Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2017, Az. 4 StR 619/16

4. Strafsenat | REWIS RS 2017, 13240

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Gegenstand

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Gefahr erheblicher Straftaten; Wahrscheinlichkeit zu erwartender Nachstellungen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 19. August 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf, entgegen einer Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz im Zeitraum von August 2014 bis Mai 2015 regelmäßig mit der Zeugin     [X.]über [X.] Kontakt aufgenommen (§ 4 GewSchG) und am 15. Januar 2016 anlässlich einer Gerichtsverhandlung einen Begleiter von Frau [X.]mit dem Tode bedroht zu haben (§ 241 StGB), wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen. Es hat seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Sachrüge des Angeklagten gestützte Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

2

1. Das Rechtsmittel ist nicht auf die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus beschränkt. Soweit die Revision lediglich deren Aufhebung beantragt, ist eine Rechtsmittelbeschränkung unwirksam (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; vgl. [X.], Beschluss vom 14. Februar 2017 - 4 StR 565/16).

3

2. a) Nach den Feststellungen war dem Angeklagten mit der ihm zugestellten Anordnung des Amtsgerichts - Familiengericht - [X.] vom 14. August 2014 u.a. gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GewSchG untersagt worden, mit der Zeugin [X.]in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen, auch „über [X.] Medien wie z. B. [X.]“. Das Familiengericht ordnete die sofortige Wirksamkeit seiner Entscheidung an, befristete sie bis zum 14. Mai 2015 und wies den Angeklagten auf die Strafbarkeit eines Verstoßes gegen die [X.] nach § 4 GewSchG hin. In Kenntnis dieser Anordnung nahm der Angeklagte zwischen dem 17. September 2014 und dem 14. Mai 2015 über das Internetportal [X.] Kontakt zu Frau [X.]auf, indem er ihr nahezu täglich Nachrichten - insgesamt mehrere 100 Seiten - zukommen ließ.

4

Am 15. Januar 2016 sagte der Angeklagte im Gebäude des [X.]s Konstanz während einer Verhandlungspause zu dem Zeugen   S.    u.a.: „Wenn ich dich noch einmal mit ihr sehe, mache ich dich weg: [X.] ...“; dabei machte er mit den Händen Schießbewegungen.   S.    nahm diese Drohung ernst.

5

b) Das [X.] hat den Angeklagten wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Es ist - sachverständig beraten - zu dem Ergebnis gelangt, dass „bei beiden Taten ... die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgrund einer krankhaften seelischen Störung in Form einer anhaltenden wahnhaften Störung erheblich eingeschränkt“ gewesen sei. „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner Wahnerkrankung bei beiden Taten sogar ganz aufgehoben war.“

6

3. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat keinen Bestand, weil sich bereits die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist.

7

a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der [X.] bei Begehung der [X.] aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Dazu ist eine konkrete Darlegung erforderlich, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 4. August 2016 - 4 [X.], insofern nicht abgedruckt in [X.], 747).

8

Die vom [X.] allein sicher festgestellte erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist. Fehlt dem Täter aus einem in § 20 StGB genannten Grund die Einsicht, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, ist auch bei verminderter Einsichtsfähigkeit nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschlüsse vom 15. Juli 2015 - 4 StR 277/15, [X.], 725, vom 17. Dezember 2014 - 3 [X.], vom 30. September 2014 - 3 StR 261/14, vom 17. April 2014 - 2 [X.], NJW 2014, 2738, vom 26. November 2013 - 3 StR 387/13 - und vom 2. August 2012 - 3 [X.], [X.], 71 [Ls] mwN).

9

b) Entgegen der Auffassung des [X.] in seiner Antragsschrift vom 27. Februar 2017 kann der Senat auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht entnehmen, dass die vom [X.] ausdrücklich allein festgestellte erhebliche Einschränkung der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten das Fehlen der Einsicht in das Unrecht seines Tuns bei den ihm zur Last gelegten [X.] zur Folge gehabt hätte (vgl. auch [X.], Beschluss vom 10. Dezember 2009 - 4 StR 437/09); hierzu verhält sich das Urteil an keiner Stelle.

4. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist auch der Freispruch des Angeklagten mit aufzuheben (vgl. [X.], Beschlüsse vom 14. Februar 2017 - 4 StR 565/16, vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, [X.], 74, 75, und vom 5. August 2014 - 3 StR 271/14, [X.]R StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1).

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:

Sollte die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf der Grundlage des § 63 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 erneut in Betracht gezogen werden, wird hinsichtlich der Gefährlichkeitsprognose zu berücksichtigen sein, dass Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, nicht ohne weiteres dem Bereich der erheblichen Straftaten zuzurechnen sind (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, [X.] 2014, 31, 32). Mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwartende Nachstellungen gemäß § 238 Abs. 1 StGB können indes je nach Lage des Einzelfalls hierfür ausreichen (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Juni 2014 - 4 [X.], [X.], 571, 572 f. mwN; s. auch [X.], Beschluss vom 27. Mai 2014 - 3 [X.]). Für die Frage, ob zu erwartende Drohungen gegen Personen aus dem Umfeld der Zeugin [X.]dem Bereich der Taten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen sind, verweist der Senat auf sein Urteil vom 22. Dezember 2016 - 4 StR 359/16.

Sost-Scheible     

       

Roggenbuck     

       

Cierniak

       

[X.]     

       

Bender     

       

Meta

4 StR 619/16

29.03.2017

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Konstanz, 19. August 2016, Az: 3 KLs 56 Js 1341/16

§ 63 StGB, § 238 Abs 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.03.2017, Az. 4 StR 619/16 (REWIS RS 2017, 13240)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 13240

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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