Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.03.2023, Az. 9 AZR 219/22

9. Senat | REWIS RS 2023, 4290

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Urlaubsabgeltung - zusätzliche Urlaubsvergütung - Tarifvertragsauslegung


Tenor

I. Auf die Revision der Beklagten wird - unter Zurückweisung der Revision der Beklagten im Übrigen - das Urteil des [X.] vom 30. März 2022 - 8 [X.]/21 - aufgehoben und wie folgt neu gefasst:

1. Auf die Berufung des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 18. Januar 2021 - 4 [X.]/20 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Bruttobetrag iHv. 937,02 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 1. April 2020 zu zahlen.

II. Die Anschlussrevision des [X.] wird zurückgewiesen.

III. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 92 % und die Beklagte 8 % zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte dem Kläger weitere Urlaubsabgeltung und zusätzliche Urlaubsvergütung zu zahlen hat.

2

Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger war bei der Beklagten vom 7. November 1988 bis zum 31. März 2020 mit einem Bruttogehalt iHv. zuletzt 6.038,50 Euro beschäftigt. Der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbare Manteltarifvertrag für die Metallindustrie im Nordwestlichen Niedersachsen ([X.]) in der Fassung vom 17. Dezember 2018 regelt [X.].:

        

§ 10 

        

Erholungsurlaub

        

1.    

Urlaubsanspruch

                 

Der Beschäftigte hat in jedem Kalenderjahr einen unabdingbaren Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.

                 

Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.

                 

…       

        

2.    

Urlaubsdauer

                 

Der Urlaub beträgt jährlich 30 Arbeitstage.

                 

Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen der Beschäftigte in regelmäßiger Arbeitszeit zu arbeiten hat. Auch wenn die regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Tage in der Woche - ggf. auch im Durchschnitt mehrerer Wochen - verteilt ist, gelten fünf Tage je Woche als Arbeitstage.

                 

…       

                 

Soweit durch gesetzliche Regelung für schwerbehinderte Menschen ein Anspruch auf bezahlten Zusatzurlaub besteht, ist dieser zusätzlich zu dem jeweiligen Grundurlaub zu gewähren.

                 

…       

        

4.    

Teilurlaub

                 

4.1     

Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses hat der Beschäftigte

                          

4.1.1 

für [X.]en eines Kalenderjahres, für die er wegen Nichterfüllung der Wartezeit keinen vollen Urlaubsanspruch erwirbt;

                          

4.1.2 

wenn er vor erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet;

                          

4.1.3 

wenn er nach erfüllter Wartezeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet.

                 

4.2     

Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, sind auf volle Urlaubstage aufzurunden. Bruchteile, die weniger als einen halben Tag betragen, werden weder bei der Urlaubsgewährung noch bei der Abgeltung des Urlaubs berücksichtigt.

                 

…       

        
                 

4.4     

Ein Beschäftigter, der wegen Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet, erhält den vollen Urlaub, sofern er 10 Jahre ununterbrochen dem Betrieb angehört hat, jedoch nur soviel Tage, wie er im Urlaubsjahr gearbeitet hat.

                          

Für den Begriff der Betriebszugehörigkeit gilt die entsprechende betriebliche Übung.

                 

…       

        
                 

10.3   

Zusätzliche Urlaubsvergütung

                          

10.3.1

Für den Erholungsurlaub gemäß § 10 Ziffer 2 bzw. § 10 Ziffer 4 - nicht jedoch für bezahlte Freistellung von der Arbeit aus anderen Gründen - wird für jeden Urlaubstag eine zusätzliche Urlaubsvergütung in Höhe von 50 % der nach vorstehenden Ziffern 10.1 und 10.2 für den Urlaubstag ermittelten Vergütung (= 100 %) gezahlt.

                 

…“    

        

3

Am 6. November 2019 trafen die Parteien eine „Freistellungsvereinbarung im Rahmen des [X.] zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit“. Diese Vereinbarung enthält [X.]. folgende Regelungen:

        

1.    

Dauer der Freistellungsphase

                 

Der Mitarbeiter wird unter Einhaltung der Voraussetzungen bzw. Regelungen der Wertguthabenvereinbarung

                 

vom 01.03.2020 bis einschließlich zum 31.03.2020

                 

von der Arbeitspflicht unwiderruflich freigestellt (‚Freistellungsphase‘).

                 

Während der Freistellungsphase besteht weiterhin ein entgeltpflichtiges Arbeitsverhältnis.

        

2.    

Freistellungsphase zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit

                 

Die Freistellung erfolgt gemäß den Regelungen der Wertguthabenvereinbarung in Form einer vollständigen Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen des vorzeitigen Ruhestands (‚Modell zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit‘).

                 

…       

        

3.    

Monatliches Entgelt während der Freistellungsphase

                 

Der Mitarbeiter erhält in dieser [X.] ein monatliches Entgelt in Höhe von

                 

6.055,42 € brutto.

                 

...“   

4

In der [X.] vom 26. November 2019 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2020 war der Kläger krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses galt die Beklagte sieben Arbeitstage Urlaub ab und zahlte an den Kläger die hierauf entfallende zusätzliche Urlaubsvergütung.

5

Der Kläger hat mit seiner Klage die Abgeltung von weiteren 28 Urlaubstagen und Zahlung zusätzlicher Urlaubsvergütung verlangt. Er hat insbesondere die Auffassung vertreten, ihm stehe für 2020 ein Anspruch auf den vollen tariflichen Jahresurlaub [X.] des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen zu. Der Tarifbegriff „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] verlange nicht, dass tatsächlich Arbeitsleistung erbracht worden sei. Es genüge, dass ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet gewesen sei.

6

Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn Urlaubsabgeltung iHv. 11.660,60 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 1. April 2020 zu zahlen.

7

Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und ausgeführt, langjährig beschäftigte Arbeitnehmer könnten den vollen Mehrurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] nur verlangen, wenn sie im Austrittsjahr tatsächlich gearbeitet hätten. Dies sei während der [X.] einer Arbeitsunfähigkeit nicht der Fall.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat das Urteil auf die Berufung des [X.] teilweise abgeändert und die Beklagte - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - zur Zahlung von Urlaubsabgeltung und zusätzlicher Urlaubsvergütung für 15 Arbeitstage in Höhe von insgesamt 6.246,75 Euro brutto nebst Zinsen verurteilt. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger verfolgt mit der [X.] sein ursprüngliches Klageziel weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der [X.] hat überwiegend Erfolg, die Anschlussrevision des [X.] ist unbegründet. Das [X.] hat dem Kläger zu Unrecht unter teilweiser Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils Urlaubsabgeltung und zusätzliche Urlaubsvergütung iHv. 6.246,75 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Die zulässige Klage ist lediglich im Umfang von 937,02 Euro brutto nebst Zinsen begründet.

A. Die Revision ist überwiegend begründet. Dem Kläger stehen die von ihm reklamierten Zahlungsansprüche nicht für die ihm durch das [X.] zugesprochenen 15 Urlaubstage, sondern lediglich für 2,25 Urlaubstage zu.

I. Entgegen der Auffassung des [X.]s sind Arbeitstage, an denen ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt und zugleich von der Arbeitspflicht freigestellt ist, nicht als „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] zu werten. Das ergibt die Auslegung der Tarifnorm.

1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags, die in der Revisionsinstanz in vollem Umfang überprüfbar ist, folgt nach ständiger Rechtsprechung des [X.] den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom [X.]. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt. Außerdem sind [X.], soweit sie dies zulassen, grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben. Gesetze sind wiederum - soweit Unionsrecht umgesetzt wird - unionsrechtskonform auszulegen, wenn dies möglich ist. Die richtlinienkonforme Auslegung eines nationalen Gesetzes kann sich demnach auf die Auslegung eines Tarifvertrags auswirken ([X.] 16. November 2022 - 10 [X.] - Rn. 13).

2. Nach diesen Grundsätzen gelten bei gesetzeskonformem Verständnis des Begriffs „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 [X.] Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub als Arbeitsleistung, nicht aber Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während der Freistellung von der Arbeitspflicht während eines Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit.

a) Der Wortlaut der Tarifnorm verlangt für das Entstehen des Anspruchs auf [X.] eine Arbeitsleistung im [X.]. Gemäß § 10 Nr. 4.1.3 [X.] haben Arbeitnehmer bei Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Davon abweichend erhält ein ausscheidender Beschäftigter nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] den vollen Jahresurlaub, sofern er wegen der Inanspruchnahme einer Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente ausscheidet und dem Betrieb zehn Jahre ununterbrochen angehört hat, jedoch höchstens so viele Tage, wie er im Urlaubsjahr „gearbeitet“ hat.

b) Systematisch handelt es sich bei § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] damit um eine privilegierende Spezialnorm für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer. Diese erhalten im Falle eines Ausscheidens wegen Inanspruchnahme von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente im [X.] statt eines bloßen Teilurlaubsanspruchs den vollen Jahresurlaub, sofern im [X.] eine Arbeitsleistung erbracht wird. Voll- statt Teilurlaub soll nur Arbeitnehmern zugutekommen, bei denen im Jahr des Ausscheidens keine erhebliche Störung des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung eingetreten ist. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist aber in einer dem Anspruch auf den vollen Jahresurlaub nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] entgegenstehenden Weise gestört, wenn der Arbeitnehmer im [X.] durchgängig arbeitsunfähig und daher nicht in der Lage ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Auch eine vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht ändert nichts daran, dass der Arbeitnehmer im [X.] keine Arbeitsleistung erbringt und auch nicht erbringen kann.

c) Auch eine gesetzeskonforme Auslegung verlangt ein solches Verständnis nicht. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das [X.] den Tarifbegriff „gearbeitet“ in § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] allerdings zu Recht nicht im [X.] abschließend verstanden, sondern gesetzeskonform erweiternd ausgelegt.

aa) Die Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/[X.] gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 [X.] begründeten Anspruch auf [X.] von vier Wochen übersteigen, weitgehend frei regeln (vgl. [X.] 11. Dezember 2018 - 9 [X.] - Rn. 18; 19. Februar 2019 - 9 [X.] - Rn. 52; 22. Januar 2019 - 9 [X.] - Rn. 33). Sie dürfen deshalb die Gewährung von tariflichem [X.] grundsätzlich von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig machen. Soweit allerdings die tarifvertraglichen Bestimmungen (auch) die Inanspruchnahme gesetzlichen Mindesturlaubs gefährden können, muss die Tarifnorm - soweit möglich - gesetzeskonform ausgelegt und angewandt werden.

bb) Danach ist die Inanspruchnahme von gesetzlichem Mindesturlaub als Arbeitsleistung iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] zu werten. [X.] Urlaubszeiten nicht als „gearbeitet“, könnten Konstellationen entstehen, in denen sich der Arbeitnehmer im Jahr seines Ausscheidens aus wirtschaftlichen Gründen gehalten sähe, auch auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu verzichten, um auf diese Weise seinen Anspruch auf Abgeltung des [X.]s nicht zu gefährden. Dies wäre dann der Fall, wenn er bis zu seinem Ausscheiden nur auf diese Weise an genügend Tagen tatsächlich arbeitet, um auch den [X.] abgegolten zu erhalten. Die Schaffung jedes wirtschaftlichen Anreizes, den Erholungsurlaub nicht zu nehmen, wäre aber mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/[X.] nicht zu vereinbaren ([X.] 13. Januar 2022 - [X.]/20 - [Koch Personaldienstleistungen] Rn. 32). Dem ist durch eine gesetzeskonforme Auslegung zu begegnen, der zufolge auch Urlaubszeiten als „gearbeitet“ gelten.

d) Die weitergehende Auslegung des [X.]s, auch Zeiten einer Freistellung von der Arbeitspflicht bei gleichzeitig bestehender Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als „gearbeitet“ iSv. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] anzusehen, verlangt das Gesetz nicht.

aa) Eine Freistellung von der Arbeitspflicht im Rahmen eines „Modells zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit“ steht nicht Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit gleich. Anders als Zeiten der Inanspruchnahme von Urlaub, bei denen es mit den Zielen von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/[X.] unvereinbar wäre, wenn man sie nicht als „gearbeitet“ im [X.] (vgl. oben unter Rn. 18), gebietet es der Zweck des Modells, die erwirtschafteten Zeitguthaben in den letzten Monaten des Arbeitsverhältnisses durch Vereinbarung einer bezahlten Freistellung in Natur einzulösen, nicht, die Freistellung Zeiten tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen. Für die Altersteilzeit im Blockmodell hat der [X.] bereits entschieden, dass die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die Verteilung der Arbeitszeit treffen, die den Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht entbindet und sich auf die Berechnung des Urlaubsanspruchs auswirkt (vgl. [X.] 24. September 2019 - 9 [X.] - Rn. 26, [X.]E 168, 70). Auch wenn - im Gegensatz zur Altersteilzeit im Blockmodell - Regelungsgegenstand der Freistellungsvereinbarung nicht die Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit, sondern die Verwendung eines außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegenden Wertguthabens ist, bestehen auch vorliegend keine gesetzlichen Vorgaben, die Freistellungzeiten im Anwendungsbereich der privilegierenden Spezialnorm des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] als Arbeitszeit zu bewerten. Den Tarifvertragsparteien war bei der Ausgestaltung der Tarifnorm nicht verwehrt, für den Anspruch auf den vollen tarifvertraglichen Urlaub weitere Anspruchsvoraussetzungen vorzusehen und ihn grundsätzlich von der Erbringung einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig zu machen. Der ungekürzte Teilurlaubsanspruch des [X.] bleibt durch § 10 Nr. 4.1 [X.] unberührt. Der Anspruch auf den durch §§ 1, 3 Abs. 1 [X.] eingeräumten gesetzlichen Mindesturlaub bei einem Ausscheiden nach erfüllter Wartezeit in der zweiten Jahreshälfte wird durch die in § 13 Abs. 1 Satz 3 [X.] angeordnete Unabdingbarkeit des durch das [X.] vermittelten Mindestschutzes sichergestellt (vgl. [X.] 5. Juli 2022 - 9 [X.] - Rn. 49 f.), ohne dass es einer gesetzeskonformen Auslegung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] bedürfte.

bb) In der Beschränkung des Anspruchs auf [X.] im [X.] auf die Anzahl der gearbeiteten Tage liegt keine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Schlechterstellung von arbeitsunfähigen gegenüber Arbeitnehmern, die ihre arbeitsvertragliche Leistung tatsächlich erbringen können.

(1) Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt als fundamentale Gerechtigkeitsnorm auch die Tarifautonomie. Dementsprechend ist Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen. Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch zu beachten, dass den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht. Sie bestimmen in diesem Rahmen nicht nur den Zweck einer tariflichen Leistung. Ihnen kommt zudem eine [X.] zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind und ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, dass die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Wahrnehmung eines tariflichen Anspruchs jeder Besonderheit gerecht werden und im Tarifvertrag entsprechende Ausnahmen vorsehen. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Die in einer Tarifregelung vorgesehenen Differenzierungsmerkmale müssen allerdings im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen ([X.] 29. September 2020 - 9 [X.] - Rn. 47, [X.]E 172, 313).

(2) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält sich die Regelung des § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.], den Anspruch auf [X.] als zusätzliche tarifliche Leistung nur Arbeitnehmern zugutekommen zu lassen, die im [X.] Arbeitsleistung erbracht haben, in den Grenzen, die Art. 3 Abs. 1 GG auch den Tarifvertragsparteien bei der Normsetzung nach Art. 9 Abs. 3 GG setzt. Die vorgenommene Differenzierung, die sich auf die Entstehung und auf den Umfang des tariflichen Anspruchs auf [X.] im [X.] erstreckt, ist nicht unverhältnismäßig. Bei gleicher Gewichtung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer lässt sich der angestrebte Zweck nicht durch ein milderes Mittel erreichen. Die Differenzierung ist nicht unangemessen. Die [X.] lässt die Schwere des Eingriffs im Verhältnis zur Bedeutung des Ziels zurücktreten. Als Ergebnis kollektiv ausgehandelter Tarifvereinbarungen hat die Begrenzung der Höhe des [X.]s die Vermutung der Angemessenheit für sich (vgl. [X.] 7. Juli 2020 - 9 [X.] - Rn. 33; 3. Juli 2019 - 10 [X.] - Rn. 15; 21. Mai 2014 - 4 [X.] - Rn. 29, [X.]E 148, 139).

cc) Ein anderes Ergebnis ergibt sich nicht mit Blick auf das Verbot einer Benachteiligung von Arbeitnehmern mit Behinderung nach § 7 Abs. 1 AGG. Eine mittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 Halbs. 1 AGG kann vorliegen, wenn eine Regelung - wie hier - zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Inhaber der geschützten persönlichen Eigenschaft betrifft als vergleichbare Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen, es sei denn, mit der Regelung oder Maßnahme wird ein rechtmäßiges Ziel verfolgt und das hierfür eingesetzte Mittel ist verhältnismäßig, dh. angemessen und erforderlich (vgl. [X.] 29. September 2020 - 9 [X.] - Rn. 61, [X.]E 172, 313). Auch insoweit gilt, dass sich die Begrenzung des tariflichen Anspruchs auf [X.] als gerechtfertigt erweist und die Tarifvertragsparteien ihren Regelungsspielraum nicht überschritten haben.

3. Danach hat der Kläger, der aufgrund der Inanspruchnahme einer Altersrente zum 31. März 2020 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist, keinen Anspruch nach § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] auf Abgeltung des vollen tariflichen Jahresurlaubs für das [X.] Zwar gehörte er zum Zeitpunkt seines Ausscheidens mehr als zehn Jahre ununterbrochen dem Betrieb der [X.] an. Allerdings arbeitete er im [X.] nicht. Seit dem 26. November 2019 war er durchgängig bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses krankheitsbedingt arbeitsunfähig.

II. Die Verurteilung der [X.] zur Abgeltung von weiteren Urlaubstagen nebst zusätzlicher Urlaubsvergütung erweist sich allerdings im Umfang von 937,02 Euro brutto aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Dies kann der [X.] selbst entscheiden, da die maßgeblichen Tatsachen feststehen (§ 563 Abs. 3 ZPO).

1. Da dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2020 ein Anspruch von 9,25 Urlaubstagen zustand, der ihm wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden konnte, und die Beklagte bisher Abgeltung für lediglich sieben Urlaubstage geleistet hat, besteht nach § 7 Abs. 4 [X.] noch ein [X.] für 2,25 Urlaubstage.

a) Der Umfang des Urlaubsanspruchs für das Kalenderjahr 2020 war nach § 10 Nr. 4.1.3 [X.] zu ermitteln. Da das tarifliche Regelungsregime nicht zwischen Mindesturlaub und tariflichem [X.] nach § 10 Nr. 2 Satz 1 [X.] differenziert, ist auch der [X.] anteilig abzugelten (zum Gleichlauf von gesetzlichem Urlaubsanspruch und dem Anspruch auf tariflichen [X.] vgl. [X.] 5. Juli 2022 - 9 [X.] - Rn. 47).

b) Rechnerisch ergibt sich, dass die Beklagte Urlaub für drei Monate des Bestehens des Arbeitsverhältnisses im [X.] 3/12 abzugelten hat. Bei 30 Tagen, die dem Kläger nach § 10 Nr. 2 Satz 1 [X.] jährlich zustehen, entspricht dies 7,5 Tagen, die nach § 10 Nr. 4.2 Satz 1 [X.] auf acht Tage aufzurunden sind. Außerdem kann der Kläger für diesen Zeitraum Abgeltung von [X.], der ihm aufgrund seiner Schwerbehinderung zusteht, in anteiligem Umfang iHv. 1,25 Tagen (3/12 von fünf Tagen) verlangen. Insgesamt ergibt sich damit ein [X.] für 9,25 Tage. Unter Abzug der bereits abgegoltenen sieben Tage verbleiben noch 2,25 abzugeltende Tage.

c) Urlaubsabgeltung für 2,25 Tage entspricht bei einem - zwischen den Parteien außer Streit stehenden - Tagessatz von 277,63 Euro brutto einem Betrag iHv. 624,67 Euro brutto.

2. Neben den [X.] tritt ein Anspruch auf zusätzliche Urlaubsvergütung für 2,25 Tage. Dieser Anspruch beläuft sich bei einem - ebenfalls unstreitigen - Tagessatz von 138,82 Euro brutto auf 312,35 Euro brutto. Insgesamt ergibt sich ein von der [X.] an den Kläger zu zahlender Betrag iHv. 937,02 Euro brutto.

3. Die Zinsentscheidung beruht auf §§ 286, 288 Abs. 1 BGB.

4. Weitergehende Ansprüche ergeben sich weder aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz noch aus betrieblicher Übung.

a) Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem - auch vermeintlichem - [X.] ([X.] 12. Dezember 2012 - 10 [X.] - Rn. 44). Um Letzteren geht es hier. Daher kann sich der Kläger nicht mit Erfolg auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen.

b) Ein weiterer Anspruch auf Urlaubsabgeltung ergibt sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung setzt voraus, dass sich für den Arbeitnehmer aus den Gesamtumständen der Eindruck ergibt, der Arbeitgeber wolle sich über die bisher vereinbarten vertraglichen und tarifvertraglichen Pflichten hinaus zu einer weiteren Leistung verpflichten (vgl. [X.] 20. August 2002 - 9 [X.] - Rn. 68, [X.]E 102, 251). Der Kläger konnte hier nach den Umständen nicht annehmen, dass die Beklagte übertarifliche Leistungen gewähren wollte.

B. Die hinreichend auf die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils eingehende Anschlussrevision ist zulässig, aber unbegründet. Mit ihr hat der Kläger geltend gemacht, dass der gesamte Zeitraum seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in 2020 als „gearbeitet“ iSd. § 10 Nr. 4.4 Satz 1 [X.] zu werten sei. Ohne Rechtsfehler hat das [X.] entschieden, dass die Tarifnorm nicht entsprechend auszulegen ist.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

        

    Kiel    

        

    Zimmermann    

        

    Darsow-Faller    

        

        

        

    Vogg    

        

    Pielenz    

                 

Meta

9 AZR 219/22

28.03.2023

Bundesarbeitsgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Oldenburg (Oldenburg), 18. Januar 2021, Az: 4 Ca 319/20, Urteil

Art 7 EGRL 88/2003, § 1 TVG, Art 31 Abs 2 EUGrdRCh, Art 3 Abs 1 GG, Art 9 Abs 3 GG, § 3 Abs 2 AGG, § 7 Abs 2 AGG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.03.2023, Az. 9 AZR 219/22 (REWIS RS 2023, 4290)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4290

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

16 Sa 1097/10 (Landesarbeitsgericht Hamm)


5 Sa 824/21 (Landesarbeitsgericht Hamm)


9 AZR 760/10 (Bundesarbeitsgericht)

Urlaubsabgeltung - Tilgungsbestimmung bei Urlaubsgewährung - gesetzlicher Mindesturlaub und übergesetzlicher Mehrurlaub


4 Sa 299/15 (Landesarbeitsgericht Düsseldorf)


9 AZR 197/10 (Bundesarbeitsgericht)

Kürzung des Erholungsurlaubs während der Elternzeit - § 17 des Manteltarifvertrags Metall- und Elektroindustrie des …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.