Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.03.2012, Az. 10 C 7/11

10. Senat | REWIS RS 2012, 8633

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Gegenstand

Widerruf der Flüchtlingsanerkennung; dauerhafte Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland; einheitlicher Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit


Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung.

2

Die 1967 geborene Klägerin ist togoische Staatsangehörige. Sie reiste 1998 nach [X.] ein und beantragte Asyl. Mit Bescheid vom 28. Mai 1999 lehnte das [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - den Asylantrag ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das [X.], hinsichtlich der Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 [X.] (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 [X.]) festzustellen. Das [X.] kam dieser Verpflichtung im Juni 2004 nach.

3

Anfang 2008 leitete das [X.] wegen der in [X.] zwischenzeitlich eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung widerrief es mit Bescheid vom 28. Februar 2008 die Flüchtlingsanerkennung der Klägerin. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] wurde abgesehen, da der Widerruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das [X.] mit Urteil vom 26. August 2008 abgewiesen.

4

Auf die Berufung der Klägerin hat das [X.] mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Bescheid des [X.]s aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in [X.] hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare [X.] mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.

5

Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt.

6

Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung. Das Erfordernis der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung entspreche im Widerrufsverfahren bei [X.] dem Beweislastmaßstab aus Art. 14 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.]. Selbst wenn das Berufungsgericht von einem fehlerhaften Maßstab ausgegangen sein sollte, beruhe die Entscheidung zumindest nicht auf diesem Fehler, da es keinen Sachverhalt festgestellt habe, der einen Widerruf rechtfertigen würde. Hilfsweise beantragt sie die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/[X.].

Entscheidungsgründe

7

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die mit Blick auf den seiner Verfolgungsprognose zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist (1.). Die Berufungsentscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.). Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] bedarf es nicht (3.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen kann der [X.] in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Das Verfahren ist daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (4.).

8

1. Bei dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung, der im vorliegenden Fall formell nicht zu beanstanden ist (s.a. Urteil vom 29. September 2011 - [X.] 10 [X.] 24.10 - juris Rn. 11 ff.), ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt hat.

9

1.1 Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 über [X.] für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ([X.] vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt [X.] EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 [X.] Nr. 5 und 6 der [X.] - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - [X.] 10 [X.] 3.10 - [X.]E 139, 109 und vom 1. Juni 2011 - [X.] 10 [X.] 25.10 - [X.] 2011, 408 ; zur [X.] in der Entscheidungssammlung [X.]E vorgesehen).

Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/[X.] ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des [X.] in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei der Prüfung dieses Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat - unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen - in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.

Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/[X.] hat der Gerichtshof der [X.] ([X.]) in seinem Urteil vom 2. März 2010 ([X.]. [X.]-175/08 u.a., [X.] u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können ([X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 72 ff.; zur Erheblichkeit und Dauerhaftigkeit vgl. auch [X.], Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.[X.] Rn. 20 und 24 m.w.N.).

Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/[X.] anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen. Wie der [X.] bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.[X.] Rn. 21 ff.), kann wegen der Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft seit Umsetzung der in Art. 11 und 14 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen unionsrechtlichen Vorgaben an der früheren, unterschiedliche Prognosemaßstäbe heranziehenden Rechtsprechung des [X.] zu § 73 AsylVfG nicht festgehalten werden. Der Richtlinie 2004/83/[X.] ist ein solches materiellrechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose fremd. Sie verfolgt vielmehr unter Zugrundelegung eines einheitlichen Prognosemaßstabs für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft einen beweisrechtlichen Ansatz, wie er bei der tatsächlichen Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 und der Nachweispflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Demzufolge gilt beim Flüchtlingsschutz für die Verfolgungsprognose nunmehr ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des [X.] ([X.]MR), der bei der Prüfung des Art. 3 [X.] auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Aus der konstruktiven Spiegelbildlichkeit von Anerkennungs- und Erlöschensprüfung, in der die gleiche Frage des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 9 i.V.m. Art. 10 der Richtlinie zu beurteilen ist, ergibt sich, dass sich auch das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft danach bestimmt, ob noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung besteht (vgl. [X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 84 ff., 98 f.).

Die Frage, ob die Mitgliedstaaten von diesem Prognosemaßstab in Widerrufsverfahren nach Art. 3 der Richtlinie zugunsten des Betroffenen abweichen können, bedarf vorliegend keiner Entscheidung und braucht folglich nicht, wie von der Klägerin beantragt, dem Gerichtshof der [X.] vorgelegt zu werden. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der [X.] Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 bei der Flüchtlingsanerkennung an der bisherigen Anwendung unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe nach nationalem Recht festhalten wollte. Vielmehr belegt gerade der neu eingefügte § 60 Abs. 1 Satz 5 [X.], demzufolge für die Feststellung einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 [X.] u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.] ergänzend anzuwenden ist, dass der Gesetzgeber sich bei der Flüchtlingsanerkennung - abweichend von der bisherigen nationalen Rechtslage - den beweisrechtlichen Ansatz der Richtlinie 2004/83/[X.] zu eigen gemacht hat. Damit hat er auch ein - nach Umsetzung der Richtlinie ohnehin nicht zu vermeidendes - Auseinanderfallen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG einerseits und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft andererseits bewusst in Kauf genommen.

1.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehlerhaften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt ([X.]). Dies bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im [X.] in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen [X.] zu einem anderen Ergebnis gelangt sei (BA S. 6).

1.3. Die Berufungsentscheidung beruht - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 [X.] Mit den vom [X.] zum Anlass für eine Überprüfung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in [X.] (hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten [X.] im Februar 2005 und der von seinem [X.] im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog mit der Opposition) ist nach der Anerkennung der Klägerin eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland eingetreten. Das Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/[X.] handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.[X.] Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes [X.] sich nicht wesentlich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in [X.] erlauben dem [X.] keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Auch im Falle der gerichtlichen Anfechtung eines Widerrufs ist es grundsätzlich Aufgabe des Berufungsgerichts als Tatsacheninstanz, die Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer Gesamtschau zu würdigen und mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung zugrunde lagen, eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Gefahrenprognose zu erstellen. Anders als in dem vom [X.] mit Urteil vom 7. Juli 2011 ([X.] 10 [X.] 26.10 - juris Rn. 18; zur [X.] in der Entscheidungssammlung [X.]E vorgesehen) entschiedenen Fall tragen die bisherigen tatrichterlichen Feststellungen vorliegend auch nicht ausnahmsweise den Schluss, dass bei Zugrundelegung der unionsrechtlichen Vorgaben die Veränderungen in [X.] nicht so erheblich sind, dass sie den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, wie sich die in [X.] nach dem Tod [X.]s eingetretenen Änderungen der politischen Verhältnisse konkret in Ansehung der in der Person der Klägerin liegenden Umstände und Verhältnisse auswirken, sondern sich mit einer allgemeinen Bewertung der asylrelevanten Lage in [X.] begnügt. Seine zusammenfassende Bewertung, die Menschenrechtslage werde weiterhin als ernst bewertet, die Reformen des [X.] schienen noch keine greifbaren Ergebnisse gebracht zu haben und die bisherigen Machtstrukturen hätten sich nicht wesentlich geändert, beschränkt sich im [X.] auf eine Ergebnismitteilung, ohne die zugrunde liegenden Tatsachen für eine Neubewertung anhand des zutreffenden Prognosemaßstabs hinreichend differenziert aufzubereiten. Sie stützt sich zudem im Wesentlichen auf Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte, die fast alle aus der [X.] vor der Klärung der unionsrechtlichen Anforderungen an das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft durch den Gerichtshof der [X.] in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.[X.]) stammen und ihrer Gefahrenprognose ebenfalls den falschen Maßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde legen. Damit fehlt es an hinreichenden tatrichterlichen Feststellungen für eine - auf den Fall der Klägerin bezogene - individuelle Verfolgungsprognose. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen daher nicht den Schluss, dass der Klägerin im maßgeblichen [X.]punkt seiner Entscheidung (März 2011) bei einer Rückkehr weiterhin wegen ihrer früheren politischen Aktivitäten gegen das Regime [X.] oder aus anderen, an ihre politische Überzeugung anknüpfenden Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Berufungsentscheidung kann auch nicht entnommen werden, dass es bei Anwendung des richtigen Maßstabs zu einem "non liquet" und damit der Notwendigkeit einer Beweislastentscheidung gekommen wäre.

3. Der - von der Klägerin hilfsweise beantragten - Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] bedarf es schon deshalb nicht, weil der [X.] mangels hinreichender tatrichterlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden kann. Dessen ungeachtet wirft die Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/83/[X.] im vorliegenden Verfahren auch keine Zweifelsfragen auf. Dem Wortlaut der Richtlinie ist zu entnehmen, dass ihr für die Begründung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft materiell ein einheitlicher Prognosemaßstab zugrunde liegt und sie statt unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe - mit Art. 14 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 4 - einen beweisrechtlichen Ansatz verfolgt. Hiervon geht auch der [X.] in seinem Urteil vom 2. März 2010 (a.a.[X.]) aus. Zugleich hat er in dieser Entscheidung geklärt, unter welchen Voraussetzungen die Flüchtlingsanerkennung nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie erlischt. Dabei differenziert er zwischen den Umständen, aufgrund derer der Betroffene als Flüchtling anerkannt wurde, und anderen Umständen, aufgrund derer er entweder aus dem gleichen oder aus einem anderen (Verfolgungs-)Grund begründete Furcht vor Verfolgung hat. Ob die Umstände, auf denen die Anerkennung beruht, weggefallen sind, beurteilt sich ausschließlich nach Art. 11 der Richtlinie. Gleiches gilt regelmäßig auch für andere Umstände, mit denen sich der Betroffene auf eine Verfolgung aus demselben [X.] beruft. Dabei liegt die Beweislast nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie bei der Behörde. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie findet beim Erlöschen hingegen regelmäßig nur bei anderen Umständen Anwendung, bei denen sich der Betroffene auf einen anderen [X.] beruft (vgl. [X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 95 ff.).

4. Unter Beachtung dieser Vorgaben wird das Berufungsgericht in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen, ob sich die Verhältnisse in [X.] inzwischen so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Hierzu bedarf es auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen einer umfassenden Würdigung der aktuellen tatsächlichen Verhältnisse in [X.] mit Blick auf die Umstände, die der Flüchtlingsanerkennung der Klägerin zugrunde lagen, und darauf aufbauend einer individuellen Verfolgungsprognose. In diesem Zusammenhang wird sich das Berufungsgericht auch mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Lage in [X.] auseinanderzusetzen haben. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung grundsätzlich unerheblich ist, ob der Betroffene sein Heimatland unverfolgt oder - wie die Klägerin nach den Feststellungen im Anerkennungsverfahren - vorverfolgt verlassen hat. Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/[X.] kommt in diesen Fällen regelmäßig nicht zur Anwendung. Die Prüfung, ob die Umstände, die zur Anerkennung geführt haben, nachträglich weggefallen sind, richtet sich vielmehr nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie. Bei der Erstellung der Verfolgungsprognose wird das Berufungsgericht schließlich auch der Behauptung der Beklagten im Beschwerdeverfahren nachzugehen haben, dass der Vorsitzende der [X.]AR, für deren Jugendorganisation sich die Klägerin nach ihren Angaben im Anerkennungsverfahren in [X.] vor ihrer Ausreise u.a. politisch betätigt hat, ab September 2006 Premierminister von [X.] gewesen sei.

Meta

10 C 7/11

01.03.2012

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 9. März 2011, Az: 2 L 212/08, Beschluss

§ 73 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992, § 73 Abs 1 S 2 AsylVfG 1992, Art 11 Abs 1 Buchst e EGRL 83/2004, Art 11 Abs 2 EGRL 83/2004, Art 14 Abs 2 EGRL 83/2004, Art 4 Abs 4 EGRL 83/2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.03.2012, Az. 10 C 7/11 (REWIS RS 2012, 8633)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8633

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