Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31.08.2010, Az. 1 BvR 2318/09

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2010, 3734

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Beratungshilfe für Widerspruchsverfahren verletzt bei unverhältnismäßiger Einschränkung des Rechtssuchenden dessen Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1, Abs 3 GG) - hier: Unzulässige Verweisung auf Beratung durch Ausgangsbehörde, die gleichzeitig Widerspruchsbehörde ist - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

Der Beschluss des [X.] vom 15. Juli 2009 - 14 [X.] 1124/09 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € festgesetzt.

Das [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).

I.

2

1. Der Beschwerdeführer hatte von dem zuständigen [X.] unter Anrechnung von Kindergeld als Einkommen erhalten. Nachdem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufgehoben und die überzahlten Beträge zurückgefordert hatte, beantragte der Beschwerdeführer selbst beim [X.], diesen Sachverhalt rückwirkend auch für die [X.] zu berücksichtigen und Leistungen direkt an die Familienkasse zu zahlen. Das [X.] wertete das Schreiben als Überprüfungsantrag nach § 44 [X.] ([X.]) und lehnte diesen mit der Begründung ab, dass die Anrechnung zu Recht erfolgt sei.

3

Der daraufhin beim Amtsgericht gestellte Antrag auf Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren wurde von der Rechtspflegerin zurückgewiesen. Die Befriedigung der rechtlichen Bedürfnisse des Rechtsuchenden trete durch die Entscheidung über den Widerspruch ein. Wenn sich ein Rechtsuchender direkt an einen Anwalt und nicht erst selbst an die Behörde wende, liege Mutwilligkeit vor.

4

Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Die Begründung der Rechtspflegerin wurde als zutreffend bewertet. Es bestehe kein Erfahrungssatz, dass die [X.] keine objektive Beratung durchführe. Der Antragsteller habe durch seinen Antrag bei der Behörde bewiesen, dass er selbst in der Lage sei, einen Widerspruch mit Begründung zu formulieren.

5

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).

6

Die aktive Beteiligung am Verfahren werde hier nur durch eine rechtskundige Vertretung ermöglicht.

7

3. Das [X.] hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

8

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 [X.]). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des [X.] geklärt (vgl. [X.] 122, 39 <48 ff.>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 21 ff.; NJW 2009, [X.] 3417 ff.).

9

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffene richterliche Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).

Es wird insoweit auf den Beschluss der [X.] des [X.] des [X.] vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 - (juris, Rn. 27 ff., 38 ff.) verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den [X.] erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.

Das Amtsgericht hat keine ausreichenden Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe bei der Rechtsberatung hier in Frage stellen könnten.

Die erfolglose Antragstellung durch den Beschwerdeführer belegt nicht, dass der Beschwerdeführer zur rechtlichen Auseinandersetzung mit den Ablehnungsgründen in der Lage ist. Ein Verweis auf die erneute Befassung der Behörde mit dem bereits selbst vorgetragenen Anliegen wird dem berechtigten Anliegen des Rechtsuchenden nach aktiver Beteiligung am Verfahren (vgl. Beschluss der [X.] des [X.] vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 28) nicht gerecht und überschreitet die Grenzen der Zumutbarkeit.

III.

Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 Abs. 2 [X.] aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut über die Erinnerung zu entscheiden hat.

IV.

Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € festgesetzt. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG ist der Gegenstandswert unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der subjektiven und objektiven Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen (vgl. [X.] 79, 357 <361 f.> und [X.] 79, 365 <366 ff.>), jedoch nicht unter 4.000 €. Liegen keine Besonderheiten vor, ist bei stattgebenden Kammerentscheidungen in der Regel ein Gegenstandswert von 8.000 € angemessen ([X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 4. April 2007 - 1 BvR 66/07 -; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 5. September 2007 - 2 BvR 2151/06 -; stRspr).

V.

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 [X.]. Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (vgl. [X.] 71, 122 <136 f.>; 105, 239 <252>).

Meta

1 BvR 2318/09

31.08.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend AG Gelsenkirchen, 15. Juli 2009, Az: 14 UR II 1124/09, Beschluss

Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 1 Abs 1 BeratHiG, § 4 BeratHiG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 31.08.2010, Az. 1 BvR 2318/09 (REWIS RS 2010, 3734)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 3734

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