Bundesfinanzhof, Urteil vom 17.12.2015, Az. VI R 78/13

6. Senat | REWIS RS 2015, 441

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Gegenstand

Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastungen


Leitsatz

1. NV: Kosten eines Arzthaftungsprozesses können als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sein, wenn der Steuerpflichtige ohne die Geltendmachung des (vermeintlichen) Anspruchs Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren oder seine lebensnotwendigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können .

2. NV: Davon kann beispielsweise auszugehen sein, wenn die Zivilklage auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine existentiell wichtige Entschädigung als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen zielt und ein Werbungskostenabzug der streitigen Aufwendungen nicht in Betracht kommt .

3. NV: Ansprüche wegen immaterieller Schäden betreffen den existentiellen Bereich des § 33 EStG hingegen nicht .

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 4. April 2013  13 K 850/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob im Zusammenhang mit einem [X.] angefallene Gutachterkosten als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sind.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte, Kosten für ein Gutachten im Rahmen eines [X.]es in Höhe von 1.500 € bei der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr (2010) als außergewöhnliche Belastungen gemäß § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) berücksichtigte die geltend gemachten Aufwendungen jedoch nicht. Das Finanzgericht ([X.]) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Nach der grundlegenden Änderung der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) zur Anerkennung von Aufwendungen für einen Zivilprozess als außergewöhnliche Belastungen (Senatsurteil vom 12. Mai 2011 VI R 42/10, [X.]E 234, 30, [X.], 1015) seien die im Rahmen des von der Klägerin angestrengten Zivilprozesses für die Erstattung eines Gutachtens geleisteten Kosten nach § 33 EStG abzugsfähig. Denn der Prozess sei von der Klägerin nicht mutwillig oder leichtfertig angestrengt worden.

3

Mit der Revision rügt das [X.] die Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt,
das Urteil des Hessischen [X.] vom 4. April 2013  13 K 850/12 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die nicht vertretene Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Entscheidungsgründe

4

II. Die Revision des [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

5

1. Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen [X.] (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer in bestimmtem Umfang ermäßigt (§ 33 Abs. 1 EStG). Gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (u.a. [X.]-Urteil vom 29. September 1989 III R 129/86, [X.], 380, [X.] 1990, 418; Senatsurteil vom 26. Juni 2014 VI R 51/13, [X.], 326, [X.] 2015, 9).

6

a) Bei den Kosten eines Zivilprozesses sprach nach der langjährigen Rechtsprechung des [X.] eine Vermutung gegen die Zwangsläufigkeit (Senatsurteil vom 22. August 1958 VI 148/57 U, [X.]E 67, 379, [X.]I 1958, 419; [X.]-Urteile vom 18. Juli 1986 III R 178/80, [X.]E 147, 171, [X.] 1986, 745; vom 9. Mai 1996 III R 224/94, [X.]E 181, 12, [X.] 1996, 596; vom 4. Dezember 2001 III R 31/00, [X.]E 198, 94, [X.] 2002, 382; vom 18. März 2004 III R 24/03, [X.]E 206, 16, [X.] 2004, 726, und vom 27. August 2008 III R 50/06, [X.]/NV 2009, 553). Derartige Kosten wurden nur als zwangsläufig erachtet, wenn auch das die Zahlungsverpflichtung oder den Zahlungsanspruch adäquat verursachende Ereignis zwangsläufig war ([X.]-Urteil in [X.]E 181, 12, [X.] 1996, 596). Daran fehlte es nach der Rechtsprechung des [X.] im Allgemeinen bei einem Zivilprozess ([X.]-Urteile in [X.]E 206, 16, [X.] 2004, 726, und in [X.]/NV 2009, 553). Vielmehr sei es in der Regel der freien Entscheidung der ([X.] überlassen, ob sie sich zur Durchsetzung oder Abwehr eines zivilrechtlichen Anspruchs einem Prozess(kosten)risiko aussetzten (vgl. [X.]-Urteile in [X.]E 181, 12, [X.] 1996, 596; in [X.]E 206, 16, [X.] 2004, 726, und in [X.]/NV 2009, 553). Lasse sich der Steuerpflichtige trotz ungewissen Ausgangs auf einen Prozess ein, liege die Ursache für die Prozesskosten in seiner Entscheidung, das Prozesskostenrisiko in der Hoffnung auf ein für ihn günstiges Ergebnis in Kauf zu nehmen; es entspreche nicht Sinn und Zweck des § 33 EStG, ihm die Kostenlast zu erleichtern, wenn sich das im eigenen Interesse bewusst in Kauf genommene Risiko realisiert habe ([X.]-Urteile in [X.]E 206, 16, [X.] 2004, 726, und in [X.]/NV 2009, 553). Als zwangsläufige Aufwendungen erkannte die Rechtsprechung Zivilprozesskosten nur an, wenn der Prozess existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührte. Insbesondere wenn der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, könne er trotz unsicherer Erfolgsaussichten gezwungen sein, einen Zivilprozess zu führen ([X.]-Urteile in [X.]E 181, 12, [X.] 1996, 596, und in [X.]/NV 2009, 553).

7

b) Demgegenüber nahm der Senat in seiner Entscheidung in [X.]E 234, 30, [X.] 2011, 1015 die Unausweichlichkeit von Zivilprozesskosten unter der Voraussetzung an, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Auffassung hat auch das [X.] in dem angefochtenen Urteil zugrunde gelegt.

8

c) Der Senat hält an seiner in dem Urteil in [X.]E 234, 30, [X.] 2011, 1015 vertretenen Auffassung allerdings nicht mehr fest. Wie er in seinem Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 17/14 ([X.]E 250, 153, [X.] 2015, 800) entschieden hat, kehrt er unter Aufgabe seiner in dem Urteil in [X.]E 234, 30, [X.] 2011, 1015 vertretenen Ansicht zu der früheren Rechtsprechung des [X.] zur Abziehbarkeit der Kosten eines Zivilprozesses als außergewöhnliche Belastung zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf das Senatsurteil in [X.]E 250, 153, [X.] 2015, 800 Bezug genommen.

9

2. Nach diesen Maßstäben ist auch im Streitfall zu prüfen, ob die im Zusammenhang mit einem [X.] angefallenen Gutachterkosten als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind. Da das [X.] von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, kann sein Urteil keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben.

3. Das [X.] hat --von seinem Standpunkt aus zu [X.] keine Feststellungen dazu getroffen, ob und wenn ja in welchem Umfang der von der Klägerin angestrengte [X.] existenziell wichtige Bereiche oder den Kernbereich menschlichen Lebens berührt. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des [X.] vermag der Senat auch nicht selbst zu beurteilen, ob die Klägerin aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gezwungen war, den angestrengten [X.] zu führen. Die Sache ist deshalb an das [X.] zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen --etwa durch Beiziehung der Prozessakten des [X.] im zweiten Rechtsgang nachholen kann. Dabei hat es insbesondere in den Blick zu nehmen, ob und in welchen Umfang das zivilprozessuale Begehren der Klägerin auf den Ersatz von materiellen und immateriellen Schäden gerichtet ist. Soweit die Zivilklage der Klägerin auf den Ersatz materieller Schäden gerichtet ist, hat das [X.] zu prüfen, ob die Klägerin ohne die Geltendmachung ihres (vermeintlichen) Anspruchs Gefahr gelaufen wäre, ihre Existenzgrundlage zu verlieren oder ihre lebensnotwendigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können. Davon kann beispielsweise auszugehen sein, wenn die Klage auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine existenziell wichtige Entschädigung als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen zielt und ein Werbungskostenabzug der streitigen Aufwendungen nicht in Betracht kommt. Ansprüche wegen immaterieller Schäden betreffen hingegen regelmäßig nicht den existenziellen Bereich i.S. des § 33 EStG ([X.] Münster, Urteil vom 30. März 2006  3 K 5739/03 E, Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2006, 1907). Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie wie das "Schmerzensgeld" auf den Ausgleich von [X.] wegen der Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit gerichtet sind ([X.] Münster in E[X.] 2006, 1907). Sollte das zivilprozessuale Begehren der Klägerin sowohl existenziell wichtige Bereiche als auch solche ohne einen solchen Bezug betreffen, sind zur Ermittlung der als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigenden Rechtsverfolgungskosten die Summe der Streitwerte der Klageanträge ins Verhältnis zu setzen ([X.]-Urteil in [X.]/NV 2009, 553).

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI R 78/13

17.12.2015

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 4. April 2013, Az: 13 K 850/12, Urteil

§ 33 Abs 1 EStG 2009, § 33 Abs 2 EStG 2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 17.12.2015, Az. VI R 78/13 (REWIS RS 2015, 441)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 441

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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