Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.10.2021, Az. B 5 R 148/21 B

5. Senat | REWIS RS 2021, 1695

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Gegenstand

(Sozialgerichtsverfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Fragerecht an Sachverständigen - Sachdienlichkeit iS von § 116 S 2 SGG)


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 22. Februar 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. [X.]ie Klägerin begehrt die Weitergewährung ihrer bis zum 30.6.2016 befristeten Erwerbsminderungsrente.

2

Ihre gegen den Bescheid der Beklagten vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] gerichtete Klage hat das [X.] abgewiesen (Urteil vom [X.]). [X.]as L[X.] hat im dagegen von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren ein Gutachten der Chirurgin [X.] eingeholt. Nach deren Einschätzung kann die Klägerin, bei der seit 2001 eine Blutgerinnungsstörung bekannt ist und die 2011 eine Gehirnhautblutung erlitt, körperlich leichte Tätigkeiten unter Beachtung verschiedener qualitativer Einschränkungen noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten (Gutachten vom 6.10.2020). [X.]ie Klägerin hat mit Schriftsatz vom 9.11.2020 zum Gutachten Stellung genommen. Zugleich hat sie beantragt, die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vor dem L[X.] zu verschiedenen von ihr aufgeworfenen Fragen zu hören. Sie hat diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung vom [X.] wiederholt. [X.]as L[X.] ist dem nicht gefolgt und hat die Berufung mit Urteil vom selben Tag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei seit dem 1.7.2016 nicht (mehr) erwerbsgemindert. [X.]ie ergänzenden Ermittlungen im Berufungsverfahren hätten die vom [X.] vorgenommene Leistungsbeurteilung bestätigt. [X.]em Antrag auf Anhörung der Sachverständigen [X.] sei nicht zu entsprechen gewesen. Eine Ladung nach § 118 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm § 411 Abs 3 ZPO sei nicht veranlasst, weil das Sachverständigengutachten keinen Erläuterungsbedarf aufweise. Ebenso wenig sei die Sachverständige zur Gewährung des Fragerechts aus § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO zu laden. [X.]ies setze konkrete Fragen und Einwendungen voraus, die von der Klägerin nicht benannt worden seien. [X.]ie Sachverständige habe sämtliche Unterlagen berücksichtigt, eine aktuelle Anamnese erhoben und die Klägerin eingehend ambulant untersucht. Auf dieser Grundlage habe sie die maßgeblichen Beweisfragen umfassend beantwortet; ein Erläuterungsbedarf bestehe nicht, ebenso wenig wie weitergehende Fragen.

3

[X.]ie Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum B[X.] eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 23.4.2021 begründet hat. Sie macht als Verfahrensmangel eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör in Form einer Missachtung ihres Fragerechts aus § 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO geltend.

4

II. 1. Nach Schließung des 13. Senats zum [X.] durch Erlass des [X.] vom [X.] (vgl § 202 Satz 1 [X.]G iVm § 130 Abs 1 Satz 2 GVG) ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des B[X.] nunmehr der 5. Senat zuständig.

5

2. [X.]ie Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. [X.]er von ihr noch formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) gerügte Verfahrensmangel liegt vor. [X.]er Senat macht zur Verfahrensbeschleunigung von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G).

6

a) [X.]er Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst grundsätzlich auch das Recht auf Anhörung gerichtlicher Sachverständiger (aus der verfassungsgerichtlichen Rspr zuletzt [X.] Beschluss vom 2.5.2018 - 1 BvR 2420/15 - juris RdNr 3 mwN). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des B[X.], dass unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, jedem Beteiligten gemäß § 116 Satz 2 [X.]G, § 118 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zusteht, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die er zur Aufklärung der Sache für dienlich erachtet (vgl aus jüngerer [X.] etwa B[X.] Beschluss vom 16.10.2019 - [X.] R 153/18 B - juris Rd[X.]0; B[X.] Beschluss vom [X.] R 298/19 B - juris Rd[X.]2, jeweils mwN). Beim Fragerecht nach § 116 Satz 2 [X.]G steht ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der Rückfrage an den Sachverständigen nach § 118 Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm § 411 Abs 3 ZPO. Letztere dient in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl B[X.] Beschluss vom 27.11.2007 - [X.]/5 R 60/07 B - [X.] 4-1500 § 116 [X.] Rd[X.]1 mwN). [X.]as Fragerecht nach § 116 Satz 2 [X.]G soll dem Antragsteller hingegen erlauben, im Rahmen des [X.] aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren Einfluss nehmen und die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können (B[X.] Beschluss vom 17.4.2012 - [X.] R 355/11 B - juris Rd[X.]4; B[X.] Beschluss vom [X.] B - juris RdNr 9; B[X.] Beschluss vom [X.] - juris Rd[X.]3).

7

Sachdienlich iS von § 116 Satz 2 [X.]G sind Fragen, wenn sie sich im Rahmen des [X.] halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind (B[X.] Beschluss vom 24.6.2020 - B 9 SB 79/19 B - juris RdNr 6). [X.]as Fragerecht nach § 116 Satz 2 [X.]G bzw § 411 Abs 4 ZPO erfordert allerdings nicht die Formulierung von Fragen. Es reicht aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen, zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen (vgl aus jüngerer [X.] etwa B[X.] Beschluss vom 16.10.2019 - [X.] R 153/18 B - juris Rd[X.]0). Solche Einwendungen sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (§ 411 Abs 4 Satz 1 ZPO). Ferner darf der Antrag auf Erläuterung eines Sachverständigengutachtens nicht rechtsmissbräuchlich gestellt sein (vgl hierzu bereits [X.] Beschluss vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = juris RdNr 29 mwN; aus jüngerer [X.] zB B[X.] Beschluss vom 16.10.2019 - [X.] R 153/18 B - juris Rd[X.]1). [X.]a die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. [X.]ieser Obliegenheit ist ein Beteiligter dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören, und er schriftlich sachdienliche Fragen im oben dargelegten Sinn angekündigt hat (B[X.] Beschluss vom [X.] R 298/19 B - juris Rd[X.]2; vgl [X.] Beschluss vom 29.8.1995 - 2 BvR 175/95 - NJW-RR 1996, 183 = juris RdNr 29 mwN).

8

Liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht grundsätzlich dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt. [X.]ies gilt auch dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner Erläuterung bedarf (B[X.] Beschluss vom 17.4.2012 - [X.] R 355/11 B - juris Rd[X.]5; B[X.] Beschluss vom [X.] - juris Rd[X.]4; B[X.] Beschluss vom [X.] R 22/18 B - juris RdNr 34). [X.] ein Gericht einen anforderungsgemäßen Antrag auf Erläuterung eines Sachverständigengutachtens völlig oder kommt ihm allein deshalb nicht nach, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint, so liegt darin ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör ([X.] Beschluss vom 2.5.2018 - 1 BvR 2420/15 - juris RdNr 4).

9

b) Gemessen an diesem Maßstab durfte das L[X.] nicht von einer mündlichen oder schriftlichen Erläuterung des Gutachtens vom 6.10.2020 durch die Sachverständige [X.] absehen (vgl dazu, dass gesetzlich keine Form für die Befragung vorgeschrieben ist, zB B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] R 37/20 B - juris Rd[X.]2).

[X.]ie Klägerin hat nach Erhalt des Gutachtens vom 6.10.2020 einen Antrag auf Anhörung dieser Sachverständigen innerhalb der vom L[X.] gesetzten Stellungnahmefrist mit Schriftsatz vom 9.11.2020 gestellt. Sie hat verschiedene zu erläuternde Punkte benannt und dazu Fragen gestellt. So hat sie herausgestellt, dass die Sachverständige zwar mit Blick auf die bestehenden Erkrankungen des Herz-Kreislauf- und des Gefäßsystems Tätigkeiten im Akkord, am Fließband, mit [X.] oder der Notwendigkeit des Hebens und Tragens schwerer Lasten ausschließe, insbesondere wenn sie zur Erhöhung des intraabdominalen [X.]rucks führen können. Gleichwohl halte die Sachverständige leichte körperliche Tätigkeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich für gesundheitlich zumutbar. Hierzu hat die Klägerin die Frage aufgeworfen, woraus die Sachverständige dies ableite und ob sie nicht doch von einem plötzlichen und sich ggf nicht ankündigenden Anfallsleiden ausgehe. Weiter hat die Klägerin gefragt, ob die Vermeidung von Tätigkeiten, die den intraabdominalen [X.]ruck erhöhen können, nicht auch den Ausschluss von Arbeiten unter physischer und psychischer Anspannung verlange. [X.]ie Klägerin hat zudem gefragt, woraus die Sachverständige schließe, dass angesichts der bestehenden Gefäßleiden intraabdominaler [X.]ruck zu vermeiden sei, wenn sie gleichzeitig dem zuvor eingeholten Gutachten des Neurologen B vom [X.] entnehme, dass sämtliche Nachuntersuchungen nach der Aneurysmabildung keine leistungseinschränkenden Befunde ergeben hätten. [X.]ie Klägerin hat als weiteren erläuterungsbedürftigen Punkt benannt, dass die Sachverständige sich bei der [X.]iagnose einer Gerinnungsstörung ohne wesentliche Leistungseinschränkungen auf ein mehr als 15 Jahre altes Gutachten aus einem Verfahren des Schwerbehindertenrechts bezogen habe.

Jedenfalls die mit diesen beiden Punkten im Zusammenhang stehenden Fragen sind bei der insoweit gebotenen weiten Betrachtungsweise (vgl [X.] in jurisPK-[X.]G, 1. Aufl 2017, § 116 RdNr 23; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 13. Aufl 2020, § 116 RdNr 5) sachdienlich. [X.]ie Klägerin zielt damit zum einen erkennbar darauf ab, näher erläutert zu bekommen, aufgrund welcher Befunde die Sachverständige [X.] Tätigkeiten ausschließe, die den intraabdominalen [X.]ruck erhöhen können, und warum die Sachverständige dazu konkret (nur) Tätigkeiten im Akkord, am Fließband, mit [X.] oder der Notwendigkeit des Hebens und Tragens schwerer Lasten zähle. Im Gutachten vom 6.10.2020 heißt es hierzu lediglich zusammenfassend, diese Tätigkeiten sollten "(a)us Gründen der Veränderungen von Seiten des Herz-Kreislaufsystems / des Gefäßsystems" nicht mehr abverlangt werden. Zum anderen möchte die Klägerin die Sachverständige [X.] offensichtlich näher zur Aktualität der Leistungseinschränkungen befragen, die aus den vor 15 Jahren diagnostizierten Gerinnungsstörungen folgen.

c) Auf dem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des L[X.] beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses das von ihm bei der Entscheidungsfindung maßgeblich herangezogene Gutachten der Sachverständigen [X.] im Fall einer Erläuterung zu den von der Klägerin genannten Punkten anders gewürdigt oder zumindest eine weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte.

3. [X.]ie Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des L[X.] vorbehalten.

Meta

B 5 R 148/21 B

21.10.2021

Bundessozialgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: R

vorgehend SG Koblenz, 25. Februar 2019, Az: S 16 R 708/16, Urteil

§ 62 SGG, § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 397 ZPO, § 402 ZPO, § 411 Abs 3 ZPO, § 411 Abs 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 21.10.2021, Az. B 5 R 148/21 B (REWIS RS 2021, 1695)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1695

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1 BvR 2420/15

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