandes" geltend gemachte Hinderung der Teilnahme am Verhandlungstermin vom [X.] und auf seinen Terminverlegungsantrag hin (Schreiben vom [X.]) aufzufordern, seine krankheitsbedingte Verhinderung glaubhaft zu machen sowie zum Termin ein qualifiziertes ärztliches Attest einzureichen. Das ist auf eine richterliche Eilt-Verfügung vom [X.] hin geschehen, die einen Absendevermerk der Geschäftsstelle vom selben Tag trägt. In der Verhandlung am [X.] durfte allerdings - selbst bei unterstellten "normalen" postalischen Verhältnissen - nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass dem Kläger diese Mitteilung rechtzeitig vor dem Termin zugegangen war. Der Kläger macht geltend, er habe das Schreiben des [X.] mit seiner werktäglichen Post erst am [X.] um 14.00 Uhr erhalten, also zu einem Zeitpunkt, als der für 11.30 Uhr angesetzte Termin bereits beendet gewesen sei. Diese Behauptung ist nicht zu widerlegen, insbesondere wird sie durch andere Indizien nicht erschüttert. Vielmehr ist nach den Umständen anzunehmen, dass er aus ihm nicht vorwerfbar zuzurechnenden Gründen gehindert war, zur mündlichen Verhandlung am [X.] zu erscheinen.

7

Wollte das [X.] bei der gegebenen Sachlage am [X.] über die Berufung entscheiden, hätte es jedenfalls sicherstellen müssen, dass der Kläger die Auflage überhaupt rechtzeitig zur Kenntnis nehmen und sich entsprechend verhalten konnte. Da dies hier nicht der Fall war, hatte der Kläger berechtigten Grund zu der Annahme, dass er jedenfalls keine Rechtsnachteile aus seinem - noch nicht beschiedenen - Terminverlegungsantrag erleiden würde. Ein Gericht muss einen solchen Antrag förmlich (kurz) bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist (zB [X.] 1991, 1195; [X.]/[X.]/[X.]/[X.], ZPO, 66. Aufl 2008, § 227 Rd[X.] 56 mwN). Es muss zudem Sorge dafür tragen, dass dem Betroffenen die Entscheidung zumindest formlos mitgeteilt wird (vgl § 329 Abs 2 Satz 1 ZPO iVm § 202 SGG). Kann dagegen nicht gewährleistet werden, dass der Betroffene Kenntnis von den Voraussetzungen erlangt hatte, unter denen das Gericht von einer Verhinderung ausgehen würde, ist es gehalten, den Rechtsstreit zur Vermeidung eines Verfahrensfehlers zu vertagen. Das war hier der Fall.

8

Es fehlen Hinweise darauf, dass dem Kläger eine Mitteilung über die beabsichtigte Durchführung des Termins vom [X.] und die Voraussetzungen der Anerkennung seiner Verhinderung tatsächlich rechtzeitig zugänglich gemacht wurden, insbesondere befindet sich kein [X.] oder [X.] darüber in den Akten. Am [X.] hat das Gericht ausweislich der Sitzungsniederschrift eine ordnungsgemäße Bekanntgabe der vorangegangenen Verfügung nicht positiv feststellen können. In der Niederschrift heißt es lediglich, "dass dem Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 2009 mitgeteilt worden ist, dass die durch Krankheit bedingte Verhinderung glaubhaft zu machen ist und zwar durch Vorlage eines Attestes". Sodann wird nur noch festgestellt, dass ein Attest bislang nicht bei Gericht eingegangen sei; anschließend ist die mündliche Verhandlung eröffnet, durchgeführt und auf sie hin über die Berufung durch das angegriffene Urteil entschieden worden.

9

Unter den dargestellten Gegebenheiten durfte das [X.] indessen nicht über die Berufung entscheiden, sondern hätte eine Vertagung beschließen müssen. Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass wegen des ergangenen [X.] schon in erster Instanz keine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte und der Kläger in der Vorkorrespondenz mit dem [X.] ausdrücklich die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hatte. Zudem sah das [X.] nach den Entscheidungsgründen des Urteils selbst Klärungsbedarf dafür, welche Anträge der Kläger eigentlich stellen wollte. Obwohl die Mitteilung des [X.] über die Voraussetzungen einer Terminverlegung nicht formgebunden war und keiner förmlichen Zustellung bedurfte, entband dies nicht von dem Erfordernis, entweder zu gewährleisten, dass der Kläger tatsächlich rechtzeitig vor der Verhandlung von der richterlichen Verfügung Kenntnis erlangte oder aber im Termin eine Vertagung des Rechtsstreits zu beschließen. Da beides nicht erfolgte, liegt die gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor.

2. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem [X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 112/09 B

17.02.2010

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Berlin, 21. Mai 2007, Az: S 82 KR 3029/04, Gerichtsbescheid

§ 62 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.02.2010, Az. B 1 KR 112/09 B (REWIS RS 2010, 9286)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 9286

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