Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2023, Az. AK 20/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 3080

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Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte ist am 14. November 2022 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 9. November 2022 (1 [X.] 539/22 [X.]) festgenommen worden. Seither befindet er sich ununterbrochen in Untersuchungshaft, ab dem 3. Mai 2023 aufgrund des vom Ermittlungsrichter des [X.] an diesem Tag erlassenen Haftbefehls (1 [X.] 711/23 [X.]), der den zunächst vollzogenen ersetzt hat.

2

Gegenstand des aktuellen Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe von März 2020 bis zum 14. November 2022 in [X.], [X.]      und anderenorts für den Geheimdienst einer fremden Macht ([X.]) eine geheimdienstliche Agententätigkeit gegen die [X.] ausgeübt, die auf die Mitteilung und Lieferung von Tatsachen, Gegenständen und Erkenntnissen gerichtet gewesen sei, strafbar gemäß § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

5

a) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte von März 2020 bis zu seiner Festnahme für den [X.] Auslandsnachrichtendienst „Direction Générale des [X.]“ (im Folgenden: [X.]) in [X.] und im [X.] Ausland lebende [X.] Oppositionelle ausspionierte:

6

aa) Der Beschuldigte, der [X.]r Staatsangehöriger ist und der Volksgruppe der [X.] angehört, wuchs im Norden [X.]s in der Umgebung des [X.] auf. [X.] schloss er sich der sog. [X.] an, einer im Spätsommer 2016 entstandenen oppositionellen [X.], die sich insbesondere für die Rechte und Freiheiten der Bevölkerung in der nord[X.] [X.] engagiert. Nachdem sich vor allem ab dem [X.] innerhalb dieser Bewegung ein separatistischer Zweig gebildet hatte, der eine vom Königreich [X.] gänzlich unabhängige [X.] forderte, distanzierte sich der Beschuldigte von ihr.

7

bb) Ab März 2020 spähte der Beschuldigte im Auftrag der [X.] [X.] und andere Oppositionelle in erster Linie in [X.], daneben in anderen [X.] Ländern aus. Hierzu stand er von März 2020 bis März 2022 zunächst mit dem damaligen Vize-Konsul und Leiter der am Generalkonsulat in [X.]       angesiedelten‚ verdeckt agierenden Legalresidentur des [X.] Auslandsnachrichtendiensts vornehmlich über [X.], aber auch persönlich und telefonisch in Kontakt, spätestens ab Ende Oktober 2021 zudem mit seinem nicht identifizierten nachrichtendienstlichen Führungsoffizier in [X.], den er mit „     “ ansprach. Dabei übermittelte der Beschuldigte teils eigeninitiativ, teils auftragsgemäß gewünschte Informationen. Im Gegenzug für diese Tätigkeit wurden ihm Gefälligkeiten erwiesen und Kosten für Reisen übernommen, die zwar teilweise auch geheimdienstlich bedingt waren, zugleich aber vor allem privaten Interessen dienten.

8

Insbesondere handelte es sich um die beiden folgenden Komplexe von Informationsbeschaffungen:

9

(1) Der Beschuldigte erhielt zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor dem 30. März 2022 von „      “ den Auftrag, Erkenntnisse zu einem Oppositionellen namens „    “ zu gewinnen. Nachdem der Beschuldigte der [X.] nach eigenen Recherchen zunächst die Personalien einer falschen Person mitgeteilt hatte, wandte er sich an den gesondert Verfolgten E.       , der erklärte, bei dem Gesuchten handele es sich um einen ihm bekannten verdeckten Aktivisten aus dem Raum [X.]       . Der Beschuldigte veranlasste den gesondert Verfolgten, die Personalien dieses „   “ preiszugeben, und leitete sie an den Auslandsnachrichtendienst weiter. In diesem Zusammenhang lieferte er zusätzlich Informationen zu einer Kontaktperson des Gesuchten, die aufgrund ihres oppositionellen Engagements ebenfalls im Aufklärungsinteresse der [X.] Behörden stand.

(2) Ab Mai 2022 betätigte sich der Beschuldigte auftragsgemäß gegen eine Gruppe um zwei in [X.] lebende, jedoch überwiegend in [X.] agierende Hirak-Aktivisten. Sie stand aufgrund ihrer Forderung nach einer von [X.] unabhängigen eigenen [X.] im Fokus der [X.] Geheimdienste.

Gemeinsam unter anderem mit dem gesondert Verfolgten       E.     trug der Beschuldigte Informationen über die beiden deutsch-[X.] Staatsangehörigen und ihre Gefolgsleute sowie die von ihnen geplanten Veranstaltungen zusammen. Er unterstellte der Gruppe Kontakte zum algerischen Geheimdienst. Über seine Mobiltelefone recherchierte er im [X.]; er interviewte Journalisten und andere Oppositionelle‚ wobei er in einem Fall die Unterredung mit seiner Smart-Watch ohne Wissen seines Gesprächspartners aufzeichnete. Anschließend übermittelte der Beschuldigte die zusammengestellten Erkenntnisse per Mobiltelefon an seine nachrichtendienstliche Führungsstelle in [X.]. Ein auf Verlangen des „      “ vom Beschuldigten erstellter und im Oktober 2022 übersandter Bericht enthielt Informationen wie beispielsweise Aufenthaltsorte, Aktivitäten und Kontaktpersonen zu den beiden Aktivisten und weiteren Oppositionellen, die der Gruppe angehörten bzw. mit ihr in Verbindung standen. Darunter befand sich ein zuletzt in den [X.] wohnhafter [X.] Staatsangehöriger, der anschließend im Februar 2023 während einer privaten Reise nach [X.] von den dortigen Behörden festgenommen wurde.

cc) Dem Beschuldigten war bewusst, dass er die ausgespähten Personen mit der Weitergabe ihrer Daten an die [X.] in Gefahr brachte. Er nahm zumindest billigend in Kauf, dass sich seine auf im Inland lebende [X.] Oppositionelle bezogene Tätigkeit auch gegen Interessen der [X.] richtete.

dd) Im Übrigen wird auf den vollzogenen und vorgelegten Haftbefehl verwiesen.

b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich hinsichtlich des [X.] Auslandsnachrichtendiensts [X.] und der oppositionellen [X.] aus [X.] des [X.], des [X.] und des Bundesnachrichtendiensts, den Ergebnissen der ergänzenden Ermittlungen des [X.] sowie den Aussagen zweier Zeugen. Hinsichtlich der Aktivitäten des Beschuldigten in dieser Bewegung und seiner konkreten Tätigkeit für die [X.] wird der dringende Tatverdacht bereits im Wesentlichen durch seine weitgehend geständige Einlassung begründet. Die Angaben werden insbesondere durch die vom [X.] aus [X.] gewonnenen Erkenntnisse, durch die Ergebnisse der weiteren Telekommunikationsüberwachung und der Auswertung asservierter elektronischer Speichermedien sowie durch die Bekundungen der beiden Zeugen bestätigt und ergänzt. Wegen der Einzelheiten wird auf den aktuellen Haftbefehl Bezug genommen.

c) In rechtlicher Hinsicht ist die dem Beschuldigten angelastete Tat als geheimdienstliche Agententätigkeit nach § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu beurteilen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er für einen [X.] Geheimdienst in einer die Arbeit von Agenten und anderen Hilfspersonen solcher Dienste kennzeichnenden, auf Mitteilung und Lieferung von Tatsachen oder Erkenntnissen gerichteten Vorgehensweise tätig. Dieses Handeln war gegen die Interessen der [X.] gerichtet, weil von den mutmaßlichen Ausforschungen [X.] Staatsangehörige (vgl. [X.], Urteil vom 19. Oktober 2017 - 3 [X.], [X.], 590, 593; Beschluss vom 4. April 2019 - StB 54/18 u.a., [X.], 177, 179) und Personen betroffen waren, die sich im Bundes-gebiet unter dem Schutz des Art. 5 [X.] in legaler Weise politisch betätigten, ohne Mitglied oder Unterstützer einer von der [X.] gelisteten ausländischen terroristischen Vereinigung zu sein (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. Januar 2015 - 3 StR 551/14, [X.]St 60, 158 Rn. 6 ff.; vom 31. August 2016 - AK 46/16, [X.], 153, 154; vom 29. Juni 2017 - AK 30/17, [X.], 275, 276; zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 99 StGB durch § 1 Abs. 1 Nr. 4 des [X.] auf andere Vertragsstaaten der [X.] mit in [X.] stationierten Truppen s. [X.], Beschlüsse vom 18. Mai 2016 - AK 25/16, juris Rn. 12 f., vom 5. Oktober 2018 - StB 43/18, juris Rn. 34; LK/Barthe/[X.], StGB, 13. Aufl., § 99 Rn. 11 mwN).

2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Im Fall einer Verurteilung hat der Beschuldigte, wenngleich er in [X.] - anders als in [X.] - nicht vorbestraft ist, mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dies begründet einen erheblichen Fluchtanreiz, dem keine hinreichenden fluchthemmenden Umstände entgegenstehen.

Der Beschuldigte ist [X.]r Staatsangehöriger und unmittelbar an dortige nachrichtendienstliche Mitarbeiter angebunden. Er kann mit einer Unterstützung durch [X.] Stellen rechnen, die ein Interesse daran haben, einen Strafprozess gegen ihn zu vermeiden, in dem die Aktivitäten eines dortigen Auslandsnachrichtendiensts in [X.] öffentlich verhandelt werden.

In [X.] hat der Beschuldigte keinen festen Wohnsitz. Nach den Ergebnissen der Telefonüberwachung beabsichtigte er, ins [X.] Ausland auszuwandern. Zuletzt war er ohne Arbeit. Zwar verfügt er über [X.] Bindungen im Inland: Sowohl seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter als auch seine Eltern und weitere Verwandte halten sich derzeit in [X.] auf. Jedoch lebt er schon länger von seiner Ehefrau getrennt und beabsichtigt die Scheidung; auch das Verhältnis zu seinen Eltern scheint nach im Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnissen angespannt.

Wegen näherer Einzelheiten zu den die Fluchtgefahr begründenden Umständen wird auf den aktuellen Haftbefehl Bezug genommen.

3. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 Abs. 1 StPO) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

4. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Die [X.] umfassen mittlerweile 14 Bände. Das Ermittlungsverfahren ist in einer dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen genügenden Weise gefördert worden:

Bei der Durchsuchung der Person und der Wohnung des Beschuldigten am Tag seiner Festnahme am 14. November 2022 sind 24 Asservate sichergestellt worden, darunter acht Smartphones, ein Mini-PC und eine Speicherkarte. Die Untersuchung, Auslesung und Auswertung dieser Speichermedien hat sich zeit- und arbeitsintensiv gestaltet. Der hohe Aufwand ist vor allem darin begründet gewesen, dass es sich um eine große Menge zu sichtender und auszuwertender Dateien gehandelt hat, teilweise die kriminaltechnische Aufbereitung der Datenträger erforderlich gewesen ist und nahezu alle Inhalte in [X.] oder [X.]isch verfasst sind.

Darüber hinaus haben die Ermittlungen etwa die Beiziehung, Sichtung und Auswertung umfangreicher Unterlagen, die Durchführung von Finanzermittlungen, die Identifizierung und Aufklärung der Ausforschungsziele des Beschuldigten, verschiedene Erkenntnisanfragen insbesondere an [X.] Nachrichtendienste sowie die Vernehmung von vier Zeugen umfasst. Aufgrund des grenzüberschreitenden Sachverhalts ist zudem ein internationaler polizeilicher Erkenntnisaustausch erforderlich gewesen. Daran anschließend hat die [X.] mehrere Rechtshilfeersuchen gestellt.

Um das Recht der inhaftierten Beschuldigten auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]) zu gewährleisten, hat der [X.] nach der Festnahme des Beschuldigten das Ermittlungsverfahren gegen den zunächst Mitbeschuldigten abgetrennt und fertigt nunmehr die Anklageschrift. Er beabsichtigt die zeitnahe Anklageerhebung, ohne die Beantwortung der Rechtshilfeersuchen abzuwarten.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen in der Antragsschrift des [X.]s vom 27. April 2023 sowie die Aufstellung im Vermerk des [X.] zum Umfang und Aufwand der Ermittlungen vom 24. April 2023 verwiesen.

5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Schäfer                    [X.]

Meta

AK 20/23

17.05.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17.05.2023, Az. AK 20/23 (REWIS RS 2023, 3080)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3080

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