Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.06.2012, Az. IX ZB 287/11

IX. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 5393

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen


BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
IX ZB 287/11

vom

21. Juni
2012

In dem Insolvenzeröffnungsverfahren

-
2
-
Der IX.
Zivilsenat des [X.] hat durch [X.] Dr.
Kayser, den
Richter
Vill, die Richterin [X.], die Richter Dr.
Fischer und Dr. Pape

am
21. Juni 2012
beschlossen:

Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden die [X.] der 23.
Zivilkammer des [X.] vom 17.
Oktober 2011 und des [X.] vom 23.
August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung -
auch über die Kosten der Rechtsmittel
-
an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 192.000

festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Schuldnerin ist eine im Handelsregister von [X.] die [X.] ein-getragene [X.]
([X.]), für die im [X.] Handelsregister eine Zweigniederlassung
in Gütersloh
eingetragen ist. Ihre
[X.]santeile waren im Jahre 2006 an einen
Schweizer und einen
deut-1
-

3

-
schen
Staatsangehörigen übertragen worden, wobei der [X.] Gesellschaf-ter zum alleinigen Geschäftsführer bestellt
wurde. Als einzige geschäftliche Ak-tivität der
Schuldnerin ist der Erwerb
eines
Baugrundstücks
in [X.] [X.], welches von ihr
bebaut und anschließend vermietet wurde. Die weitere Beteiligte
finanzierte
dieses Vorhaben durch
zwei
Darlehen. Am 9.
April 2010 verstarb der
Geschäftsführer
der Schuldnerin. Danach entfaltete die Schuldne-rin keine Verwaltungstätigkeit mehr
in [X.]. Dass sie in
[X.] ge-schäftlich tätig ist oder war, wurde nicht festgestellt.

Die weitere Beteiligte beantragte am 4.
April 2011
beim [X.] Amts-gericht, das
Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin
zu eröff-nen. Das Insolvenzgericht lehnte dies nach
Einholung eines Sachverständigen-gutachtens
ab, weil die [X.] Gerichte für ein
Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin nicht international zuständig seien.
Die
sofortige Beschwerde hat
das Landgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die weitere Beteiligte ihren Eröffnungsantrag weiter.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §
574 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 ZPO,
§
34 Abs.
1, §§
4, 6, 7 [X.], Art.
103f Satz 1 [X.][X.] statthaft. Die nach §
575 ZPO form-
und fristgerecht erhobene Rechtsbeschwerde ist zudem
nach §
574 Abs.
2 Nr.
2 Fall
2 ZPO zulässig, weil eine Entscheidung des [X.] zur
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.
Sie führt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur [X.] an das Insolvenzgericht.

2
3
-

4

-

1. Die Vorinstanzen
haben
ausgeführt, die
Eröffnung eines Hauptinsol-venzverfahrens nach Art.
3 Abs.
1 der Verordnung ([X.]) Nr.
1346/2000 des Ra-tes über Insolvenzverfahren (EuInsVO) im Inland
komme nicht in Betracht, weil die Schuldnerin zum Zeitpunkt der Antragstellung ihre wirtschaftlichen Aktivitä-ten zumindest in [X.] eingestellt habe. Aufgrund der Vermutung nach Art.
3 Abs.
1 Satz
2 EuInsVO könne dann nur noch der satzungsmäßige Sitz, der in [X.] liege, für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit aus-schlaggebend sein. Da die Schuldnerin jedenfalls seit dem Tod des [X.] über kein Personal mehr in [X.] verfüge, habe zur [X.] auch keine inländische Niederlassung mehr
bestanden, welche die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art.
3 Abs.
2 und 4 EuInsVO ermög-licht
hätte.

2. Diese Ausführungen
halten der rechtlichen Überprüfung in einem we-sentlichen Punkt nicht
stand.

a) Zutreffend haben
die Vorinstanzen ihre internationale Zuständigkeit für die Eröffnung eines Partikularverfahrens nach Art.
3 Abs.
2 und 4 EuInsVO [X.]. Tatsächlich bestand zu keinem Zeitpunkt eine dafür erforderliche Nieder-lassung der Schuldnerin im Sinne von Art.
2 lit. h EuInsVO in [X.]. Nach dieser Vorschrift setzt die Qualifizierung als Niederlassung kumulativ den Einsatz von Personal und Vermögen zu geschäftlichen Zwecken voraus, ohne dass es auf eine Eintragung als Niederlassung im Handelsregister ankäme. Das bloße Vorhandensein einzelner Vermögenswerte genügt nicht für eine Qualifi-zierung als Niederlassung ([X.], Urteil vom 20.
Oktober 2011 -
Rs. [X.]/09, [X.], [X.] 2011, 912 Rn.
62; [X.], Beschluss vom 8.
März 2012 -
IX
ZB 178/11, [X.],
782 Rn.
6; [X.]/[X.], 2010, Art.
2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn.
24 ff; HK-[X.]/[X.], 6.
Aufl., Art.
2 EuInsVO Rn.
13; [X.]/
4
5
6
-

5

-
[X.], [X.], 2011, Art.
2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn.
13; [X.], Die in-ternationale
Zuständigkeit im europäischen Insolvenzrecht, 74
ff). Die
Belegen-heit des Grundstücks der Schuldnerin im Inland
reicht somit nicht aus. [X.] ist vielmehr eine nach außen hin wahrnehmbare wirtschaftliche Tätigkeit, welche darüber hinausgeht und durch Personal erbracht wird. Es müssen
nicht zwingend eigene Arbeitnehmer der Schuldnerin eingesetzt werden, wohl aber Personen, welche von ihr beauftragt wurden und nach außen hin erkennbar für sie tätig sind (vgl.
[X.], Beschluss vom 8.
März 2012, aaO Rn.
11;
Münch-Komm-[X.]/[X.], 2008, Art.
2 VO ([X.]) 1346/2000 Rn.
30; HK-[X.]/
[X.], 6.
Aufl., Art.
2 EuInsVO Rn.
13; [X.]/[X.], aaO Rn.
11
f; [X.]/[X.], [X.], 13.
Aufl., Art.
2 EuInsVO Rn.
16; Vallender, [X.], 633).

Im Streitfall gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür,
dass die Vorausset-zung eines Personaleinsatzes der Schuldnerin im Inland erfüllt ist. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Schuldnerin hier zwar [X.] unterhielt, welches vermietet wurde, so dass sie eine gewisse wirt-schaftliche Tätigkeit nicht nur vorübergehender Art in [X.] entfaltete. Die Immobilie wurde jedoch allein vom verstorbenen Geschäftsführer verwaltet und betreut, ohne dass erkennbar wäre, dass für eine gewisse Dauer andere angestellte oder beauftragte Personen von der Schuldnerin im Inland eingesetzt wurden. Die eigene Tätigkeit der Schuldnerin, etwa durch das Organ der [X.], reicht jedenfalls nicht aus, um von eingesetztem Personal im Sinne von Art.
2 lit. h EuInsVO sprechen zu können ([X.], [X.], 56, 60; [X.], [X.], 631, 632; [X.]/[X.], aaO Rn.
10). Der in [X.] von der Schuldnerin für die Erstellung des Jahresabschlusses 2007 und der Steuererklärungen 2007 beauftragte Steuerberater stellt ebenso wenig Personal im Sinne der Regelung dar, weil er nur gelegentlich und nicht 7
-

6

-
für eine gewisse Dauer von der Schuldnerin für Tätigkeiten eingesetzt wurde (vgl. [X.]/[X.], aaO Rn.
11).

Diese Umstände sind von der weiteren Beteiligten selbst vorgetragen worden, ohne dass
sich das Insolvenzgericht aufgrund begründeter Zweifel nach §
5 Abs.
1 Satz
1 [X.] hätte veranlasst sehen müssen, diese Angaben zu überprüfen (vgl. [X.], Beschluss vom 1.
Dezember 2011 -
IX
ZB 232/10, [X.], 139 Rn.
11). Es kann mithin davon ausgegangen
werden, dass die Schuldnerin über kein Personal in [X.] verfügte und damit keine Nie-derlassung im Inland bestand. Damit scheidet
eine internationale Zuständigkeit [X.]r Gerichte für ein Partikularverfahren nach Art.
3 Abs.
2 EuInsVO aus.

b)
Demgegenüber hat
das Insolvenzgericht die internationale [X.] für die Eröffnung des [X.] nach Art.
3 Abs.
1 Satz
1 EuInsVO
zu Unrecht verneint. Nach dieser Vorschrift sind die Gerichte des Mit-gliedstaates für die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Gebiet die Schuldnerin den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen stellt Art.
3 Abs.
1 Satz 2
EuInsVO die Vermutung auf, dass dies
der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist. Auf
diesen satzungsmäßigen Sitz konnte im Streitfall jedoch nicht abgestellt werden. Denn die Vermutung des Art.
3 Abs.
1 Satz
2 EuInsVO kann widerlegt werden, wenn objektive und für Dritte feststellbare Umstände belegen, dass
der Interessenmittelpunkt in Wirklichkeit in einem anderen Mitgliedstaat als am [X.] Sitz liegt ([X.], Urteil vom 2.
Mai 2006 -
Rs.
[X.]/04, [X.], [X.]-Slg. 2006 I-03813 Rn.
34; vom 20.
Oktober 2011, aaO Rn.
51; vom 15. Dezember 2011 -
Rs.
[X.]/10, [X.], [X.], 183 Rn.
35). Dies kann insbesondere bei einer sogenannten Briefkastenfirma der Fall sein, die im Mitgliedstaat, in dem sich ihr satzungsmäßiger Sitz befindet, 8
9
-

7

-
keiner Tätigkeit nachgeht ([X.], Urteil vom 2.
Mai 2006, aaO Rn.
35). Als re-levante, für Dritte erkennbare Umstände, die auf einen
abweichenden
Mittel-punkt der hauptsächlichen Interessen hindeuten, können etwa außerhalb des satzungsmäßigen Sitzes belegene Immobilien sprechen, für die Mietverträge abgeschlossen sind und
die
mit
Hilfe
eines
im dortigen Mitgliedstaat ansässigen Kreditinstituts
finanziert wurden ([X.], Urteil vom 20. Oktober 2011, aaO Rn.
53).

Nach den bisher
getroffenen
Feststellungen bestehen
ausreichende [X.] für einen vom satzungsgemäßen Sitz abweichenden Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen der Schuldnerin
in [X.]. Nur hier konn-ten Vermögenswerte und geschäftliche Tätigkeiten der Schuldnerin festgestellt werden. Demgegenüber sind keinerlei Indizien für wirtschaftliche Aktivitäten
der Schuldnerin
in [X.] vorhanden. Dort unterhielt sie
offensichtlich nur einen
Briefkasten. Die Vermutung des Art.
3 Abs.
1 Satz
2 EuInsVO
ist auch nicht deshalb heranzuziehen,
weil die Schuldnergesellschaft
ihre Tätigkeiten in [X.] bereits vor der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenz-verfahrens eingestellt
hatte. Richtig ist zwar, dass bei der Bestimmung des Mit-telpunktes der hauptsächlichen Interessen
grundsätzlich auf
den
Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist
([X.], Urteil vom 17.
Januar 2006 -
Rs
C-1/04, [X.], [X.], 188; [X.], Beschluss vom 22.
März 2007 -
IX
ZB 164/06, [X.], 878 Rn.
5). Dies
gilt
jedoch nicht, wenn die Schuldnergesell-schaft zum Zeitpunkt der Antragstellung ihre Tätigkeiten bereits eingestellt hatte
und aus dem Register gelöscht war.
Für eine derartige Fallgestaltung ist viel-mehr
der letzte Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der [X.]
von Bedeutung
([X.], Urteil vom 20.
Oktober 2011, aaO Rn.
58). Der [X.] hat
auf
diesen Zeitpunkt ebenfalls abgestellt, wenn
die [X.] wie im Streitfall noch
nicht
im Handelsregister gelöscht war, aber ihre 10
-

8

-
Geschäftstätigkeiten bereits eingestellt hatte
([X.], Beschluss vom 1.
Dezem-ber 2011, aaO
Rn.
15 f).

3. Die angefochtenen Beschlüsse können damit keinen Bestand haben, soweit sie die
internationale Zuständigkeit
der [X.] Gerichte
für die Eröff-nung eines [X.]
nach Art.
3 Abs.
1 EuInsVO
verneint ha-ben. Sie sind aufzuheben; die Sache ist gemäß §
577 Abs.
4 Satz
1
ZPO
in Verbindung mit §
572 Abs.
3 ZPO an das Insolvenzgericht
(vgl. [X.], [X.] vom 22.
Juli 2004 -
IX
ZB 161/03, [X.]Z 160, 176, 185
f; vom

11
-

9

-
4.
November 2004, [X.] 2004, 745, 746)
zurückzuverweisen, welches die weite-ren Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu prüfen ha-ben
wird.

Kayser
Vill
[X.]

Fischer
Pape

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 23.08.2011 -
43 IN 419/11 -

LG [X.], Entscheidung vom 17.10.2011 -
23 [X.] -

Meta

IX ZB 287/11

21.06.2012

Bundesgerichtshof IX. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 21.06.2012, Az. IX ZB 287/11 (REWIS RS 2012, 5393)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 5393

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

IX ZB 287/11 (Bundesgerichtshof)

Grenzüberschreitende Insolvenz: Deutsche internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des Partikular- oder des Hauptinsolvenzverfahrens; Widerlegung der …


IX ZB 232/10 (Bundesgerichtshof)


IX ZB 232/10 (Bundesgerichtshof)

Grenzüberschreitende Insolvenz: Internationale Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Gesellschaft mit …


IX ZB 178/11 (Bundesgerichtshof)


IX ZB 14/21 (Bundesgerichtshof)

Zuständigkeit deutscher Gerichte für Entscheidung über Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Verlegung des Geschäftssitzes


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

IX ZB 287/11

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.