Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.10.2019, Az. IX B 37/19

9. Senat | REWIS RS 2019, 2957

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde: Verfahrensmangel


Leitsatz

NV: Kommt das FG substantiierten Beweisanträgen (hier: Anträge auf --ergänzende-- Zeugenvernehmung) des Klägers nicht nach, sondern geht es pauschal davon aus, dass die weitere Beweiserhebung für die Entscheidung des Streitfalls unerheblich ist, liegt ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 06.02.2019 - 1 K 57/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] ([X.]) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der [X.]sordnung --[X.]O--).

2

1. Der gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) in [X.]estalt einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt vor. Denn das [X.] hat die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung dadurch verletzt, dass es weder die Zeugin S noch die Zeugin [X.] (erneut) vernommen hat.

3

a) Das [X.] ist gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O verpflichtet, von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen und ihn unter [X.] ernstlich in Betracht kommenden rechtlichen [X.]esichtspunkten zu prüfen. Es muss zwar nicht jeder noch so fern liegenden Erwägung nachgehen, wohl aber die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen. Daher muss es substantiierten Beweisanträgen der Beteiligten in der Regel nachkommen, "ins Blaue hinein" gestellten Beweisanträgen aber nicht (vgl. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 02.10.2012 - IX B 11/12, [X.], 218, m.w.N.). Die Sachaufklärungspflicht ist im Falle der Nichterhebung angebotener Beweise zudem nur dann verletzt, wenn das Urteil des [X.] auf der unterbliebenen Beweisaufnahme beruhen kann (Senatsbeschluss vom 15.07.2015 - IX B 38/15, [X.], 1431).

4

b) Im Streitfall hat es das [X.] unterlassen, die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) benannten [X.] und [X.] zu den Umständen der Postaufgabe der Einspruchsentscheidung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 1996 in der mündlichen Verhandlung (erneut) zu hören. Zutreffend hat der Kläger Beweisthema und Beweismittel benannt und dargelegt, welches Ergebnis die unterlassene Beweisaufnahme --seiner Auffassung nach-- erbracht hätte und wieso dieses Ergebnis zu einer anderen Entscheidung des [X.] hätte führen können (vgl. dazu [X.] vom 07.08.2018 - IX B 118/17, [X.], 1155, Rz 9; [X.]räber/ Ratschow, [X.]sordnung, 9. Aufl., § 116 Rz 48 f.; [X.], Die Unternehmensbesteuerung 2018, 416, 418).

5

aa) In materiell-rechtlicher Hinsicht hat das [X.] seiner Entscheidung --zu [X.] folgende [X.]rundsätze zu [X.]runde gelegt:

6

[X.]emäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs zu beweisen. Bestreitet ein Steuerpflichtiger, den Verwaltungsakt überhaupt bekommen zu haben, obliegt dem Finanzamt der volle Beweis über den Zugang. Ein Anscheinsbeweis kommt ihm hierbei nicht zugute. Eine Beweiserleichterung zugunsten des Finanzamts besteht auch nicht für den Fall, dass Verhältnisse gegeben sind, die den Zugang von Postsendungen bei normalem Postablauf nicht gewährleisten. Anders als im Falle der Behauptung eines verspäteten Zugangs des Verwaltungsakts kann von dem Adressaten des Verwaltungsakts, wenn dieser dessen Zugang bestreitet, auch nicht verlangt werden, er müsse dies substantiiert darlegen, weil er hierzu nicht in der Lage ist. Infolgedessen sind ergänzende Ausführungen des Steuerpflichtigen unbeachtlich, in denen er, nachdem er den Zugang eines Steuerbescheids bestritten hat, darlegt, aus welchen [X.]ründen ihn der Bescheid möglicherweise nicht erreicht hat. Auch in diesem Fall kann sich die tatrichterliche Beurteilung der Frage, ob der Bescheid überhaupt zugegangen ist, nicht auf eine rechtliche Würdigung dieses möglichen, ergänzend vorgetragenen [X.]eschehensablaufs beschränken. Es ist vielmehr notwendig, den Zugang des Verwaltungsakts mittels allgemeiner Beweisregeln nachzuweisen (BFH-Urteil vom 29.04.2009 - X R 35/08, [X.], 1777, beginnend ab [X.], Rz 19 f., m.w.N.). Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraums nach Absendung des Bescheids können im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung des Bescheids vom [X.] dahingehend gewürdigt werden, dass --entgegen der Behauptung des [X.] von einem Zugang des Bescheids ausgegangen wird ([X.] vom 14.02.2008 - X B 11/08, [X.], 743, Rz 7; vom 05.12.2013 - X B 262/12, [X.], 485, Rz 15).

7

bb) Auf der [X.]rundlage dieses materiell-rechtlichen Standpunkts hätte das [X.] die vom Kläger benannten [X.] und [X.] (erneut) vernehmen müssen.

8

(1) Der Kläger hat --zumindest sinngemäß-- beantragt, die (ohnehin zur mündlichen Verhandlung geladene und erschienene) Zeugin S zu den Fragen zu hören, wieso eine Recherche zur Bekanntgabeproblematik im Nachgang zur Erstellung des Aktenvermerks am 14.01.2015 erfolgte (vgl. klägerischen Schriftsatz vom 06.02.2019, Seite 5) und vor welchem Hintergrund die Zeugin bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der Einspruchsentscheidung für 1996 (23.06.2014) aufgrund des beim [X.] Mecklenburg-Vorpommern anhängigen Verfahrens 3 K 404/13 auf die von ihr vorgenommenen Absendevermerke unter exakter Bezeichnung der verwendeten [X.] sensibilisiert war (vgl. klägerischen Schriftsatz vom 06.02.2019, Seite 2). Die Antworten auf diese Fragen hätten bei der tatrichterlichen Beurteilung der Frage, ob dem Kläger die Einspruchsentscheidung zugegangen ist, Berücksichtigung finden müssen. Dem schließt sich der Senat an. Das [X.] hätte diese Umstände durch ergänzende Vernehmung der Zeugin S aufklären müssen. Es durfte nicht pauschal davon ausgehen, dass die weitere Beweiserhebung "für die Entscheidung des Streitfalls unerheblich" ist (s. im Urteil unter [X.] gg (3.) der Entscheidungsgründe).

9

Dem steht nicht entgegen, dass die Zeugin S bereits am 12.10.2017 vom Berichterstatter als beauftragtem [X.] vernommen worden war. Es kann dahinstehen, ob in der erneuten Vernehmung in der mündlichen Verhandlung am 06.02.2019 eine wiederholte Vernehmung (zum selben Beweisthema) oder nachträgliche Vernehmung i.S. des § 398 Abs. 1, 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) zu sehen gewesen wäre. Jedenfalls waren die vorgenannten tatsächlichen Umstände nicht explizit [X.]egenstand der Zeugenvernehmung am 12.10.2017, so dass eine Einschränkung der Beweiserhebung nicht gerechtfertigt erscheint.

(2) Zudem hat der Kläger --zumindest sinngemäß-- beantragt, die Zeugin [X.] zu den Abläufen bei der Erstellung der Einspruchsentscheidung im Juni 2014 und zu den Abläufen Anfang Januar 2015 zu vernehmen (vgl. auch den klägerischen Schriftsatz vom 20.12.2017, Seite 2, sowie den klägerischen Schriftsatz vom 06.02.2019, Seite 5). Die Zeugin würde bestätigen, dass trotz des Verfahrens 3 K 404/13 keine Veranlassung für die Sachbearbeiterin bestanden habe, derart genaue Versendevermerke zu erstellen, und dass die Sachbearbeiter der Rechtsbehelfstelle trotz der Anweisung zur möglichst kosteneffizienten Bearbeitung in besonders alten Fällen, in denen bereits in der Vergangenheit der Erhalt eines Verwaltungsakts bestritten worden sei, eine Bekanntgabe mittels Zustellungsurkunde veranlassten. Auch die Zeugenaussage zu diesen Umständen hätte bei der tatrichterlichen Beurteilung der Frage, ob dem Kläger die Einspruchsentscheidung zugegangen ist, Berücksichtigung finden müssen. Das [X.] durfte den Beweisantrag des [X.] nicht unter Hinweis auf die glaubhafte Aussage der Zeugin S als von vornherein "unerheblichen Einwand" (s. im Urteil unter I.1 a hh der Entscheidungsgründe) abtun.

cc) Der Kläger hat die unterbliebene (erneute) Vernehmung der [X.] und [X.] --anders als die fehlende Zeugeneinvernahme des (im erstinstanzlichen Verfahren bevollmächtigten) Steuerberaters [X.] ausweislich des insoweit maßgeblichen Sitzungsprotokolls (§ 94 [X.]O i.V.m. § 160 Abs. 4, § 164 ZPO) in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gerügt. Ein Verlust des Rügerechts (§ 155 [X.]O i.V.m. § 295 ZPO) ist daher nicht eingetreten.

c) Auf diesem Verfahrensmangel kann die Vorentscheidung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O beruhen. Denn auf der [X.]rundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des [X.] besteht die Möglichkeit, dass das Urteil bei mangelfreiem Verfahren anders ausgef[X.] wäre (vgl. dazu [X.] vom 29.10.2009 - IV B 5/09, [X.], 445, unter 2., Rz 5; [X.]räber/Ratschow, a.a.[X.], § 115 Rz 303 f.). Das [X.] hat seine Überzeugung von der Absendung der Einspruchsentscheidung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung für 1996 maßgebend auf die Aussage der Zeugin S gestützt. Hätte es die Zeugin S ergänzend zu den vom Kläger angeführten Umständen gehört und auch deren Sachgebietsleiterin ([X.]) als Zeugin vernommen, wäre eine andere Entscheidung zumindest nicht auszuschließen gewesen.

2. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob (zudem) der Anspruch des [X.] auf [X.]ewährung rechtlichen [X.]ehörs (Art. 103 Abs. 1 des [X.]rundgesetzes, § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 [X.]O) verletzt worden ist bzw. ob das [X.] gegen den klaren Inhalt der Akten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O) verstoßen hat.

3. Auf die Frage, ob die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O) oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (Divergenz, § 115 Abs. 2 Nr. 2  2. Alternative [X.]O) zuzulassen ist, kommt es ebenfalls nicht mehr an.

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O).

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX B 37/19

04.10.2019

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern, 6. Februar 2019, Az: 1 K 57/15, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 122 Abs 2 Nr 1 AO, § 76 Abs 1 S 1 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.10.2019, Az. IX B 37/19 (REWIS RS 2019, 2957)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 2957

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