Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.09.2012, Az. 2 BvR 1766/12

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2012, 2740

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgarantie durch überhöhte Anforderungen an Voraussetzungen für Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - hier: Rechtsbehelf gegen ohne Rechtsbehelfsbelehrung ergangenen Widerruf einer Gnadenentscheidung


Tenor

1. Der Antrag auf Zulassung von [X.] als Beistand wird abgelehnt.

2. Der Beschluss des [X.] vom 24. August 2012 - 2 VAs 5/12 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

3. Der Beschluss des [X.] vom 24. August 2012 - 2 VAs 5/12 - wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Koblenz zurückverwiesen.

4. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

5. ...

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Gerichtsentscheidung über den Widerruf einer Gnadenentscheidung.

I.

2

Mit Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2006 wurde die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers aus dem [X.], deren Aussetzung zur Bewährung 2005 widerrufen worden war, erneut zur Bewährung ausgesetzt.

3

Mit Gnadenentscheidung vom 21. Dezember 2011, die dem Beschwerdeführer formlos übersandt wurde, wurde der erteilte [X.] widerrufen. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war der Entscheidung nicht beigefügt.

4

Mit Schriftsatz vom 17. Juli 2012 beantragte der Beschwerdeführer durch einen Prozessbevollmächtigten beim [X.] die Aufhebung des Widerrufs und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Antragsfrist. Dem Beschwerdeführer sei die Monatsfrist für einen Rechtsbehelf gegen den Widerruf des [X.]es nicht bekannt gewesen, da die Entscheidung über den Widerruf keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten habe. Kenntnis von der Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung nach §§ 23 ff. [X.] und der Antragsfrist habe der Beschwerdeführer erst durch seinen am 9. Juli 2012 beauftragten Prozessbevollmächtigten erlangt.

5

Das [X.] verwarf die beiden Anträge des Beschwerdeführers als unzulässig. Da die Belehrung über das Antragsrecht nach §§ 23 ff. [X.] nicht gesetzlich vorgeschrieben sei, stehe ihr Fehlen dem Fristbeginn nicht entgegen. Sei die Antragstellung verspätet, weil der Antragsteller die Antragsberechtigung oder Antragsfrist nicht gekannt habe, fehle es an einem Verschulden nur dann, wenn er alles ihm billigerweise Zumutbare getan habe, um die der Fristwahrung entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen. Es hätte am Beschwerdeführer gelegen, sich unverzüglich nach Zugang der Gnadenentscheidung nach Rechtsbehelfen zu erkundigen. Dass der Beschwerdeführer dieser Erkundigungspflicht nachgekommen wäre, sei weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht.

II.

6

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des [X.]. Der Widerruf des [X.]es verstoße gegen die Gnadenordnung [X.], nach welcher die Gesamtdauer der Bewährungszeit fünf Jahre nicht übersteigen dürfe. Er sei ohne sein Verschulden gehindert gewesen, die Frist von einem Monat ab Bekanntgabe der Entscheidung einzuhalten. Da der Widerruf keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten habe, sei ihm die Rechtsbehelfsfrist bis zur Beauftragung eines Rechtsanwalts im Juli 2012 nicht bekannt gewesen. Das [X.] habe seine Menschenwürde missachtet und gegen Art. 1, 2, 3, 6, 7, 8, 9 und 10 "GG" verstoßen. Der Beschwerdeführer gibt hierzu den Text der entsprechenden Artikel der [X.] wieder, unter anderem auch den Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten (Art. 8 [X.]) und den Anspruch auf ein gerechtes Verfahren (Art. 10 [X.]).

7

Der Beschwerdeführer beantragt zudem den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Zulassung von [X.] als Beistand, um etwaige Nachteile aufgrund seiner Inhaftierung zu vermeiden.

III.

8

Das Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz [X.] führt aus, die im Gnadenbeschwerdeverfahren als Bevollmächtigte des Beschwerdeführers aufgetretene [X.] sei mit Schreiben vom 2. Januar 2012 darauf hingewiesen worden, dass beim Widerruf eines [X.]es "- unter bestimmten Voraussetzungen - eine gerichtliche Überprüfung durch das [X.]" in Betracht komme. Am 24. Januar 2012 sei sie darauf hingewiesen worden, dass für die Anrufung des [X.]s eine Monatsfrist gelte beziehungsweise gegolten habe. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben vorgelegen.

B.

I.

9

[X.] ist nicht als Beistand zuzulassen. Die Entscheidung über den Antrag auf Zulassung als vertretungsberechtigter Beistand nach § 22 Abs. 1 Satz 4 [X.] steht im pflichtgemäßen Ermessen des [X.]. Eine Zulassung als Beistand kommt nur in Betracht, wenn sie objektiv sachdienlich und subjektiv notwendig ist (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 1. Februar 1994 - 1 BvR 105/94 -, NJW 1994, S. 1272; Beschluss des [X.] vom 22. Januar 2001 - 2 BvC 15/99 -, juris Rn. 2; Beschluss der [X.] des [X.] von 9. März 2011 - 1 BvR 142/11 -, juris Rn. 2). Für die Sachdienlichkeit und Notwendigkeit der Zulassung von [X.] als Beistand bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte. Der bloße Verweis des Beschwerdeführers auf seine Inhaftierung macht noch nicht plausibel, weshalb es ihm unzumutbar wäre, sich durch eine der in § 22 Abs. 1 Satz 1 [X.] genannten Personen vertreten zu lassen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 26. Februar 2003 - 2 BvR 1464/02 -, juris), und inwiefern die Zulassung von [X.] als Beistand - auch noch im jetzigen Verfahrensstadium - zur Erleichterung der Wahrnehmung rechtlicher Interessen gegenüber dem Gericht angezeigt wäre.

II.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Der Verfassungsbeschwerde ist von der Kammer stattzugeben, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen vom [X.] bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie genügt im Hinblick auf das sinngemäß als verletzt gerügte Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Substantiierungsanforderungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 [X.]). Das Vorbringen, dass er ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Monatsfrist einzuhalten, macht in Verbindung mit der Wiedergabe des Textes von Art. 8 der [X.] noch hinreichend deutlich, dass der Beschwerdeführer der Sache nach die Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch die Ablehnung seines Wiedereinsetzungsantrags rügt. Einer ausdrücklichen Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels bedarf es nicht ([X.]E 47, 182 <187>; stRspr). Die übrigen [X.] des Beschwerdeführers richten sich inhaltlich gegen den - mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffenen - Widerruf der Gnadenentscheidung und betreffen den Beschluss des [X.]s daher nicht.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert den effektiven Zugang zu Gericht. Das Grundrecht gewährt einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (vgl. [X.]E 41, 23 <26>; 49, 329 <341>; 77, 275 <284>). Im Hinblick auf die Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dürfen die Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden (vgl. [X.]E 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 69, 381 <385>; 110, 339 <342>; stRspr).

Die Erteilung einer Rechtsbehelfsbelehrung kann von Verfassungs wegen geboten sein (vgl. [X.]K 16, 114 <115>). Dies gilt dann, wenn sie erforderlich ist, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtswegs auszugleichen, die die Ausgestaltung eines Rechtsbehelfs andernfalls mit sich brächte (vgl. [X.]E 92, 99 <108>; siehe auch aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung [X.], 199 <203>). Unter bestimmten Voraussetzungen kann nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG allein schon das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung dazu führen, dass die Versäumung einer Rechtsbehelfsfrist als unverschuldet anzusehen ist (vgl. [X.]K 16, 114 <115>; aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung [X.], 199 <205>). Dies gilt insbesondere bei anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführern und wenig bekannten oder in ihren Anforderungen komplexen Rechtsbehelfen.

b) Diese Grundsätze hat das [X.] verkannt. Die [X.] ist komplex und bedarf differenzierter Beurteilung (vgl. [X.]E 25, 352 <358 ff.; 363 ff.>; 30, 108 <310 f.>; 45, 187 <242 f.>; 66, 337 <363>). Ihre Kenntnis kann beim Rechtssuchenden allgemein und jedenfalls beim Beschwerdeführer als juristischem Laien nicht vorausgesetzt werden, zumal sich aus der Gnadenordnung [X.] keine Anhaltspunkte für einen möglichen Rechtsbehelf ergeben.

Aus der komplexen Rechtslage hinsichtlich der [X.] folgt, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung von Verfassungs wegen erforderlich ist. Ob schon einfachrechtlich - etwa in analoger Anwendung des für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geltenden § 35a StPO - eine Belehrungspflicht besteht, kann offen bleiben. Das [X.] hätte die verfassungsrechtliche Gebotenheit einer Rechtsbehelfsbelehrung in seine Prüfung einstellen (zur einfachrechtlichen Rechtslage vgl. [X.], 199 <205>) und sich mit den Auswirkungen ihres Unterbleibens als eines der staatlichen Sphäre zuzuordnenden Fehlers auseinandersetzen müssen (vgl. etwa [X.]E 75, 183 <189 f.>; 110, 339 <342 ff.>). Dadurch, dass es dem Beschwerdeführer ohne Berücksichtigung dieses Aspekts Erkundigungspflichten über die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs auferlegt, überspannt es die Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach § 26 [X.] in verfassungswidriger Weise. Ob und wie sich die Mitteilungen des [X.] an [X.] vom 2. und 24. Januar 2012 auf die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung auswirken, obliegt zunächst der Prüfung durch die Fachgerichte.

III.

Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. [X.]E 34, 293 <307>; 84, 192 <192>).

IV.

Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Meta

2 BvR 1766/12

27.09.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Koblenz, 24. August 2012, Az: 2 VAs 5/12, Beschluss

Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 22 Abs 1 S 4 BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, §§ 23ff GVGEG, § 23 GVGEG, § 26 GVGEG, Art 8 MRErkl, VVRP-321500-JM-19951016-SF

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 27.09.2012, Az. 2 BvR 1766/12 (REWIS RS 2012, 2740)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2740

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