Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.01.2016, Az. IV B 128/15

4. Senat | REWIS RS 2016, 17048

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Gegenstand

Keine Akteneinsicht in dem Gericht nicht bekannte Akten


Leitsatz

NV: Ein Beschluss, in welchem das Finanzgericht Einsicht in Akten gewährt, die ihm selbst nicht vorliegen und die es nicht kennt, ist wegen Verstoßes gegen § 78 Abs. 1 FGO aufzuheben.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des [X.] vom 23. November 2015  2 K 403/15 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Nachdem der [[X.].] ([[X.].]) die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhobene Beschwerde wegen der vermeintlichen Ablehnung ihres beim Finanzgericht ([[X.].]) gestellten Antrags auf Einsicht in die Gerichtsakten sowie die Steuerakten einschließlich der Akten der Betriebsprüfung, Handakten des Prüfers, Rechtsbehelfsakten und Beiakten durch Beschluss vom 28. Mai 2015 IV B 39/15 als unzulässig verworfen hatte, weil das [[X.].] über den Antrag noch nicht entschieden habe, beantragte die Klägerin am 17. August 2015 beim [[X.].] erneut Akteneinsicht unter Versendung der Akten an das [[X.].] (AG).

2

Das [[X.].] teilte daraufhin der Klägerin mit, es bestehe grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht, die einschlägigen Steuerakten befänden sich aber nach wie vor beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --[[X.].]--), weshalb sie sich direkt dorthin wenden möge.

3

Die Klägerin beharrte auf ihrem Antrag und bat um einen rechtsbehelfsfähigen Beschluss, woraufhin das [[X.].] mitteilte, es könnten bei ihm nur die Gerichtsakten sowie bereits vorgelegte Akten eingesehen werden; da die Steuerakten nicht vorgelegt worden seien, möge sich die Klägerin an das [[X.].] wenden.

4

Nach erneuter Bitte um eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung beschloss das [[X.].] am 23. November 2015 (2 K 403/15), es werde der Klägerin Akteneinsicht in den Räumen des [[X.].] bewilligt; soweit sie Akteneinsicht in den Räumen des AG beantragt habe, werde dies abgelehnt. [[X.].]ur Begründung führte das [[X.].] u.a. aus, da die Steuerakten sich beim [[X.].] befänden, habe es die Klägerin zu Recht an das [[X.].] verwiesen. Für eine Akteneinsicht beim AG seien keine nachvollziehbaren Gründe mitgeteilt worden und auch nicht nach der Aktenlage erkennbar.

5

Mit ihrer Beschwerde macht die Klägerin geltend, ihr sei die gebotene Akteneinsicht zu Unrecht verwehrt worden. Insbesondere komme eine Akteneinsicht beim [[X.].] wegen der Entfernung von [[X.].] nach [[X.].] kostenmäßig nicht in Betracht und liege das AG nur 2 km von der in [X.] unterhaltenen [[X.].]weigstelle ihres Prozessbevollmächtigten entfernt. Dort würden sämtliche finanzgerichtlichen Verfahren betrieben.

6

Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Beschluss des [[X.].] vom 23. November 2015  2 K 403/15 aufzuheben und das [[X.].] zu verpflichten, nach Übersendung der Gerichts- und vollständigen Steuer- und Verfahrensakten an das AG dort Akteneinsicht zu gewähren.

7

Das [[X.].] hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des Beschlusses des [X.] vom 23. November 2015  2 K 403/15 sowie zur [X.]urückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.].

9

1. Der Beschluss des [X.] war bereits deshalb aufzuheben, weil er [X.] zustande gekommen ist. Dies folgt daraus, dass sich das Recht auf Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) nur auf die Gerichtsakte sowie die dem Gericht vorgelegten Akten erstreckt. In Akten, die dem Gericht nicht vorliegen und deren Inhalt es daher auch nicht kennen kann, kann keine Einsicht gewährt werden, schon weil das Gericht es insoweit nicht ausschließen kann, dass in den entsprechenden Akten auch Vorgänge enthalten sind, die Angaben über Dritte enthalten und in die wegen § 30 der Abgabenordnung eine Einsichtnahme zu unterbleiben hat (vgl. dazu [X.] vom 10. April 2015 III B 42/14, [X.], 1102; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 78 Rz 5, m.w.N.). Ein Beschluss, in welchem das [X.] Einsicht in Akten gewährt, die ihm selbst nicht vorliegen und die es nicht kennt, ist daher wegen Verstoßes gegen § 78 Abs. 1 [X.]O aufzuheben.

2. Der Senat kann über den Antrag der Klägerin nicht selbst entscheiden, da ihm nicht bekannt ist, welche Verwaltungsakten dem [X.] neben den Gerichtsakten (mittlerweile) vorliegen. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Die [X.] folgt aus §§ 132, 155 [X.]O i.V.m. § 572 Abs. 3 der [X.]ivilprozessordnung und ist Ausfluss eines tragenden Grundprinzips des [X.], nämlich der Aufteilung der [X.] unter den Gerichten (vgl. [X.] vom 3. März 2009 X B 197/08, [X.], 961, und vom 17. März 2008 IV B 100, 101/07, [X.], 1177).

3. Das [X.] wird bei seiner erneuten Entscheidung Folgendes zu berücksichtigen haben: Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des [X.] (§ 76 Abs. 1 [X.]O) vor, wenn Akten nicht beigezogen werden, bei denen es nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich aus ihnen weitere, bislang nicht berücksichtigte Erkenntnisse für das Gericht oder für den Kläger hätten ergeben können ([X.] vom 25. Oktober 2012 X B 22/12, [X.], 226). [X.]udem ist bei der Ermessensausübung über den Ort der Akteneinsichtnahme zwar die gesetzliche Grundentscheidung zu beachten, dass die Akten in der Regel beim [X.] eingesehen werden sollen und es den Beteiligten sowie ihren Prozessbevollmächtigten daher grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Akteneinsicht in das [X.] zu begeben. Dieser Grundsatz schließt aber Ausnahmen nicht aus, wenn sie auch nach ständiger, vom [X.] ([X.]) gebilligter Rechtsprechung auf eng begrenzte Sonderfälle ([X.]-Beschluss vom 26. August 1981  2 BvR 637/81, [X.] 1982, 77) beschränkt sind. Ein solcher Sonderfall kommt in Betracht, wenn wegen großer Entfernung der Geschäftsräume des Prozessbevollmächtigten von dem [X.] (hier Entfernung [X.] nach [X.], ca. 215 km) eine Einsichtnahme der Akten in den Räumen des [X.] nicht zumutbar erscheint (vgl. [X.] vom 26. September 2003 III B 112/02, [X.], 210).

4. [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IV B 128/15

27.01.2016

Bundesfinanzhof 4. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 23. November 2015, Az: 2 K 403/15, Beschluss

§ 78 Abs 1 FGO, § 128 Abs 1 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.01.2016, Az. IV B 128/15 (REWIS RS 2016, 17048)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 17048

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