Bundessozialgericht, Urteil vom 01.03.2011, Az. B 7 AL 9/09 R

7. Senat | REWIS RS 2011, 8996

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Bemessung des Arbeitslosengeldes - Erweiterung des Bemessungsrahmens wegen unbilliger Härte - Arbeitsentgeltdifferenz - keine Überschreitung der 10%-Grenze


Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des [X.] vom 4. März 2009 und des [X.] vom 13. August 2008 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit ist die Höhe des Arbeitslosengeldes [X.]) ab [X.].

2

Der 1945 geborene, ledige, kinderlose Kläger war von 1970 bis 30.4.2005 bei der [X.] beschäftigt. Zu Beginn des Jahres 2005 und in der Folgezeit war auf seiner Lohnsteuerkarte die [X.] eingetragen. Ab [X.] bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am [X.] wurde er von der Arbeit freigestellt. Am [X.] waren die Lohnabrechnungszeiträume bis 30.4.2005 abgerechnet. Das an ihn ausgezahlte und monatlich abgerechnete Bruttoarbeitsentgelt der Entgeltabrechnungszeiträume vom 1.5.2004 bis 30.4.2005 betrug 37 133,59 Euro. Das zuvor abgerechnete und ausgezahlte Arbeitsentgelt der Entgeltabrechnungszeiträume vom [X.] bis 30.4.2004 betrug 43 458,65 Euro. Die Differenz der [X.] beruhte auf einem am 16.12.2003 geschlossenen Firmentarifvertrag, wonach zur Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze und des gesamten Unternehmens für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2004 alle Tariflöhne und Gehälter um 10 % reduziert worden waren.

3

Am [X.] (Montag) beantragte der Kläger die Bewilligung von [X.]. Die Beklagte bewilligte ein tägliches [X.] in Höhe von 36,02 Euro nach einem [X.] von 101,74 Euro (Bescheid vom 17.6.2005; Widerspruchsbescheid vom 5.9.2005). Das Sozialgericht ([X.]) hat den Bescheid vom 17.6.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5.9.2005 abgeändert und "die Beklagte verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld nach einem [X.] von 110,40 Euro täglich zu zahlen" (Urteil vom [X.]). Das [X.] (L[X.]) [X.] hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 4.3.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der für die Höhe des [X.] maßgebende Bemessungsrahmen sei auf zwei Jahre zu erweitern, weil es mit Rücksicht auf das [X.] in diesem erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, von dem [X.] im Bemessungszeitraum auszugehen. Betrage der Unterschied zwischen dem [X.] im Regelbemessungszeitraum von einem Jahr und dem [X.] im erweiterten Bemessungszeitraum von zwei Jahren mehr als 10 %, sei die Annahme einer unbilligen Härte regelmäßig gerechtfertigt. Liege die Differenz - wie hier - zwischen 5 und 10 %, sei zu prüfen, ob sich eine unbillige Härte aus den Umständen des Einzelfalles ergebe. Hier sei zu berücksichtigen, dass die Einkommensminderung aus freiwilligen Gehaltseinbußen resultiere, die zum Erhalt seines Arbeitsplatzes hingenommen worden seien. Es wäre widersprüchlich, dies zu Lasten des Klägers zu bewerten.

4

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 130 Abs 3 Satz 1 [X.] - ([X.]B III). Die dort normierte Härteregelung erfasse nur Fälle, in denen das geringere Arbeitsentgelt des [X.] für die Höhe des [X.] nicht ausreichend repräsentativ sei. Dabei sei es für das Vorliegen einer unbilligen Härte unerheblich, auf welche Umstände der Minderverdienst zurückzuführen sei. Es sei nicht unbillig, die von ihr gezogene Grenze bei einer Differenz der [X.]e von 10 % zu ziehen, zumal sich diese auf die Höhe des [X.] effektiv nur in Höhe der Lohnersatzquote (von hier 60 %) auswirke.

5

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des L[X.] und des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Die Bemessung [X.] nach dem [X.] ist nicht zu beanstanden. Eine unbillige Härte liegt nicht vor.

9

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 17.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.9.2005 (§ 95 SGG). Ob in der Folgezeit weitere Bescheide ergangen sind, ist den Feststellungen des [X.] nicht zu entnehmen. Dies bedarf aber keiner weiteren Prüfung, weil ein etwaiger Verstoß des Berufungsgerichts gegen § 96 SGG ohnedies keinen in der Revisionsinstanz fortwirkenden und dort von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel darstellt (BSG [X.]-4100 § 128 [X.] Rd[X.] 10). Bei dem Rechtsstreit handelt es sich um einen Höhenstreit im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG), bei der Grund und Höhe [X.]-Anspruchs in vollem Umfang zu überprüfen sind (stRspr; vgl: [X.], 8 ff Rd[X.] 6 = [X.]-4300 § 140 [X.] 1; [X.], 191 ff Rd[X.] 13 = [X.]-4300 § 37b [X.] 2; BSG [X.]-4300 § 130 [X.] 3 Rd[X.] 9).

Anspruch auf [X.] bei Arbeitslosigkeit haben nach § 118 Abs 1 [X.] (in der Fassung, die die Norm durch das [X.] am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - [X.] 2848 - erhalten hat) Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich bei der [X.] arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Der Kläger war angesichts seiner Freistellung ab 1.5.2005 beschäftigungs- und damit arbeitslos. Er hat sich auch arbeitslos gemeldet und einen Antrag auf [X.] gestellt und hat angesichts der durchgehenden Beschäftigung seit 1970 bis zu seiner Freistellung auch die Anwartschaftszeit erfüllt. Ob dem Kläger ein Anspruch auf [X.] nach § 118 [X.] zusteht, kann im Übrigen aber dahinstehen; denn selbst wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf [X.] ab 1.5.2005 dem Grunde nach vorliegen, steht dem Kläger kein Anspruch auf höheres [X.] zu.

Nach § 129 [X.] 2 [X.] (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften vom [X.] - [X.] 266 - erhalten hat) beträgt das [X.] für Arbeitslose, die - wie hier - kein Kind iS des § 32 Abs 1, 3 bis 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haben sowie für Arbeitslose, deren Ehegatte oder Lebenspartner kein Kind iS des § 32 Abs 1, 3 bis 5 EStG hat, 60 % (allgemeiner Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Der Bemessungszeitraum umfasst nach § 130 Abs 1 [X.] (in der Fassung, die die Norm durch das [X.] am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 - [X.] 2848 - erhalten hat) die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst seinerseits ein Jahr; er endet mit dem letzten Tag des letzten [X.] - hier die Beschäftigung bei der [X.]; § 24 Abs 1 [X.] - vor Entstehung des Anspruchs am 1.5.2005. Der kalendermäßig zu berechnende ([X.]/[X.] in Nomoskommentar [X.], 3. Aufl 2008, § 130 Rd[X.] 17) Regelbemessungsrahmen beginnt daher am [X.] und endet (rückwärts gerechnet) am 1.5.2004. In den Lohnabrechnungszeiträumen Mai 2004 bis April 2005 hat der Kläger ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 37 133,59 [X.] erzielt. Das [X.] beträgt danach, wie von der Beklagten angenommen, 101,74 [X.] (37 133,59 [X.] : 365 Tage; zur Berechnung nach Kalendertagen vgl BSG [X.]-4300 § 130 [X.] 5).

Der Bemessungsrahmen ist nicht auf zwei Jahre ([X.] bis [X.]) zu erweitern. Nach § 130 Abs 3 [X.] ist der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre zu erweitern, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält ([X.] 1) oder - was hier angesichts der durchgehenden Beschäftigung des [X.] im Bemessungsrahmen allein in Frage kommt - es mit Rücksicht auf das [X.] in dem auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen unbillig hart wäre, von dem [X.] auszugehen und der Arbeitslose dies verlangt sowie die zur Bemessung erforderlichen Unterlagen vorlegt ([X.] 2). Auch mit Rücksicht auf das [X.] in dem auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen ist es jedoch nicht unbillig hart, von einem [X.] in Höhe von 101,74 [X.] auszugehen. Bei einer Erweiterung des [X.] auf die 730 Kalendertage umfassende Zeit vom [X.] bis [X.] ergibt sich unter Hinzurechnung des in den Entgeltabrechnungszeiträumen von Mai 2003 bis April 2004 erzielten Arbeitsentgelts in Höhe von 43 458,65 [X.] ein Gesamtarbeitsentgelt in Höhe von 80 592,24 [X.]. [X.] durch 730 Tage ergäbe sich im erweiterten Bemessungsrahmen ein um 8,66 [X.] höheres [X.] in Höhe von 110,40 [X.] (80 592,24 [X.] : 730 Tage = 110,40 [X.] pro Tag). Dies entspricht einer Differenz von 8,51 % zu dem [X.].

Eine unbillige Härte iS des § 130 Abs 3 Satz 1 [X.] 2 [X.] liegt aber erst dann vor, wenn das [X.] aus dem erweiterten Bemessungsrahmen das um 10 % erhöhte [X.] übersteigt. Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung des [X.] in seinem Urteil vom 24.11.2010 ([X.] AL 30/09 R) an, wonach der von der Beklagten zu Grunde gelegte Maßstab dem durch die Rechtshistorie wie auch die Gesamtsystematik gerechtfertigten Anliegen des Gesetzgebers nach Vereinfachung entspreche. Die für erforderlich gehaltene Differenz der [X.]e von mindestens 10 % setze die untere Grenze für die Annahme einer unbilligen Härte, für die nicht schon jede geringe Abweichung vom Normalfall ausreichend sei, nicht unangemessen hoch an. Unerheblich seien dabei auch die Gründe für den Minderverdienst. Dies lege schon der Wortlaut des § 130 Abs 3 Satz 1 [X.] 2 [X.] vor seinem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund nahe, das [X.] nach einfach festzustellenden und objektiv überprüfbaren Maßstäben zu bestimmen und im Interesse einer möglichst verwaltungspraktikablen gleichmäßigen Anwendung ohne Rücksicht auf die Gründe für den Minderverdienst allein auf das Auseinanderklaffen des [X.]s und des ihm gegenüberzustellenden Vergleichsentgelts abzustellen. Ob besonders gelagerte atypische Einzelfälle denkbar sind, in denen zur Beurteilung einer unbilligen Härte nicht ausschließlich auf das Missverhältnis der miteinander zu vergleichenden [X.]e abgestellt werden darf, bedarf hier keiner Entscheidung. Die freiwillige [X.] in einem Umfang von bis zu 10 % des Bruttoeinkommens stellt keinen solchen Sonderfall dar. Dies erschließt sich schon aus den in § 130 Abs 2 [X.] aufgeführten Sonderfällen von Zeiten eines Minderverdienstes, die bei der Ermittlung des [X.] außer Betracht bleiben.

Zu Recht hat der 11. Senat in seiner Entscheidung vom 24.11.2010 (aaO) auch ausgeführt, der gegen einen generellen unteren Schwellenwert von mindestens 10 % erhobene Einwand, dass die Härtefallregelung auf der Rechtsfolgenseite im Gegensatz zum früheren Rechtszustand nicht mehr zu einer fiktiven Bemessung führe, sondern zu einer Bemessung, in die auch die vergleichsweise niedrigen [X.]e des [X.], sei nicht überzeugend. Es sei schon systematisch fragwürdig, die Voraussetzungen für die Anwendung einer Norm von der Rechtsfolgenseite her zu definieren. Zum anderen laufe diese Auffassung auf eine Missachtung des erkennbaren Willens des Gesetzgebers hinaus, dass sich eine unbillige Härte gerade oder allein aus dem Missverhältnis der miteinander zu vergleichenden [X.]e ergeben müsse.

Ausgehend von einem so ermittelten [X.] ergibt sich ein tägliches Leistungsentgelt von 60,03 [X.]. Das Leistungsentgelt ist nach § 133 Abs 1 [X.] das um pauschalierte Abzüge verminderte [X.]. Abzüge sind nach § 133 Abs 1 [X.] eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21 % des [X.]s (§ 133 Abs 1 Satz 2 [X.] 1 [X.]: 21,37 [X.]), die Lohnsteuer nach der [X.] (§ 133 Abs 1 Satz 2 [X.] 2 [X.]: 19,28 [X.]; vgl zur Begrenzung der Prüfungspflicht der Höhe der Lohnsteuer beim Grundurteil im Höhenstreit in [X.] BSG [X.]-4300 § 132 [X.] 3) und der Solidaritätszuschlag (§ 133 Abs 1 Satz 2 [X.] 3 [X.]: 5,5 % der nach § 133 Abs 1 [X.] 2 [X.] errechneten Lohnsteuer: 1,06 [X.]). 60 % (allgemeiner Leistungssatz) des [X.] betragen danach 36,02 [X.].

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 7 AL 9/09 R

01.03.2011

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AL

vorgehend SG Münster, 13. August 2008, Az: S 3 AL 28/08, Urteil

§ 130 Abs 1 S 1 SGB 3 vom 23.12.2003, § 130 Abs 1 S 2 SGB 3 vom 23.12.2003, § 130 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB 3 vom 23.12.2003

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 01.03.2011, Az. B 7 AL 9/09 R (REWIS RS 2011, 8996)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 8996

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