Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.06.2011, Az. 10 C 10/10

10. Senat | REWIS RS 2011, 6082

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Tatbestand

1

Der Kläger, ein 1981 geborener [X.] Staatsangehöriger [X.] Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

2

Er reiste im September 1996 in das [X.] ein und begründete seinen Asylantrag damit, dass er gezwungen werden sollte, in seinem Heimatdorf nahe der [X.] [X.] zu werden. Mit Bescheid vom 30. Januar 1997 lehnte das [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - den Asylantrag ab. Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte zu der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 [X.] vorliegen. Zwar habe der Kläger die [X.] unverfolgt verlassen, aber ihm drohe bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung aufgrund seiner in [X.] entfalteten Aktivitäten für eine Unterorganisation der [X.]. Daraufhin stellte das [X.] mit Bescheid vom 15. April 2002 beim Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 [X.] hinsichtlich der [X.] fest.

3

Angesichts des politischen Reformprozesses in der [X.] leitete das [X.] im Juni 2008 ein [X.] ein. Nach Anhörung des [X.] widerrief es mit Bescheid vom 16. Juli 2008 dessen Flüchtlingsanerkennung und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 [X.] nicht vorliegen. Mit Urteil vom 7. April 2009 hat das Verwaltungsgericht die dagegen gerichtete Klage abgewiesen.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 9. Februar 2010 die Entscheidung des [X.] geändert und den [X.] aufgehoben. Es ist davon ausgegangen, dass die Flüchtlingsanerkennung gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu widerrufen sei, wenn sich die zum [X.]punkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare [X.] mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei. Das gelte entgegen der Rechtsauffassung des [X.] auch, wenn die Flüchtlingsanerkennung nicht auf einer Vorverfolgung im Heimatland, sondern auf im Ausland entwickelter exilpolitischer Betätigung beruhe. Da der abgesenkte Wahrscheinlichkeitsmaßstab z.B. im Fall einer Gruppenverfolgung auch auf Gruppenangehörige Anwendung finde, die persönlich keine Verfolgungsmaßnahmen erlitten hätten, erscheine es unter humanitären Gesichtspunkten nur billig, den anerkannten Flüchtling ebenfalls davon profitieren zu lassen. Der Kläger wäre aber im Falle der Rückkehr in die [X.] vor Verfolgung nicht hinreichend sicher. Trotz der Reformen in der [X.] sei es bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Der Senat ziehe aus der Auskunftslage den Schluss, dass Personen, die von den [X.] Sicherheitsbehörden als Sympathisanten und Unterstützer der [X.] eingestuft würden, vor Verfolgung nicht hinreichend sicher seien, auch wenn es sich nicht um exponierte Akteure handele. Der Kläger sei zum [X.]punkt seiner Flüchtlingsanerkennung vom Verwaltungsgericht als hervorgehobener Aktivist eingestuft worden. Zwar habe er seine exilpolitische Betätigung nicht in gleicher Weise fortgesetzt. Es könne aber nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass seine Aktivitäten den Behörden bekannt geworden seien.

5

Zur Begründung ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht habe der Prüfung des Widerrufs zu Unrecht den abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt. Da die [X.] das Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nicht übernommen habe, setze der Widerruf nur voraus, dass die ursprüngliche Verfolgung nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Auf Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie könne sich der Kläger mangels Vorverfolgung nicht berufen. Die ursprünglich zur Flüchtlingsanerkennung führende Gefahr der Folter oder Misshandlung wegen exilpolitischer Aktivitäten für der [X.] nahestehende Organisationen habe in der [X.] nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mittlerweile nur noch Ausnahmecharakter; darin liege eine erhebliche Veränderung.

6

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und macht darüber hinaus geltend, dass Anerkennungs- und [X.] nur bedingt spiegelbildlich verliefen. [X.] man die Vorschrift des § 73 AsylVfG im Einklang mit der Entscheidung des [X.] vom 2. März 2010 aus, folge daraus zumindest indirekt, dass im [X.] - jedenfalls hinsichtlich einer der ursprünglich drohenden Verfolgung gleichartigen Verfolgung - der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde zu legen sei. Von einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Verhältnisse könne nur ausgegangen werden, wenn eine der ursprünglich geltend gemachten gleichartige Verfolgung hinreichend sicher auszuschließen sei.

Entscheidungsgründe

7

[X.]ie Revision der [X.]eklagten ist zulässig und begründet, denn das [X.]erufungsurteil beruht auf einer Verletzung von [X.]undesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). [X.]as [X.]erufungsgericht hat der Verfolgungsprognose, die es bei Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung gestellt hat, einen unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt. Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der Senat in der Sache weder in positiver noch in negativer Hinsicht selbst entscheiden. [X.]ie Sache ist daher an das Oberverwaltungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

8

1. Maßgeblich für die rechtliche [X.]eurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19. August 2007 ([X.]) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung ([X.]ekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, [X.]). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [X.]ies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

9

Mit § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 [X.]uchst. e und f der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 über [X.] für die Anerkennung und den Status von [X.]rittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ([X.] vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt [X.] EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. [X.]aher sind die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden [X.]estimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 [X.] Nr. 5 und 6 der [X.] - GFK - orientieren. [X.]ies gilt auch für Fälle, in denen die zugrunde liegenden [X.] - wie hier - vor dem Inkrafttreten der Richtlinie gestellt worden sind (vgl. Urteil vom 24. Februar 2011 - [X.]VerwG 10 [X.] 3.10 - juris Rn. 9; zur [X.] in der Entscheidungssammlung [X.]VerwGE vorgesehen).

2. [X.]as [X.]erufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Widerruf nicht an einem formellen Mangel leidet. Insbesondere begegnet er im Hinblick auf die Unverzüglichkeit gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG keinen [X.]edenken. [X.]as Gebot der Unverzüglichkeit dient nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ausschließlich öffentlichen Interessen, so dass ein etwaiger Verstoß dagegen keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzen kann (Urteil vom 18. Juli 2006 - [X.]VerwG 1 [X.] 15.05 - [X.]VerwGE 126, 243 Rn. 13 m.w.N.). [X.]ie Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG findet jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Flüchtlingsanerkennung innerhalb der [X.]rei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG widerrufen wird (Urteil vom 12. Juni 2007 - [X.]VerwG 10 [X.] 24.07 - [X.] 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28 Rn. 14 ff. m.w.N.). [X.]iese Vorschrift enthält eine bereichsspezifische Sonderregelung, welche die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt und auch für Altanerkennungen gilt.

3. [X.]er angefochtene [X.]escheid erweist sich auch nicht deshalb als rechtswidrig, weil das [X.] bei seiner Widerrufsentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. [X.]urch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG ist geklärt, dass in den Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens bis zum 31. [X.]ezember 2008 zu erfolgen hat. [X.]amit hat der Gesetzgeber eine Übergangsregelung für vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar gewordene Altanerkennungen getroffen und festgelegt, bis wann diese auf einen Widerruf oder eine Rücknahme zu überprüfen sind. [X.]araus folgt, dass es vor einer solchen Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keiner Ermessensentscheidung bedarf (Urteil vom 25. November 2008 - [X.]VerwG 10 [X.] 53.07 - [X.] 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 31 Rn. 13 ff.).

4. [X.]as [X.]erufungsurteil ist aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen und speziell mit [X.]lick auf den der Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der Richtlinie 2004/83/[X.] auszulegen ist. Nach Art. 11 Abs. 1 [X.]uchst. e der Richtlinie ist ein [X.]rittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des [X.] in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. [X.]ei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie). Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die [X.]eweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

a) [X.]iese unionsrechtlichen Vorgaben hat der Gerichtshof der [X.] in seinem Urteil vom 2. März 2010 ([X.]. [X.]-175/08 u.a., [X.] u.a. - NVwZ 2010, 505) dahingehend konkretisiert, dass der in Art. 11 Abs. 1 [X.]uchst. e der Richtlinie angesprochene "Schutz des [X.]" sich nur auf den bis dahin fehlenden Schutz vor den in der Richtlinie aufgeführten Verfolgungshandlungen bezieht ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 67, 76, 78 f.). [X.]azu hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sich die [X.]eendigung der Flüchtlingseigenschaft wegen Veränderungen im Herkunftsland grundsätzlich spiegelbildlich zur Anerkennung verhält. Art. 11 Abs. 1 [X.]uchst. e der Richtlinie 2004/83/[X.] sieht - ebenso wie Art. 1 [X.] Nr. 5 GFK - vor, dass die Flüchtlingseigenschaft erlischt, wenn die Umstände, aufgrund derer sie zuerkannt wurde, weggefallen sind, wenn also die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht mehr vorliegen ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 65). Nach Art. 2 [X.]uchst. c der Richtlinie ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten [X.] Gruppe, außerhalb des [X.] seiner Staatsangehörigkeit befindet, und den Schutz dieses [X.] nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ändern sich die der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände und erscheint die ursprüngliche Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 2 [X.]uchst. c der Richtlinie 2004/83/[X.] deshalb nicht mehr begründet, kann der [X.]etreffende es nicht mehr ablehnen, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 66), soweit er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 [X.]uchst. c der Richtlinie haben muss ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 76). [X.]ie Umstände, die zur Zuerkennung oder umgekehrt zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führen, stehen sich mithin in symmetrischer Weise gegenüber (so [X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 68).

Mit [X.]lick auf die Maßstäbe für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 11 Abs. 1 [X.]uchst. e und Abs. 2 der Richtlinie hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein muss, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 72). [X.]afür muss feststehen, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, beseitigt sind und diese [X.]eseitigung als dauerhaft angesehen werden kann ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 73).

aa) Eine erhebliche Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland mit [X.]lick auf die Faktoren, aus denen die zur Flüchtlingsanerkennung führende Verfolgungsgefahr hergeleitet worden ist, deutlich und wesentlich geändert haben. In der vergleichenden [X.]etrachtung der Umstände im [X.]punkt der Flüchtlingsanerkennung und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sachlage muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben. [X.]ie Neubeurteilung einer im [X.] unveränderten Sachlage reicht nicht aus, denn reiner [X.]ablauf bewirkt für sich genommen keine Sachlagenänderung. Allerdings sind wegen der [X.]- und Faktizitätsbedingtheit einer asylrechtlichen Gefahrenprognose Fallkonstellationen denkbar, in denen der Ablauf einer längeren [X.]spanne ohne besondere Ereignisse im Verfolgerstaat im Zusammenhang mit anderen Faktoren eine vergleichsweise höhere [X.]edeutung als in anderen Rechtsgebieten zukommt (vgl. Urteile vom 19. September 2000 - [X.]VerwG 9 [X.] 12.00 - [X.]VerwGE 112, 80 <84> und vom 18. September 2001 - [X.]VerwG 1 [X.] 7.01 - [X.]VerwGE 115, 118 <124 f.>).

Wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft kann seit Umsetzung der in Art. 11 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/[X.] enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der bisherigen, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des [X.] zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. [X.]anach setzte der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung voraus, dass sich die zum [X.]punkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare [X.] mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (Urteile vom 1. November 2005 - [X.]VerwG 1 [X.] 21.04 - [X.]VerwGE 124, 277 <281> und vom 12. Juni 2007 a.a.[X.] Rn. 18; so auch das [X.]erufungsgericht in der angefochtenen Entscheidung). [X.]ieser gegenüber der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abgesenkte Maßstab ist in der Rechtsprechung des [X.] und des [X.] zum Asylgrundrecht für Fälle der [X.] entwickelt worden. Er wurde dann auf den Flüchtlingsschutz übertragen und hat schließlich Eingang in die Widerrufsvoraussetzungen gefunden, soweit nicht eine gänzlich neue oder andersartige Verfolgung geltend gemacht wird, die in keinem inneren Zusammenhang mehr mit der früheren steht (Urteil vom 18. Juli 2006 a.a.[X.] Rn. 26).

[X.]ieses materiellrechtliche Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist der Richtlinie 2004/83/[X.] fremd. Sie verfolgt vielmehr bei einheitlichem Prognosemaßstab für die [X.]egründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 und der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie zum Ausdruck kommt (Urteile vom 27. April 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 5.09 - [X.]VerwGE 136, 377 Rn. 20 ff. und vom 7. September 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 11.09 - juris Rn. 15). [X.]as ergibt sich neben dem Wortlaut der zuletzt genannten Vorschrift auch aus der Entstehungsgeschichte, denn die [X.] konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die [X.]eratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). [X.]emzufolge gilt unionsrechtlich beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller bereits [X.] erlitten hat. [X.]ieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 [X.]uchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des [X.]. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 [X.] auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur [X.]MR, [X.], Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, [X.] - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - [X.]VerwG 9 [X.] 77.95 - [X.] 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; [X.]eschluss vom 7. Februar 2008 - [X.]VerwG 10 [X.] 33.07 - ZAR 2008, 192 ; Urteil vom 27. April 2010 a.a.[X.] Rn. 22).

Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich der Maßstab der Erheblichkeit für die Veränderung der Umstände danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. [X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 84 ff., 98 f.). [X.]ie Richtlinie kennt nur diesen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur [X.]eurteilung der Verfolgungsgefahr unabhängig davon, in welchem Stadium - Zuerkennen oder Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft - diese geprüft wird. Es spricht viel dafür, dass die Mitgliedstaaten hiervon in [X.] nicht nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des [X.]etroffenen abweichen können. [X.]enn die zwingenden Erlöschensgründe dürften zu den [X.]regelungen zählen, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind, um das von der Richtlinie 2004/83/[X.] geschaffene System nicht zu beeinträchtigen (vgl. [X.], Urteil vom 9. November 2010 - [X.]. [X.]-57/09 und [X.]-101/09, [X.] und [X.] - NVwZ 2011, 285 Rn. 120 zu den [X.]). [X.]as kann aber hier dahinstehen, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der [X.] Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an den oben dargelegten unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben des nationalen Rechts festhalten wollte. Vielmehr belegt der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 [X.], demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 [X.] u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie zu eigen gemacht hat.

bb) [X.]es Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/[X.] nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründen und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 72 ff.). Für den nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie dem Mitgliedstaat obliegenden Nachweis, dass eine Person nicht länger Flüchtling ist, reicht nicht aus, dass im maßgeblichen [X.]punkt kurzzeitig keine begründete Furcht vor Verfolgung (mehr) besteht. [X.]ie erforderliche dauerhafte Veränderung verlangt dem Mitgliedstaat vielmehr den Nachweis der tatsächlichen Grundlagen für die Prognose ab, dass sich die Veränderung der Umstände als stabil erweist, d.h. dass der Wegfall der verfolgungsbegründenden Faktoren auf absehbare [X.] anhält. [X.]er Senat hat in einem Fall, in dem ein verfolgendes Regime gestürzt worden ist ([X.]), bereits entschieden, dass eine Veränderung in der Regel nur dann als dauerhaft angesehen werden kann, wenn im Herkunftsland ein Staat oder ein sonstiger Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/[X.] vorhanden ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um die der Anerkennung zugrunde liegende Verfolgung zu verhindern (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.[X.] Rn. 17). [X.]enn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist nur gerechtfertigt, wenn dem [X.]etroffenen im Herkunftsstaat nachhaltiger Schutz geboten wird, nicht (erneut) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. So wie die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Rahmen der Verfolgungsprognose eine "qualifizierende" [X.]etrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer [X.]edeutung aus der Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des [X.]etroffenen nicht zuletzt unter Einbeziehung der Schwere des befürchteten Eingriffs verlangt und damit dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung trägt (Urteil vom 5. November 1991 - [X.]VerwG 9 [X.] 118.90 - [X.]VerwGE 89, 162 <169 f.>; [X.]eschluss vom 7. Februar 2008 a.a.[X.] juris Rn. 37), gilt dies auch für das Kriterium der [X.]auerhaftigkeit. Je größer das Risiko einer auch unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verbleibenden Verfolgung ist, desto nachhaltiger muss die Stabilität der Veränderung der Verhältnisse sein und prognostiziert werden können. Sind - wie hier - Veränderungen innerhalb eines fortbestehenden Regimes zu beurteilen, die zum Wegfall der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, sind an deren [X.]auerhaftigkeit ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Unionsrecht gebietet, dass die [X.]eurteilung der Größe der Gefahr von Verfolgung mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen ist, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der [X.] gehören ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 90). Eine Garantie der Kontinuität veränderter politischer Verhältnisse auf unabsehbare [X.] kann indes nicht verlangt werden.

b) [X.]as [X.]erufungsgericht hat vorliegend bei seiner Verfolgungsprognose den Maßstab der hinreichenden Sicherheit zugrunde gelegt. [X.]amit hat es § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG verletzt; auf dieser Verletzung beruht die [X.]erufungsentscheidung. [X.]a das [X.]erufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen unter einem - wie dargelegt - rechtlich unzutreffenden Maßstab getroffen hat, ist das [X.]erufungsurteil aufzuheben und die Sache an das [X.]erufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). [X.]enn es ist Aufgabe des [X.]erufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit [X.]lick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung des [X.]etroffenen zugrunde lagen, eine Gefahrenprognose unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zu erstellen. Für das neue [X.]erufungsverfahren weist der Senat im Übrigen darauf hin, dass sich das [X.]erufungsgericht von den Prognosegrundlagen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewissheit zu verschaffen hat. [X.] hinsichtlich tatsächlicher Schlussfolgerungen zu vergangenen oder gegenwärtigen Tatsachen wie dem [X.]ekanntwerden von Nachfluchtaktivitäten ([X.] f.) reichen nicht aus.

Meta

10 C 10/10

01.06.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 9. Februar 2010, Az: 4 LB 9/09, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.06.2011, Az. 10 C 10/10 (REWIS RS 2011, 6082)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6082

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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