Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.06.2012, Az. IX ZB 287/11

9. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 5375

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Gegenstand

Grenzüberschreitende Insolvenz: Deutsche internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des Partikular- oder des Hauptinsolvenzverfahrens; Widerlegung der Vermutung für den Interessenmittelpunkt am Unternehmenssitz


Tenor

Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden die Beschlüsse der 23. Zivilkammer des [X.] vom 17. Oktober 2011 und des [X.] vom 23. August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsmittel - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 192.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Schuldnerin ist eine im Handelsregister von [X.] die [X.] eingetragene [X.] ([X.]), für die im [X.] Handelsregister eine Zweigniederlassung in [X.] eingetragen ist. Ihre Gesellschaftsanteile waren im Jahre 2006 an einen [X.] und einen [X.] Staatsangehörigen übertragen worden, wobei der [X.] Gesellschafter zum alleinigen Geschäftsführer bestellt wurde. Als einzige geschäftliche Aktivität der Schuldnerin ist der Erwerb eines Baugrundstücks in [X.] bekannt, welches von ihr bebaut und anschließend vermietet wurde. Die weitere Beteiligte finanzierte dieses Vorhaben durch zwei Darlehen. Am 9. April 2010 verstarb der Geschäftsführer der Schuldnerin. Danach entfaltete die Schuldnerin keine Verwaltungstätigkeit mehr in [X.]. Dass sie in [X.] geschäftlich tätig ist oder war, wurde nicht festgestellt.

2

Die weitere Beteiligte beantragte am 4. April 2011 beim [X.] Amtsgericht, das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin zu eröffnen. Das Insolvenzgericht lehnte dies nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil die [X.] Gerichte für ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin nicht international zuständig seien. Die sofortige Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die weitere Beteiligte ihren Eröffnungsantrag weiter.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, § 34 Abs. 1, §§ 4, 6, 7 [X.], Art. 103f Satz 1 [X.][X.] statthaft. Die nach § 575 ZPO form- und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde ist zudem nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zulässig, weil eine Entscheidung des [X.] zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Sache an das Insolvenzgericht.

4

1. Die Vorinstanzen haben ausgeführt, die Eröffnung eines [X.] nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 1346/2000 des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO) im Inland komme nicht in Betracht, weil die Schuldnerin zum [X.]punkt der Antragstellung ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zumindest in [X.] eingestellt habe. Aufgrund der Vermutung nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO könne dann nur noch der satzungsmäßige Sitz, der in [X.] liege, für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit ausschlaggebend sein. Da die Schuldnerin jedenfalls seit dem Tod des Geschäftsführers über kein Personal mehr in [X.] verfüge, habe zur [X.] der Antragstellung auch keine inländische Niederlassung mehr bestanden, welche die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 2 und 4 EuInsVO ermöglicht hätte.

5

2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand.

6

a) Zutreffend haben die Vorinstanzen ihre internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 2 und 4 EuInsVO verneint. Tatsächlich bestand zu keinem [X.]punkt eine dafür erforderliche Niederlassung der Schuldnerin im Sinne von Art. 2 lit. h EuInsVO in [X.]. Nach dieser Vorschrift setzt die Qualifizierung als Niederlassung kumulativ den Einsatz von Personal und Vermögen zu geschäftlichen Zwecken voraus, ohne dass es auf eine Eintragung als Niederlassung im Handelsregister ankäme. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte genügt nicht für eine Qualifizierung als Niederlassung ([X.], Urteil vom 20. Oktober 2011 - Rs. [X.]/09, [X.], [X.] 2011, 912 Rn. 62; [X.], Beschluss vom 8. März 2012 - [X.] 178/11, [X.], 782 Rn. 6; [X.]/[X.], 2010, Art. 2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn. 24 ff; HK-[X.]/[X.], 6. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 13; [X.]/[X.], [X.], 2011, Art. 2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn. 13; [X.], Die internationale Zuständigkeit im [X.] Insolvenzrecht, 74 ff). Die Belegenheit des Grundstücks der Schuldnerin im Inland reicht somit nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine nach außen hin wahrnehmbare wirtschaftliche Tätigkeit, welche darüber hinausgeht und durch Personal erbracht wird. Es müssen nicht zwingend eigene Arbeitnehmer der Schuldnerin eingesetzt werden, wohl aber Personen, welche von ihr beauftragt wurden und nach außen hin erkennbar für sie tätig sind (vgl. [X.], Beschluss vom 8. März 2012, aaO Rn. 11; MünchKomm-[X.]/[X.], 2008, Art. 2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn. 30; HK-[X.]/[X.], 6. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 13; [X.]/[X.], aaO Rn. 11 f; [X.]/[X.], [X.], 13. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 16; [X.], [X.], 633).

7

Im Streitfall gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzung eines Personaleinsatzes der Schuldnerin im Inland erfüllt ist. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin hier zwar Immobilienvermögen unterhielt, welches vermietet wurde, so dass sie eine gewisse wirtschaftliche Tätigkeit nicht nur vorübergehender Art in [X.] entfaltete. Die Immobilie wurde jedoch allein vom verstorbenen Geschäftsführer verwaltet und betreut, ohne dass erkennbar wäre, dass für eine gewisse Dauer andere angestellte oder beauftragte Personen von der Schuldnerin im Inland eingesetzt wurden. Die eigene Tätigkeit der Schuldnerin, etwa durch das Organ der Gesellschaft, reicht jedenfalls nicht aus, um von eingesetztem Personal im Sinne von Art. 2 lit. h EuInsVO sprechen zu können ([X.], [X.], 56, 60; [X.], [X.], 631, 632; [X.]/[X.], aaO Rn. 10). Der in [X.] von der Schuldnerin für die Erstellung des Jahresabschlusses 2007 und der Steuererklärungen 2007 beauftragte Steuerberater stellt ebenso wenig Personal im Sinne der Regelung dar, weil er nur gelegentlich und nicht für eine gewisse Dauer von der Schuldnerin für Tätigkeiten eingesetzt wurde (vgl. [X.]/[X.], aaO Rn. 11).

8

Diese Umstände sind von der weiteren Beteiligten selbst vorgetragen worden, ohne dass sich das Insolvenzgericht aufgrund begründeter Zweifel nach § 5 Abs. 1 Satz 1 [X.] hätte veranlasst sehen müssen, diese Angaben zu überprüfen (vgl. [X.], Beschluss vom 1. Dezember 2011 - [X.] 232/10, [X.], 139 Rn. 11). Es kann mithin davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin über kein Personal in [X.] verfügte und damit keine Niederlassung im Inland bestand. Damit scheidet eine internationale Zuständigkeit [X.]r Gerichte für ein Partikularverfahren nach Art. 3 Abs. 2 EuInsVO aus.

9

b) Demgegenüber hat das Insolvenzgericht die internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des [X.] nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO zu Unrecht verneint. Nach dieser Vorschrift sind die Gerichte des Mitgliedstaates für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Gebiet die Schuldnerin den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen stellt Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO die Vermutung auf, dass dies der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist. Auf diesen satzungsmäßigen Sitz konnte im Streitfall jedoch nicht abgestellt werden. Denn die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO kann widerlegt werden, wenn objektive und für Dritte feststellbare Umstände belegen, dass der Interessenmittelpunkt in Wirklichkeit in einem anderen Mitgliedstaat als am satzungsmäßigen Sitz liegt ([X.], Urteil vom 2. Mai 2006 - Rs. [X.]/04, [X.], [X.]-Slg. 2006 [X.] Rn. 34; vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 51; vom 15. Dezember 2011 - Rs. [X.]/10, [X.], [X.], 183 Rn. 35). Dies kann insbesondere bei einer sogenannten Briefkastenfirma der Fall sein, die im Mitgliedstaat, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet, keiner Tätigkeit nachgeht ([X.], Urteil vom 2. Mai 2006, aaO Rn. 35). Als relevante, für Dritte erkennbare Umstände, die auf einen abweichenden Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen hindeuten, können etwa außerhalb des satzungsmäßigen Sitzes belegene Immobilien sprechen, für die Mietverträge abgeschlossen sind und die mit Hilfe eines im dortigen Mitgliedstaat ansässigen Kreditinstituts finanziert wurden ([X.], Urteil vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 53).

Nach den bisher getroffenen Feststellungen bestehen ausreichende Anhaltspunkte für einen vom satzungsgemäßen Sitz abweichenden Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen der Schuldnerin in [X.]. Nur hier konnten Vermögenswerte und geschäftliche Tätigkeiten der Schuldnerin festgestellt werden. Demgegenüber sind keinerlei Indizien für wirtschaftliche Aktivitäten der Schuldnerin in [X.] vorhanden. Dort unterhielt sie offensichtlich nur einen Briefkasten. Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO ist auch nicht deshalb heranzuziehen, weil die [X.] ihre Tätigkeiten in [X.] bereits vor der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingestellt hatte. Richtig ist zwar, dass bei der Bestimmung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen grundsätzlich auf den [X.]punkt der Antragstellung abzustellen ist ([X.], Urteil vom 17. Januar 2006 - [X.]/04, [X.], [X.], 188; [X.], Beschluss vom 22. März 2007 - [X.] 164/06, [X.], 878 Rn. 5). Dies gilt jedoch nicht, wenn die [X.] zum [X.]punkt der Antragstellung ihre Tätigkeiten bereits eingestellt hatte und aus dem Register gelöscht war. Für eine derartige Fallgestaltung ist vielmehr der letzte Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der [X.] von Bedeutung ([X.], Urteil vom 20. Oktober 2011, aaO Rn. 58). Der Senat hat auf diesen [X.]punkt ebenfalls abgestellt, wenn die [X.] wie im Streitfall noch nicht im Handelsregister gelöscht war, aber ihre Geschäftstätigkeiten bereits eingestellt hatte ([X.], Beschluss vom 1. Dezember 2011, aaO Rn. 15 f).

3. Die angefochtenen Beschlüsse können damit keinen Bestand haben, soweit sie die internationale Zuständigkeit der [X.] Gerichte für die Eröffnung eines [X.] nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO verneint haben. Sie sind aufzuheben; die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO in Verbindung mit § 572 Abs. 3 ZPO an das Insolvenzgericht (vgl. [X.], Beschluss vom 22. Juli 2004 - [X.] 161/03, [X.]Z 160, 176, 185 f; vom 4. November 2004, [X.] 2004, 745, 746) zurückzuverweisen, welches die weiteren Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu prüfen haben wird.

[X.]

                     Fischer                                [X.]

Meta

IX ZB 287/11

21.06.2012

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Bielefeld, 17. Oktober 2011, Az: 23 T 526/11

Art 2 Buchst h EGV 1346/2000, Art 3 Abs 1 EGV 1346/2000, Art 3 Abs 2 EGV 1346/2000, Art 3 Abs 4 EGV 1346/2000

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.06.2012, Az. IX ZB 287/11 (REWIS RS 2012, 5375)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 5375

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Insolvenzverfahren: Internationale Zuständigkeit deutscher Insolvenzgerichte bei in einem Drittstaat gestelltem Eröffnungsantrag


Referenzen
Wird zitiert von

IX ZB 287/11

Zitiert

IX ZB 178/11

IX ZB 232/10

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