Bundessozialgericht, Urteil vom 15.09.2011, Az. B 2 U 25/10 R

2. Senat | REWIS RS 2011, 3323

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Gegenstand

Gesetzliche Unfallversicherung - Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 4111 - Einwirkung: kumulative Dosis von "in der Regel" 100 Feinstaubjahren - wissenschaftlicher Erfahrungsgrundsatz - maßgeblicher Zeitpunkt - aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand im Entscheidungszeitpunkt - chronische obstruktive Bronchitis - Emphysem - Bergleute im Steinkohlbergbau


Leitsatz

Dem Tatbestand der BK Nr 4111 der Anl 1 zur BKV mit dem Erfordernis einer Einwirkung von "in der Regel" 100 Feinstaubjahren liegt ein wissenschaftlicher Erfahrungssatz zu Grunde, für dessen Inhalt der im Entscheidungszeitpunkt aktuelle Erkenntnisstand zu ermitteln ist.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 11. November 2010 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger eine Berufskrankheit ([X.]) nach [X.] 4111 der Anlage 1 zur [X.] ([X.]V) (im Folgenden: [X.] 4111) festzustellen ist.

2

Der am 8.10.1938 geborene Kläger war seit 1953 als Berglehrling und dabei seit 1.11.1954 unter Tage beschäftigt. Von Januar 1957 bis 1963 arbeitete er überwiegend als [X.] im Steinkohlebergbau unter Tage. Danach war er bis Februar 1964 mit [X.] beschäftigt. In der [X.] von März 1964 bis März 1967 arbeitete der Kläger bei der Firma [X.] als Gesteinshauer im Schachtbetrieb (Abteufen und Streckenvortrieb). Nach anschließender Arbeitslosigkeit war er von Juli 1968 bis Juni 1993 bei einer anderen Firma an [X.] beschäftigt. Seit Oktober 1993 ist der Kläger Rentner.

3

Der Kläger machte im April 2004 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten geltend, dass er während seiner beruflichen Tätigkeit in großem Umfang Schadstoffen ausgesetzt gewesen sei. Diese hätten bei ihm als Nichtraucher eine Atemwegserkrankung hervorgerufen, die bei einer möglichen Exposition von mehr als 100 Staubjahren bei Bergleuten unter Tage als [X.] anzuerkennen und zu entschädigen sei. Die Beklagte holte Befundberichte ein sowie Schichtenbuchauszüge über die Tätigkeiten und Einsatzorte des [X.] bei den [X.]. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten ([X.]) stellte hierzu in seiner Stellungnahme vom 30.11.2004 fest, aufgrund der gemessenen, personenbezogenen [X.] bzw der Würdigung der Verhältnisse im Steinkohlebergbau habe der Kläger während seiner Beschäftigungszeit eine kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren erreicht. Er ging dabei zur Ermittlung der Staubbelastung von den ungünstigsten Arbeitsbedingungen (sog worst-case-Betrachtung) aus.

4

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom [X.] gestützt auf die Feststellungen des [X.] die Anerkennung einer [X.] 4111 sowie die Gewährung einer entsprechenden Entschädigung ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.6.2005).

5

Das [X.] hat durch Gerichtsbescheid vom 5.4.2006 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass eine [X.] 4111 nur bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren anerkannt werden könne. Nach den Ermittlungen des [X.] sei aber lediglich von einer Feinstaubdosis von 86 Feinstaubjahren während der beruflichen Tätigkeit des [X.] auszugehen. Mit seiner Berufung zum L[X.] hat der Kläger ua vorgetragen, hinsichtlich der Berechnung der kumulativen Feinstaubdosis durch den [X.] bestünden erhebliche Bedenken, da er während seiner Tätigkeit im [X.] von 1964 bis 1967 einer hohen Menge an Feinstaub ausgesetzt gewesen sei. Das L[X.] hat durch Einholung einer Auskunft des damaligen Arbeitgebers sowie einer Zeugenvernehmung Beweis erhoben zur Ermittlung der arbeitstechnischen Umstände der Beschäftigung des [X.] im [X.]. Nach Einholung weiterer Gutachten hat das L[X.] sodann durch Urteil vom 11.11.2010 die Berufung zurückgewiesen.

6

Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen zur Anerkennung der [X.] 4111 seien nicht erfüllt. Denn zur Überzeugung des [X.]s sei das Vorliegen der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren (arbeitstechnische Voraussetzungen) nicht nachgewiesen. Dieser Regelwert werde im Falle des [X.] deutlich unterschritten. Der [X.] der Beklagten habe ausgehend von ungünstigsten Arbeitsbedingungen eine kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren ermittelt. Es lägen jedoch keine hinreichenden Gründe dafür vor, den so ermittelten Feinstaubdosiswert von 86 Feinstaubjahren zur Erfüllung der vorgenannten arbeitstechnischen Voraussetzungen genügen zu lassen. Zwar ergebe sich aus der Formulierung "in der Regel 100 Feinstaubjahren", dass Ausnahmen von dem Grenzwert zulässig seien. Durch die Formulierung "in der Regel" werde ein [X.] begründet, wonach bei typischen Sachverhalten der Nachweis der als Regel festgelegten Dosis gefordert werde und lediglich im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände eine Abweichung in Betracht komme. Zwar habe der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen zu der Gruppe der [X.] gehört. Dieser Umstand führe aber nicht dazu, dass bei ihm bereits aufgrund der nach der worst-case-Betrachtung des [X.] nachgewiesenen 86 Feinstaubjahren die arbeitstechnischen Voraussetzungen der [X.] 4111 in Abweichung vom Regelwert zu bejahen seien. Zwar habe auch der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" in einer zusätzlichen Bekanntmachung vom 1.10.2006 zur Anwendung der [X.] 4111 darauf hingewiesen, dass bei [X.]n ein unterer Grenzwert für das Erkrankungsrisiko von 86 Feinstaubjahren zu gelten habe. Dieser Hinweis vermöge aber den Inhalt der Legaldefinition der [X.] 4111 nicht zu verändern. Bei Aufnahme der [X.] 4111 im Jahre 1997 sei eine solche Differenzierung bei den Grenzwerten zwischen Rauchern und [X.]n gerade nicht vorgenommen worden. Vielmehr habe der Verordnungsgeber im Jahre 1997 die Formulierung "in der Regel 100 Feinstaubjahren" bewusst in die [X.]V aufgenommen und habe diese Formulierung bislang nicht geändert. Des Weiteren sei bereits in der Begründung der Verordnung im Jahre 1995 ua auf die Studie von [X.] verwiesen worden, auf die der Sachverständigenbeirat im Jahre 2006 nunmehr zur Begründung seiner neueren Empfehlung zur Differenzierung zwischen Rauchern und [X.]n besonderen Bezug nehme. Der [X.] folge vielmehr dem L[X.] Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.5.2004 - L 2 KN 95/03 U), das unter Berücksichtigung der Motive des Verordnungsgebers grundsätzlich nur in einem Schwankungsbereich von [X.] um die geforderten 100 Feinstaubjahre Abweichungen von der geforderten Exposition zulasse. Mithin sei im Ausnahmefall lediglich eine Abweichung von maximal [X.] vom Regelwert auf 95 Feinstaubjahre möglich, jedoch seien mit 86 Feinstaubjahren die arbeitstechnischen Voraussetzungen der [X.] 4111 keinesfalls erfüllt.

7

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt eine Verletzung des § 9 [X.]B VII. Zur Begründung beruft er sich im Wesentlichen auf die Stellungnahme des Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" vom 1.10.2006. Hiernach sei das Tatbestandsmerkmal "in der Regel" so auszulegen, dass bei [X.]n von einem Grenzwert von 86 Feinstaubjahren auszugehen sei. Diesen Wert erreiche er nach den Berechnungen des [X.], sodass er damit alle Tatbestandsvoraussetzungen für die Anerkennung der [X.] 4111 erfülle.

8

Der Kläger beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11.11.2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 5.4.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.6.2005 aufzuheben und festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach [X.] 4111 der Anlage 1 zur [X.]V vorliegt.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf das angefochtene Urteil. Im Übrigen habe die tatsächliche bzw die nachgewiesene Belastungsdosis des [X.] bei höchstens 64,2 Feinstaubjahren gelegen. Dies sei aus den späteren [X.]-Stellungnahmen vor dem L[X.] deutlich geworden. Insoweit werde die Auffassung des L[X.] ausdrücklich gerügt, wonach beim Kläger ein kumulativer Feinstaubdosiswert von 86 Feinstaubjahren festgestellt worden sei. Es sei bereits im Laufe des Berufungsverfahrens wiederholt dargelegt worden, dass erhebliche Zweifel an der korrekten Höhe dieses Wertes bestünden, weil es sich um eine theoretische worst-case-Berechnung gehandelt habe. Die Annahme einer Feinstaubbelastung von 86 Jahren bei dem Kläger sei in höchstem Maße unrealistisch.

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des [X.] und der Zurückverweisung der Sache an dasselbe Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das [X.] ist unzutreffend davon ausgegangen, dass der Begriff "in der Regel 100 Feinstaubjahren" in der Definition der [X.] 4111 so auszulegen ist, dass lediglich Werte in einem Schwankungsbereich von [X.] (also bis zu 95 Feinstaubjahren) zur Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung führen. Die Norm verweist durch ihre Normformulierung vielmehr auf medizinische Erfahrungssätze, deren aktuellen Inhalt das [X.] noch zu ermitteln haben wird. Dem Senat ist es daher nicht möglich, endgültig darüber zu entscheiden, ob bei dem Kläger eine [X.] 4111 vorliegt, zumal auch die Erkrankungen des [X.] nicht festgestellt sind und auch der vom [X.] ermittelte Wert einer Einwirkung auf den Kläger mit 86 Feinstaubjahren auf einem unzutreffenden rechtlichen Ansatz ([X.]) beruht.

Nachdem der Kläger die Revision zurückgenommen hat, soweit er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verletztenrente begehrte, ist Gegenstand des Revisionsverfahrens insoweit nur noch eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 iVm § 55 Abs 1 [X.] SGG, mit der unter Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten die gerichtliche Feststellung begehrt wird, dass die Erkrankungen des [X.] eine [X.] 4111 darstellen. Ein Versicherter, dem gegenüber ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung durch Verwaltungsakt entschieden hat, dass eine bestimmte [X.] nicht gegeben ist, kann deren Vorliegen als Grundlage infrage kommender Leistungsansprüche vorab im Wege einer Kombination von Anfechtungs- und Feststellungsklage klären lassen (vgl BSG vom [X.] - [X.] U 30/07 R - [X.], 45 = [X.]-5671 Anl 1 [X.] [X.]V, Rd[X.]1 mwN).

Der Senat kann jedoch aufgrund der Feststellungen des [X.] nicht abschließend darüber befinden, ob die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage begründet ist.

Nach § 9 Abs 1 [X.] sind [X.]'en Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des [X.] als [X.]'en bezeichnet (Listen-[X.]) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 [X.] begründenden Tätigkeit erleiden (Satz 1). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als [X.]'en zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann [X.]'en auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung einer gefährdenden Tätigkeit versehen (Satz 2). Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer Listen-[X.] danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oä auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-[X.]. Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des [X.] - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden [X.] genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (BSG vom [X.] - [X.] U 30/07 R - [X.], 45 = [X.]-5671 Anl 1 [X.] [X.]V, Rd[X.]6 mwN und [X.] U 9/08 R - [X.], 59 = [X.]-2700 § 9 [X.]4 [X.]V, RdNr 9 mwN).

Der Verordnungsgeber hat die hier streitige [X.] 4111 wie folgt bezeichnet: "Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Feinstaubdosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³) x Jahre]".

Nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.] kann bereits nicht entschieden werden, inwiefern bei dem Kläger überhaupt eine "Krankheit" im Sinne dieses Tatbestands iVm § 9 Abs 1 [X.] vorliegt. Weder die angefochtenen Bescheide noch das angefochtene Urteil enthalten bindende Feststellungen dazu, welche Krankheitsbilder bei dem Kläger vorliegen. Auf Blatt 6 f des angefochtenen Urteils wird lediglich mitgeteilt, dass bei dem Kläger nach den gutachtlichen Ausführungen von Prof. Dr. S. eine chronische obstruktive Bronchitis Grad I nach den [X.] 2001/2007 gegeben sei. Der Senat am [X.] lässt allerdings nicht erkennen, inwieweit er sich diese im Konjunktiv wiedergegebenen ärztlichen Befunde zu eigen macht bzw als festgestellt betrachten will, was er freilich von seiner Rechtsansicht her auch nicht musste. Nach der Zurückverweisung wird das [X.] daher ggf zunächst den genauen Krankheitszustand des [X.] zu ermitteln und festzustellen haben.

Der Senat geht weiterhin davon aus, dass sich den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht abschließend und rechtlich zweifelsfrei entnehmen lässt, welcher Feinstaubdosis der Kläger ausgesetzt war. Das [X.] hat in seinem Urteil mehrfach darauf hingewiesen, dass die kumulative Feinstaubdosis von 86 Staubjahren aus einer sog worst-case-Betrachtung resultiere. Die Beklagte hat insofern zutreffend entgegnet, dass das [X.] damit von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.

Für die Ermittlung der stattgehabten Einwirkungen ist jeweils ein realitätsgerechter Maßstab zugrunde zu legen, weil die Einwirkungen im Sinne des [X.] - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen müssen. Das Gericht hat bei seinen Schätzungen deshalb eine möglichst an den tatsächlichen Verhältnissen angelehnte Berechnung vorzunehmen. Insofern ist dem Recht der [X.]'en eine sog "worst-case-Betrachtung" grundsätzlich fremd. Die Schätzung hat vielmehr möglichst realitätsgerecht zu erfolgen, ohne dass zunächst bzw von vorneherein Zu- oder Abschläge im Sinne einer worst- oder best-case-Betrachtung vorzunehmen wären. Allerdings mag im Einzelfall eine sog worst-case-Schätzung der Einwirkungen ausreichen, wenn mit ihr eine Einwirkungsdosis errechnet wird, die auf keinen Fall geeignet ist, die [X.] zu verursachen. Ein solcher ohnehin irrelevanter Wert lag hier mit den geschätzten 86 Feinstaubjahren aber gerade nicht vor, worauf sogleich noch einzugehen sein wird. Insofern wird das [X.] die vom [X.] der Beklagten vorgelegten Berechnungen nochmals daraufhin zu überprüfen haben, inwieweit sie tatsächlich eine realitätsgerechte oder realitätsnahe Schätzung der Einwirkungen enthalten, denen der Kläger während seines gesamten Berufslebens (und nicht nur während der Beschäftigung im Schachtbau) ausgesetzt war.

Eine genauere Ermittlung der stattgefundenen Einwirkungen in Gestalt der Feinstaubjahre ist im vorliegenden Fall erforderlich, weil die Rechtsansicht des [X.] unzutreffend ist, dass eine Feinstaubbelastung von 86 Feinstaubjahren von vorneherein nicht ausreicht, um den Tatbestand der [X.] 4111 zu erfüllen. Der Verordnungsgeber hat mit der gesetzgeberischen Formulierung "in der Regel", die in vollem Umfang einer Auslegung nach den üblichen juristischen Methoden zugänglich ist, zunächst klarstellen wollen, dass er unter Berücksichtigung der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse selbst nicht in der Lage ist, eine abschließende Größe im Sinne eines absoluten Grenzwerts zu definieren. Der Verordnungsgeber hat dies bei seiner Begründung der Neuaufnahme der [X.] 4111 ua wie folgt zum Ausdruck gebracht (vgl [X.]): "Als gut gesicherte Größe für die Verdopplung des [X.] stellt sich nach sorgfältiger Abwägung und Prüfung der Datenlage eine kumulative Dosis von 100 Feinstaubjahren [(mg/m³ ) x Jahre] dar. Diese Größe ist ein mittlerer Schätzwert, der einer oberen [X.] vorgezogen wird, zumal Abweichungen nach oben und unten gleich verteilt sind. Die kumulative Feinstaubdosis errechnet sich aus der [X.] in der Luft am Arbeitsplatz in mg pro m³ Luft, multipliziert mit der Anzahl der Expositionsjahre, bezogen auf 220 gefahrene Schichten zu je 8 Stunden". Nach Überzeugung des Senats hat der Verordnungsgeber damit zugleich zu erkennen gegeben, dass er davon ausgeht, dass dem Tatbestand der [X.] 4111 ein wissenschaftlicher Erfahrungssatz zugrunde liegt, der jeweils anhand der neueren wissenschaftlichen Literatur und Entwicklungen zu verifizieren ist.

Die Frage, welcher Einwirkungen es mindestens bedarf, um von "in der Regel" 100 Feinstaubjahren ausgehen zu können bzw um bei Vorliegen auch der anderen Voraussetzungen die Anerkennung einer [X.] 4111 zu rechtfertigen, ist somit unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (vgl grundlegend BSG Urteil vom 27.6.2006 - [X.] U 20/04 R - [X.], 291 = [X.]-2700 § 9 [X.], RdNr 20; Urteil vom [X.] - [X.] U 1/05 R - [X.], 196 = [X.]-2700 § 8 [X.]7, mwN). Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht. Jedes Gericht, das die für die Anerkennung als [X.] erforderlichen Einwirkungen zu präzisieren hat, muss sich Klarheit darüber verschaffen, welches in der streitigen Frage der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist.

Abgesehen von der Begründung des Verordnungsgebers wird dabei auch besonders die von der Revision angeführte Stellungnahme des [X.] "Berufskrankheiten" beim [X.] vom 1.10.2006 ([X.] 12/2006 S 149) bei der aktuellen Beurteilung des Tatbestandsmerkmals "in der Regel" zu berücksichtigen sein. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat stellte am 1.10.2006 jedenfalls fest: "Die Legaldefinition dieser Berufskrankheit enthält die Regelvermutung, dass bei einer kumulativen Feinstaubdosis von 100 Jahren der Nachweis der Ursächlichkeit des Steinkohlenstaubs für die Entstehung der Bronchitis bzw. des Emphysems erbracht ist. Die Dosis von 100 Feinstaubjahren stellt keinen absoluten unteren Grenzwert im Sinne eines [X.] dar. (…) Unter Berücksichtigung des [X.] und einer Unsicherheit der Messwerte von 5 % ergibt sich für [X.] ein unterer Grenzwert der Verdoppelungsdosis für das Erkrankungsrisiko von 86 Feinstaubjahren. Für Raucher gilt ein Grenzwert von 100 Feinstaubjahren." Ausgehend hiervon ergibt sich mithin im vorliegenden Fall die rechtliche Notwendigkeit, im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsstreits eine möglichst exakte und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis darüber zu gewinnen, welcher Feinstaubdosiswert noch unter das Kriterium "in der Regel" subsumiert werden kann. Hierfür kann jedenfalls eine bloß gegriffene Größe, wie sie das [X.] unter Berufung auf das [X.] Nordrhein-Westfalen mit einem Konfidenzintervall von [X.] annimmt, grundsätzlich nicht genügen, weil die wissenschaftliche Basis für einen solchen Abschlag von [X.] völlig unklar bleibt.

Die Argumentation des [X.], dass die [X.] 4111 seit ihrer Einführung in die Verordnung ab 1.12.1997 in ihrem Wortlaut nicht verändert worden sei und dass auch die soeben zitierte Stellungnahme des [X.] vom 1.10.2006 an dem [X.] der [X.] 4111 nichts geändert habe, verkennt insofern diesen Zusammenhang. Die Definition der [X.] 4111 verweist vielmehr mit ihrer weiten Formulierung - "in der Regel" - auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und beansprucht gerade nicht - wie auch die angeführte Begründung des ursprünglichen Verordnungsgebers zeigt - die Normierung eines absoluten und abschließenden Grenzwerts. Aufgrund der weiten Formulierung der [X.] 4111 ist daher der wissenschaftlich begründete allgemein akzeptierte Erkenntnisstand im aktuellen Entscheidungszeitpunkt zu ermitteln.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 27.6.2006 ([X.], 291) auch zu erkennen gegeben, dass die insoweit notwendigen medizinischen Erfahrungssätze allgemeine (generelle) Tatsachen darstellen, die für alle einschlägigen [X.]-Fälle gleichermaßen von Bedeutung sind. Deshalb wäre dem Senat die Ermittlung eines allgemeinen (generellen) Erfahrungssatzes bzgl eines Mindestwerts der Feinstaubjahre grundsätzlich möglich und im Regelfall auch von ihm vorzunehmen. Da aber - wie oben ausgeführt - weder die Erkrankungen des [X.] festgestellt sind, noch von einem unangreifbar feststehenden Wert der Staubjahre ausgegangen werden kann, weil der angenommene Wert lediglich auf eine sog [X.] zurückgeht, sind solche Ermittlungen durch das BSG hier untunlich.

Der Senat am [X.] wird daher zunächst die genannten Voraussetzungen zu ermitteln haben. Zunächst ist festzustellen, ob das Krankheitsbild des [X.] überhaupt den Anforderungen der [X.] 4111 (Emphysem etc) genügt. Erst nach einer realitätsgerechten Schätzung der Feinstaubbelastung des [X.] in Feinstaubjahren wird dann unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu entscheiden sein, ob der den tatsächlichen Belastungen entsprechende kumulative Wert an Feinstaubjahren noch unter den Rechtsbegriff von "in der Regel" 100 Feinstaubjahre subsumiert werden kann. Bei der Festlegung der maßgebenden Anzahl an Feinstaubjahren mag schließlich die - erst noch festzustellende - [X.]eigenschaft des [X.] ebenfalls eine Rolle spielen. Liegen die Voraussetzungen der versicherten Tätigkeit, der Verrichtung, der Einwirkungen und der Krankheit im Sinne eines [X.] vor, so wird das [X.] sich schließlich auch noch mit dem Vorliegen der notwendigen Kausalbeziehungen zwischen diesen Tatbestandsmerkmalen zu befassen haben.

Das [X.] wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ausgangs des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

Meta

B 2 U 25/10 R

15.09.2011

Bundessozialgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: U

vorgehend Sozialgericht für das Saarland, 5. April 2006, Az: S 5 KN 34/05 U, Gerichtsbescheid

§ 9 Abs 1 SGB 7, Anl 1 Nr 4111 BKV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 15.09.2011, Az. B 2 U 25/10 R (REWIS RS 2011, 3323)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3323

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