Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.07.2021, Az. 2 BvR 1195/21

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2021, 3649

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Mangels hinreichender Substantiierung unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen Haftfortdauerentscheidung - jedoch Anhaltspunkte dafür, dass die angegriffene Entscheidung den erhöhten Begründungsanforderungen für Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht wird


Tenor

1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, gegen einen Haftbefehl des [X.], einen Nichtabhilfebeschluss des [X.] und einen seine Beschwerde zurückweisenden Beschluss des [X.] Koblenz.

2

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 23. Oktober 2020 aufgrund des auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des [X.] vom selben Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft. Am 11. Mai 2021 verurteilte ihn das [X.] wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen sowie wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Das Urteil ist aufgrund der vom Beschwerdeführer eingelegten Revision nicht rechtskräftig. Ferner beschloss das [X.], den Haftbefehl des Amtsgerichts vom 23. Oktober 2020 aufrechtzuerhalten.

3

Der vom Beschwerdeführer gegen den Haftbefehl und den Haftfortdauerbeschluss des [X.]s vom 11. Mai 2021 eingelegten Beschwerde half das [X.] mit angegriffenem Beschluss vom 17. Mai 2021 nicht ab. Mit angegriffenem Beschluss vom 7. Juni 2021 wies das [X.] die Beschwerde als unbegründet zurück. Es liege weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Die beträchtliche Straferwartung werde nicht derart durch die bereits erlittene Untersuchungshaft gemindert, dass der bestehende Fluchtanreiz zu verneinen wäre. Der Beschwerdeführer befinde sich seit knapp acht Monaten in Untersuchungshaft. Damit drohe ihm im Falle der Rechtskraft des Urteils nach Anrechnung der Untersuchungshaft jedenfalls eine zu verbüßende Reststrafe von noch einem Jahr und zehn Monaten.

4

Zum voraussichtlichen Entlassungstermin führte das [X.] aus:

Eine Entlassung zum Halbstrafentermin kommt schon aufgrund der Höhe der Strafe nicht in Betracht (vgl. § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB: "…und diese zwei Jahre nicht übersteigt…"). Der Zweidrittelzeitpunkt berechnet sich unter Abzug der bereits erlittenen Untersuchungshaft auf noch ein Jahr.

5

Mit seiner fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie seiner Freiheitsrechte (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG). Das [X.] habe fehlerhaft den Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen. Unter anderem habe es übersehen, dass auch eine Entlassung zum [X.] nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB in Betracht komme. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig.

6

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, denn die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] sind nicht erfüllt. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unzulässig ist. Der [X.] genügt den Substantiierungs- und Begründungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] nicht.

7

1. Der Beschwerdeführer hat es versäumt, Lebenssachverhalt und Prozessgeschichte in einer eine tragfähige verfassungsrechtliche Prüfung ermöglichenden Weise mitzuteilen. Es fehlt insbesondere die inhaltliche Wiedergabe der Schriftsätze seines Verteidigers im [X.] in Bezug auf den angegriffenen Haftbefehl des [X.] und den Haftfortdauerbeschluss des [X.]. Ohne diese Wiedergabe kann nicht überprüft werden, ob die Verfassungsbeschwerde den Anforderungen an die materielle Subsidiarität genügt. Nach dem in § 90 Abs. 2 [X.] zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. [X.] 67, 157 <170>). Der Beschwerdeführer ist daher gehalten, über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken (vgl. [X.] 73, 322 <325>). Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt daher insbesondere, dass der Beschwerdeführer den prozessualen Anforderungen bei der Einlegung von Rechtsbehelfen genügt, sodass das höhere Gericht in eine sachliche Prüfung der Rüge eintreten kann (vgl. [X.] 87, 1 <32 f.>). Dies legt der Beschwerdeführer nicht dar. Das [X.] hat nicht die Aufgabe, vorgelegte Anlagen auf verfassungsrechtlich relevante Tatsachen oder auf verfassungsrechtlich relevanten Vortrag hin zu durchsuchen (vgl. [X.] 80, 257 <263>; 83, 216 <228>; [X.]K 19, 362 <363>).

8

2. Da die Verfassungsbeschwerde nicht den Substantiierungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.] genügt, kann auch nicht abschließend überprüft werden, ob der angegriffene Beschluss des [X.] Koblenz vom 7. Juni 2021 den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG gerecht geworden ist.

9

Es bestehen allerdings Anhaltspunkte dafür, dass die angegriffene Entscheidung des [X.] den erhöhten Begründungsanforderungen für Haftentscheidungen (vgl. [X.] 103, 21 <35 f.>; [X.]K 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>) nicht gerecht geworden ist. Der Beschluss vom 7. Juni 2021 enthält zwar aktuelle Ausführungen zu der voraussichtlich noch zu verbüßenden Reststrafe nach Anrechnung der Untersuchungshaft. Die Darlegungen des Senats deuten aber darauf hin, dass er die Möglichkeit der Aussetzung des Restes der Freiheitsstrafe zum [X.] nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB übersehen hat. Denn er hat zur Begründung einer nicht vorhandenen Möglichkeit zur Aussetzung zum Halbstrafentermin ausdrücklich lediglich auf § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB abgestellt. Es ist nicht auszuschließen, dass das [X.] bei einer Auseinandersetzung mit § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB im Hinblick auf eine Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu einem anderen Abwägungsergebnis gekommen wäre. Denn in diesem Fall wäre unter Anrechnung der bereits vollzogenen Untersuchungshaft von einer kürzeren noch zu vollstreckenden Freiheitsstrafe auszugehen gewesen. Da das [X.] zur Begründung seiner Entscheidung auf den prognostizierten weiteren Inhaftierungszeitraum des Beschwerdeführers abgestellt hat, hätte es daher zumindest angeben müssen, dass auch unter Berücksichtigung des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB eine Entlassung zum Halbstrafentermin fernliegend ist, um die getroffene Entscheidung intersubjektiv nachvollziehbar erscheinen zu lassen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 9. März 2020 - 2 BvR 103/20 -, Rn. 64).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 1195/21

29.07.2021

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Koblenz, 7. Juni 2021, Az: 2 Ws 324/21, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 Abs 1 S 1 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 93a Abs 2 BVerfGG, § 57 Abs 2 Nr 1 StGB, § 57 Abs 2 Nr 2 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.07.2021, Az. 2 BvR 1195/21 (REWIS RS 2021, 3649)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 3649

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2 BvR 103/20

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