Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.07.2010, Az. 10 B 7/10

10. Senat | REWIS RS 2010, 4856

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Verfahrensrüge; Verfehlung des Regelbeweismaßes richterlicher Überzeugungsgewissheit


Leitsatz

Verfehlt die Vorinstanz bei der Tatsachenfeststellung das Regelbeweismaß richterlicher Überzeugungsgewissheit, kann diese Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde ist mit der Rüge eines [X.] (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zulässig und begründet. Sie beanstandet zu Recht die Verletzung des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, denn das [X.]erufungsgericht hat den tatsächlichen Feststellungen als Grundlage seiner Prognose nicht den Maßstab der Überzeugungsgewissheit zugrunde gelegt. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das [X.]erufungsgericht zurück.

2

1. Das [X.]erufungsgericht geht bei der Prüfung des § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] davon aus, dass der Kläger nicht auf internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes [X.] gemäß § 60 Abs. 11 [X.] i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/[X.] verwiesen werden könne. Im [X.]ereich der Hauptstadt [X.] könnten auch jungen ledigen Männern im Falle ihrer zwangsweisen Rückführung sog. Extremgefahren drohen, wenn mangels ausreichender Schul- oder [X.]erufsausbildung, Vermögens oder Grundbesitzes und insbesondere eines funktionierenden Netzwerks durch Familie oder [X.]ekannte nicht sichergestellt sei, dass sie dort eine menschenwürdige Existenzgrundlage finden könnten. Davon müsse auch im Falle des nunmehr vierzigjährigen Klägers ausgegangen werden, der aus der ländlichen Region südlich [X.]s stamme. Der Kläger halte sich inzwischen fast acht Jahre in [X.] auf, sei mit den Verhältnissen in der Hauptstadt [X.] nicht vertraut, habe keine [X.]erufsausbildung erhalten, sondern lediglich in seinem ländlichen [X.]ereich einen Lebensmittelladen geführt. Dort habe er "möglicherweise" noch Grundbesitz, den er für ein Überleben in [X.] aber "kaum" werde nutzen können ([X.] 19).

3

Im Hinblick darauf macht die [X.]eschwerde als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend, das [X.]erufungsgericht habe § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Der Verwaltungsgerichtshof habe sich nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit davon gebildet, dass der Kläger keine Vermögenswerte in [X.] besitze, die er außerhalb seines [X.] nutzen könne. Auf dieser [X.] getroffenen Feststellung beruhe die angefochtene Entscheidung.

4

2. Die Grundsätze der [X.]eweiswürdigung sind revisionsrechtlich nach ständiger Rechtsprechung des [X.] grundsätzlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (vgl. nur [X.]eschlüsse vom 12. Januar 1995 - [X.]VerwG 4 [X.] - [X.] 406.12 § 22 [X.] Nr. 4 S. 4 = NVwZ-RR 1995, 310; vom 2. November 1995 - [X.]VerwG 9 [X.] - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 266 S. 18 f. = NVwZ-RR 1996, 359 und vom 18. April 2008 - [X.]VerwG 8 [X.] 105.07 - [X.] 2008, 168, jeweils m.w.[X.]). Ein Verfahrensfehler kann aber ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die [X.]eweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet ([X.]eschlüsse vom 25. Juni 2004 - [X.]VerwG 1 [X.] 249.03 - [X.] 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 284 und vom 16. Juni 2003 - [X.]VerwG 7 [X.] 106.02 - NVwZ 2003, 1132 <1135>, jeweils m.w.[X.]). So kann z.[X.]. ein Verstoß gegen die Denkgesetze als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügt werden, wenn er nicht die Anwendung des materiellen Rechts betrifft, sondern - dieser gleichsam vorgelagert - sich ausschließlich auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und damit dem [X.] zuzuordnen ist ([X.]eschluss vom 3. April 1996 - [X.]VerwG 4 [X.] 253.95 - [X.] 310 § 108 VwGO Nr. 269; Urteil vom 19. Januar 1990 - [X.]VerwG 4 C 28.89 - [X.]VerwGE 84, 271 <272 ff.>). Diese Verfahrensrüge greift aber nur durch, wenn das Gericht einen Schluss gezogen hat, der schlechterdings nicht gezogen werden kann. Ein Tatsachengericht hat nicht schon dann gegen Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des [X.]eschwerdeführers unrichtige oder fernliegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig genügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolgerungen. Es muss sich vielmehr um einen aus Gründen der Logik schlechthin unmöglichen Schluss handeln ([X.]eschlüsse vom 8. Juli 1988 - [X.]VerwG 4 [X.] 100.88 - [X.] 310 § 96 VwGO Nr. 34 und vom 19. August 1997 - [X.]VerwG 7 [X.] 261.97 - NJW 1997, 3328).

5

Auch das Vorbringen, das Gericht habe den Sachverhalt "aktenwidrig" festgestellt, kann einen Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO betreffen. Eine derartige Verfahrensrüge, die den Grundsatz der freien [X.]eweiswürdigung und das Gebot sachgerechter Ausschöpfung des vorhandenen Prozessstoffs betrifft, kann nur Erfolg haben, wenn zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt ein offensichtlicher, keiner weiteren [X.]eweiserhebung bedürftiger "zweifelsfreier" Widerspruch vorliegt ([X.]eschlüsse vom 19. November 1997 - [X.]VerwG 4 [X.] 182.97 - [X.] 406.11 § 153 [X.]auG[X.] Nr. 1 und vom 16. März 1999 - [X.]VerwG 9 [X.] 73.99 - [X.] 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7).

6

Diese Fallvarianten aus der Rechtsprechung des [X.] zeigen, dass die Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Rahmen der Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung ausnahmsweise dann als Verfahrensmangel i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO angesprochen werden kann, wenn der gerügte Fehler sich hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts abgrenzen lässt. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die Sachverhalts- und [X.]eweiswürdigung dem Tatrichter obliegt. Daher liegt ein Verfahrensmangel bei der [X.]eweiswürdigung nur dann vor, wenn der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier [X.]eweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten [X.] verlassen hat. Das ist u.a. dann der Fall, wenn er eine schlechthin unmögliche Schlussfolgerung gezogen hat oder von einer Annahme ausgegangen ist, die in zweifelsfreiem Widerspruch zum eindeutigen Akteninhalt steht, der keine unterschiedliche Würdigung zulässt.

7

3. Diesen Einschränkungen, unter denen ein Angriff gegen die [X.]eweiswürdigung der Vorinstanz mit Erfolg als Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht werden kann, wird auch die hier vorliegende Rüge der Verfehlung des von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorausgesetzten [X.] gerecht. Denn das [X.]erufungsgericht ist nicht etwa davon ausgegangen, dass § 60 Abs. 11 [X.] i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/[X.] hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums nur ein abgesenktes [X.]eweismaß verlangt. Vielmehr hat es seiner Prognose im Ansatz - unausgesprochen - den Maßstab der Überzeugungsgewissheit gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zugrunde gelegt. Greift die [X.]eschwerde darauf aufbauend die konkrete [X.]eweiswürdigung bei Stellung der Prognose als Element der Tatsachenfeststellung an, lässt sich dieser Mangel von der korrekten Anwendung der materiellrechtlichen Vorschrift des § 60 Abs. 11 [X.] i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/[X.] abschichten und kann daher Gegenstand einer Verfahrensrüge sein.

8

Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Würdigung des [X.]erufungsgerichts zu der Frage, ob am Ort des internen Schutzes zumindest das Existenzminimum des Kläger gesichert ist, bringt hinsichtlich des [X.]esitzes bzw. der Verwertbarkeit von Grundbesitz nur die Möglichkeit zum Ausdruck, dass es sich so wie von ihm beschrieben verhalten könnte. Es handelt sich auch nicht nur um missverständliche Formulierungen des [X.]erufungsgerichts, denn möglich ist nach seinen "Feststellungen" auch der gegenteilige Sachverhalt. Für die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche richterliche Überzeugungsgewissheit von der Richtigkeit der tatsächlichen Grundlagen sowie der darauf aufbauenden Prognose reicht das nicht aus (Urteile vom 15. Mai 1990 - [X.]VerwG 9 C 17.89 - [X.]VerwGE 85, 139 <147 f.> und vom 20. November 1990 - [X.]VerwG 9 C 72.90 - [X.]VerwGE 87, 141 <151>). [X.] der Tatrichter das durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene [X.]eweismaß, hat er den ihm durch das Prozessrecht eröffneten Spielraum bei der Tatsachenwürdigung verlassen. Auf diesem Mangel beruht die angefochtene Entscheidung, da nach der eigenen Annahme des [X.]erufungsgerichts die Frage mangelnden Vermögens oder Grundbesitzes bzw. der Verwertbarkeit des Grundbesitzes für das [X.]estehen oder Fehlen internen Schutzes entscheidungserheblich ist ([X.] 19).

9

4. Der Senat verweist die Sache im Interesse der Verfahrensbeschleunigung nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der [X.]erufungsentscheidung an das [X.]erufungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück. Auf das weitere Vorbringen der [X.]eschwerde kommt es daher nicht mehr an. Für die weitere Sachbehandlung ist jedoch anzumerken, dass das [X.]erufungsgericht bei der Prüfung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] die Anforderungen zu beachten hat, die im Urteil des Senats vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 C 4.09 - Rn. 33 (zur [X.] in der Sammlung [X.]VerwGE vorgesehen) näher beschrieben sind. Danach ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit [X.]lick auf die Zahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Insoweit können auch die für die Feststellung einer Gruppenverfolgung im [X.]ereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Kriterien entsprechend herangezogen werden.

Meta

10 B 7/10

14.07.2010

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 25. Januar 2010, Az: 8 A 303/09.A, Urteil

§ 60 Abs 7 S 2 AufenthG 2004, § 60 Abs 11 AufenthG 2004, Art 8 EGRL 83/2004, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.07.2010, Az. 10 B 7/10 (REWIS RS 2010, 4856)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4856

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

10 B 1/11, 10 B 1/11, 10 PKH 1/11 (Bundesverwaltungsgericht)

Abschiebungsverbot; Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung; richterliche Überzeugungsgewissheit bei Wahrscheinlichkeitsaussage


10 B 19/13 (Bundesverwaltungsgericht)

Gerichtliche Sachaufklärung; Beweiswürdigung; Verfahrensmangel


1 B 2/21 (Bundesverwaltungsgericht)

Mangels Darlegung unzulässige Nichtzulassungsbeschwerde zu § 3a Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 3 AsylG …


1 B 3/21 (Bundesverwaltungsgericht)


6 B 55/20 (Bundesverwaltungsgericht)

Anerkennung einer Sanitätsoffizierin als Kriegsdienstverweigerin


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.