Bundessozialgericht, Urteil vom 09.12.2016, Az. B 8 SO 1/15 R

8. Senat | REWIS RS 2016, 1026

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Unzulässigkeit der Klage - Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts - Einbeziehung des Bescheids in ein früheres Klageverfahren - prozessuale Sperrwirkung - Wegfall der anderweitigen Rechtshängigkeit durch Berufungsrücknahme - Bestandskraft


Tenor

Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des [X.] vom 10. November 2014 werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

[X.] ist die Aufhebung der Bewilligung von [X.] nach dem [X.] - ([X.]) ab 1.11.2010.

2

Die Kläger sind [X.] Staatsangehörige. Der 1947 in [X.] geborene Kläger zu 1 und die 1973 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; sie sind die Eltern der 2002 geborenen Klägerin zu 3. Seit 21.7.2005 leben die Kläger in Spanien.

3

Der Beklagte gewährte ihnen seit Januar 2007 Sozialhilfe (Bescheide vom 31.1.2007, 27.1., 16.3. und [X.], 3.3. und [X.]; Widerspruchsbescheide vom [X.], 11.12.2009 und [X.]). Gegen den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] haben die Kläger am 19.11.2009 ([X.] [X.] 190/09), gegen die Bescheide vom 3.3. und 10.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] am [X.] ([X.] [X.] 284/10) Klagen beim Sozialgericht ([X.]) [X.] erhoben, mit der sie jeweils höhere Leistungen begehrt haben. Das [X.] hat in beiden Verfahren die Klagen abgewiesen (Urteile vom 20.07.2011). In den dagegen beim [X.] (L[X.]) [X.] eingelegten Berufungen haben die Kläger am [X.] "die Verfahren L 20 [X.] 482/11 und L 20 [X.] 483/11 für erledigt" erklärt.

4

Zwischenzeitlich hatte der Beklagte für die [X.] ab 1.11.2010 seine Leistungsbewilligung, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ([X.]B X), aufgehoben (Bescheid vom 29.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2010).

5

Das [X.] hat (auch) die dagegen gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom 20.7.2011), das L[X.] die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom 10.11.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das L[X.] ausgeführt, in der Sache sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 [X.]B X eingetreten, weil die Kläger (spätestens) zum 1.11.2010 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von "[X.] Sozialhilfe" erfüllt hätten und damit kein Anspruch mehr auf [X.] Sozialhilfe bestehe.

6

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 2 [X.] und Verfahrensfehler. Die Klagen seien trotz der früheren Gerichtsverfahren über die Leistungshöhe zulässig.

7

Die Kläger beantragen,
die Urteile des L[X.] und des [X.] sowie den Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 aufzuheben.

8

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

9

Er hält die angefochtene Entscheidung des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Revisionen sind aus anderen Gründen als vom [X.] angenommen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>).

Im Ergebnis zu Recht hat das [X.] die Berufungen zurückgewiesen; denn die Klagen waren und sind unzulässig. Gegenstand der Klagen ist der Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 (§ 95 [X.]G), den die Kläger mit ihren Anfechtungsklagen angreifen und mit dem der Beklagte seine Bewilligung von [X.] ab 1.11.2010 aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist rechtlich gemäß § 96 Abs 1 [X.]G vollumfänglich Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] (§ 95 [X.]G) geworden. Auch nachdem die Kläger die Berufungen gegen das - fehlerhaft nur Teile der Klagen (faktische Nichteinbeziehung der Folgebescheide) - abweisende Urteil des [X.] zurückgenommen haben, bleiben die Klagen unzulässig, weil der hier streitgegenständliche Aufhebungsbescheid mit der Rücknahme der Berufungen bestandskräftig geworden ist.

Die Klagen waren zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 [X.]G iVm § 17 Abs 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz ). Der Bescheid vom [X.] ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am [X.] Gegenstand des zu diesem [X.]punkt bereits anhängigen Klageverfahrens ([X.] [X.] 190/09) gegen den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] geworden. Nach § 96 Abs 1 [X.]G (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des [X.]G und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom [X.] - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 96 Rd[X.] 4 ff [X.]). Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 [X.]G Gegenstand des Verfahrens (B[X.]E 77, 175, 176 = [X.]-4100 § 105 [X.] f).

So ist es hier. Der Beklagte hat im Bescheid vom [X.] Sozialhilfe zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen diesen Bescheid ([X.] [X.] 190/09) war dabei die Höhe dieser Leistungen ab [X.]. Hiergegen haben sich die Kläger ohne zeitliche Begrenzung des [X.] gewandt. Auch in der Sache haben die Kläger ihr Klagebegehren nicht auf einzelne abtrennbare Regelungen des Bescheids begrenzt.

Durch Bescheide vom 3.3. und [X.] hat der Beklagte die Leistungen - erneut zeitlich unbegrenzt - der Höhe nach für die [X.] ab 1.4.2010 neu festgesetzt. Auch diese Bescheide sind - als Änderungsbescheide - nach § 96 Abs 1 [X.]G Gegenstand des früheren Klageverfahrens geworden, ohne dass hierdurch der Streitgegenstand begrenzt worden wäre. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom [X.] hat sodann (gestützt auf § 48 [X.]B X) den Bescheid vom [X.] aufgehoben. Für den [X.]raum ab 1.11.2010 ist er gemäß § 96 Abs 1 [X.]G vollständig an die Stelle des seinerseits nach § 96 Abs 1 [X.]G streitbefangenen Bescheids vom [X.] getreten. Da die Kläger den Streitgegenstand nicht begrenzt haben (s zuvor), kommt es nicht darauf an, welche Rechtsfolgen sich hieraus für das vorliegende Verfahren ergäben.

Die prozessuale Sperrwirkung des § 17 Abs 1 Satz 2 GVG endet zwar mit Abschluss des früheren Verfahrens; die Klagen bleiben aber dennoch unzulässig. Zwar steht ihrer Zulässigkeit nicht die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung entgegen (vgl zur Unzulässigkeit der Klage bei eingetretener Rechtskraft B[X.], Beschluss vom 17.12.2015 - [X.] [X.] 14/14 R). Das [X.] hat nämlich - in Verkennung der Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 3.3. und 10.3. sowie des Aufhebungsbescheids vom [X.] - mit seinem klageabweisenden Urteil nur über einen Teil des [X.], nämlich über den im Einleitungssatz des Tatbestands bezeichneten [X.]raum vom [X.] bis [X.], entschieden. Einen Antrag auf Ergänzung des Urteils (vgl § 140 [X.]G) haben die Kläger nicht gestellt; es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, dass ein solcher Antrag (aufgrund bewusster - wenn auch falscher - Entscheidung des [X.]) ohnehin unzulässig gewesen wäre (vgl nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 140 Rd[X.] 2c [X.]). Auch im Berufungsverfahren ist eine den Fehler des [X.] korrigierende gerichtliche Entscheidung betreffend den [X.]raum ab 1.11.2010 nicht ergangen. Zwar hätte der übergangene Anspruch Gegenstand einer Entscheidung im Berufungsverfahren werden können (vgl nur [X.], aaO, § 140 Rd[X.] 2a [X.]). Die Kläger haben jedoch ihre Berufungen gegen das die Klagen abweisende Urteil in der nichtöffentlichen Sitzung vom [X.] zurückgenommen, indem sie (ua) das "Verfahren L 20 [X.] 482/11 für erledigt erklärt" haben. Diese Erklärung kann nur als Berufungsrücknahme (§ 156 [X.]G) gewertet werden.

Dadurch ist zwar die Rechtshängigkeit der Klagen gegen die Bescheide, über die das [X.] unter Verkennung des § 96 [X.]G nicht entschieden hat, folglich auch die Rechtshängigkeit der Klagen gegen den hier streitgegenständlichen Bescheid vom [X.], entfallen (vgl nur [X.], aaO, § 140 Rd[X.] 3; [X.], Urteil vom [X.] - VIII ZR 133/04 - NJW-RR 2005, 790, 791) und dieser in Bestandskraft erwachsen (§ 77 [X.]G); die zwischenzeitlich unzulässig erhobenen gesonderten Klagen gegen diesen Bescheid können gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden (vgl [X.], aaO, § 140 Rd[X.] 3), ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist (vgl zu diesem Rechtsgedanken auch: B[X.]E 21, 13 ff = [X.] zu § 156 [X.]G; B[X.] SozR 4-1500 § 92 [X.] 2; BVerwGE 40, 25, 32; [X.], 4, 9 f; 189, 252, 255).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 [X.]G.

Meta

B 8 SO 1/15 R

09.12.2016

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Köln, 20. Juli 2011, Az: S 21 SO 546/10, Urteil

§ 96 Abs 1 SGG, § 77 SGG, § 94 SGG, § 156 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 17 Abs 1 S 2 GVG, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 09.12.2016, Az. B 8 SO 1/15 R (REWIS RS 2016, 1026)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 1026

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