Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.03.2012, Az. 10 C 10/11

10. Senat | REWIS RS 2012, 8620

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Gegenstand

Widerruf der Flüchtlingsanerkennung; Änderung der Rechtslage; Folgeantrag; selbstgeschaffene Nachfluchtgründe; Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung


Leitsatz

Die Pflicht zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gilt nicht nur bei einer Änderung der Sachlage, sondern auch bei einer Änderung der Rechtslage, wenn der Gesetzgeber die Rechtslage nicht nur mit Wirkung für die Zukunft neu gestaltet hat, sondern die Regelung ausnahmsweise auch für bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren Geltung beansprucht und diese Rückwirkung mit der Verfassung in Einklang steht (hier: verneint für die Regelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG ).

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

2

Der 1977 geborene Kläger ist togoischer Staatsangehöriger. Er reiste 1997 nach [X.] ein und beantragte Asyl. Das [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - lehnte den Antrag ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Im August 2004 stellte der Kläger einen [X.], den er mit exilpolitischen Aktivitäten begründete. Das [X.] lehnte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab. Im Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht das [X.] mit Urteil vom 25. November 2004, hinsichtlich des [X.] das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 [X.] (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 [X.]) festzustellen. Das [X.] kam der - seit 4. Januar 2005 rechtskräftigen - Verpflichtung mit Bescheid vom 13. Januar 2005 nach.

3

Im November 2007 leitete das [X.] wegen der in [X.] zwischenzeitlich eingetretenen politischen Veränderungen ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung widerrief es mit Bescheid vom 28. Januar 2008 die Flüchtlingsanerkennung des [X.]. Von einer Entscheidung über das Vorliegen von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] wurde abgesehen, da der Widerruf aus Gründen der Statusbereinigung erfolge. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das [X.] mit Urteil vom 9. September 2008 abgewiesen.

4

Auf die Berufung des [X.] hat das [X.] mit Beschluss vom 9. März 2011 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und den Bescheid des [X.]s aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG lägen nicht vor. Die maßgeblichen Verhältnisse in [X.] hätten sich nicht so verändert, dass bei einer Rückkehr eine Verfolgung auf absehbare [X.] mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sei.

5

Die Beklagte erstrebt mit der Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zur Begründung macht sie geltend, das Berufungsgericht habe seiner Verfolgungsprognose einen falschen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt. Außerdem habe sich die Rechtslage nachträglich zu Lasten des [X.] geändert. Der Gesetzgeber habe mit § 28 Abs. 2 AsylVfG für [X.] einen neuen Regelausschlusstatbestand geschaffen.

6

Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.

Entscheidungsgründe

7

Die Revision, über die der [X.] mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Berufungsgerichts beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung mit einer Begründung verneint, die mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht zu vereinbaren ist. Der angefochtene Widerruf hatte nach § 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung zu ergehen (1.). Hinsichtlich einer Änderung der Sachlage hat das Berufungsgericht seiner Verfolgungsprognose aber einen unrichtigen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt (2.). Die Berufungsentscheidung stellt sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO) (3.). Umgekehrt folgt aus der zwischenzeitlichen Änderung der Rechtslage keine Entscheidung zu Lasten des [X.] (4.). Mangels der für eine abschließende Entscheidung notwendigen tatsächlichen Feststellungen ist das Verfahren zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (5.).

8

1. Der angefochtene Widerruf ist formell nicht zu beanstanden und hatte nach § 73 Abs. 1 AsylVfG als gebundene Entscheidung zu ergehen. Nach § 73 Abs. 2a AsylVfG hat das [X.] spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Flüchtlingsanerkennung zu prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme vorliegen und das Ergebnis der Prüfung der Ausländerbehörde mitzuteilen (§ 73 Abs. 2a Satz 1 und 2 AsylVfG). Ist nach einer solchen Prüfung ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt (Negativentscheidung), steht eine spätere Entscheidung nach § 73 Abs. 1 oder 2 AsylVfG im Ermessen der Behörde, es sei denn der Widerruf oder die Rücknahme ist erfolgt, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 [X.] oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG vorliegen (§ 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG). Dabei kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, welche Rechtsfolgen sich an eine pflichtwidrige Unterlassung der Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG knüpfen (vgl. Urteil vom 20. März 2007 - BVerwG 1 [X.] 34.06 - [X.] 402.242 § 60 Abs. 1 [X.] Nr. 31). Denn der Widerruf ist (jedenfalls) auch dann zwingend auszusprechen, wenn er - wie hier - innerhalb eines angemessenen Prüfungszeitraums nach Ablauf der Dreijahresfrist erfolgt (Urteil vom 12. Juni 2007 - BVerwG 10 [X.] 24.07 - [X.] 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 28).

9

Die gerichtliche Verpflichtung, auf der die Flüchtlingsanerkennung des [X.] beruht, erwuchs am 4. Januar 2005 in Rechtskraft. Damit endete die Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG am 4. Januar 2008. Wegen der anstehenden Prüfung nach § 73 Abs. 2a AsylVfG hat das [X.] bereits im November 2007 - vor Ablauf der Dreijahresfrist - ein Widerrufsverfahren eingeleitet und dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ab diesem Zeitpunkt musste der Kläger mit einem Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung rechnen. Umgehend nach Eingang der Stellungnahme des [X.] mit Schreiben vom 18. Januar 2008 hat das [X.] die Anerkennung noch im Januar 2008 - und damit innerhalb eines angemessenen Prüfungszeitraums nach Ablauf der Dreijahresfrist - widerrufen.

2. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht die materielle Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids verneint hat, hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Beim Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wegen einer nachträglichen Änderung der Sachlage ist für die Verfolgungsprognose auf den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit abzustellen, den das Berufungsgericht verfehlt hat.

2.1 Von einem Wegfall der [X.] aufgrund einer nachträglichen Änderung der Sachlage ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere auszugehen, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 über [X.] für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ([X.] vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt [X.] EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt. Die Voraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 [X.] Nr. 5 und 6 der [X.] - GFK - orientieren (vgl. Urteile vom 24. Februar 2011 - BVerwG 10 [X.] 3.10 - BVerwGE 139, 109 Rn. 9 und vom 1. Juni 2011 - BVerwG 10 [X.] 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 15). Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/[X.] hat der [X.] ([X.]) in seinem Urteil vom 2. März 2010 ([X.]. [X.]-175/08 u.a., [X.] u.a. - NVwZ 2010, 505) weiter konkretisiert. Danach muss die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend sein, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist mithin untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/[X.] anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. dazu im Einzelnen: Urteil des [X.]s vom heutigen Tage im Verfahren BVerwG 10 [X.] 7.11 Rn. 12 f. m.w.N.).

2.2 Das Berufungsgericht hat vorliegend eine solche erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland auf der Grundlage einer fehlerhaften Verfolgungsprognose verneint. Denn es hat seiner Verfolgungsprognose nicht den Maßstab der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, sondern den der hinreichenden Verfolgungssicherheit zugrunde gelegt ([X.]). Dies bekräftigt im Übrigen auch der Hinweis des Berufungsgerichts, dass es im [X.] in einem Anerkennungsverfahren bei Anwendung eines anderen [X.] zu einem anderen Ergebnis gelangt sei ([X.] 6).

2.3 Die Berufungsentscheidung beruht auf dieser Verletzung des § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 [X.] Mit den vom [X.] zum Anlass für eine Überprüfung der Flüchtlingsanerkennung genommenen politischen Änderungen in [X.] (hier: insbesondere der Tod des früheren Präsidenten [X.] im Februar 2005 und der von seinem [X.] im April 2006 eingeleitete strukturierte Dialog mit der Opposition) ist nach der Anerkennung des [X.] eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse in seinem Heimatland eingetreten. Das Berufungsgericht hatte daher zu prüfen, ob es sich hierbei um eine hinreichend erhebliche und dauerhafte Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/[X.] handelt, weil sich eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Verfolgungsprognose ergeben hat, so dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht (Urteil vom 1. Juni 2011 a.a.[X.] Rn. 20, 23). Seine Bewertung, dass die bisherigen Machtstrukturen des früheren Regimes [X.] sich nicht wesentlich verändert hätten, beruht demgegenüber auf einer Verfolgungsprognose, der ein rechtlich unzutreffender Maßstab zugrunde liegt. Sie enthält keine Aussage zur Wesentlichkeit der Veränderungen in Bezug auf den anzuwendenden Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den asylerheblichen Verhältnissen in [X.] erlauben dem [X.] keine eigene Verfolgungsprognose auf der Grundlage des zutreffenden Prognosemaßstabes. Insoweit wird zur weiteren Begründung Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des [X.]s vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 [X.] 7.11 (Rn. 16). In diesem Verfahren hat das Berufungsgericht mit gleichlautender Begründung den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung aufgehoben.

4. Umgekehrt folgt aus der zwischenzeitlichen Änderung der Rechtslage keine Entscheidung zu Lasten des [X.]. Mit dem zum 1. Januar 2005 in [X.] getretenen Regelausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG bei selbstgeschaffenen [X.] in einem [X.] liegt zwar eine nachträgliche Änderung der Rechtslage vor. Diese berechtigt aber nicht zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung.

4.1 Beruht die Flüchtlingsanerkennung - wie vorliegend - auf einem gerichtlichen Verpflichtungsurteil, ist maßgeblicher Bezugspunkt für eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse der Zeitpunkt des [X.] des rechtskräftig gewordenen Urteils (hier: 25. November 2004, Urteil vom 8. Mai 2003 - BVerwG 1 [X.] 15.02 - BVerwGE 118, 174 <177 f.>). Seinerzeit waren subjektive [X.] nur bei der Asylanerkennung regelmäßig unbeachtlich. Dies hat sich erst mit Inkrafttreten des [X.] am 1. Januar 2005 geändert. Seitdem stehen in einem [X.] subjektive [X.], die der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Asylantrags geschaffen hat, auch einer Flüchtlingsanerkennung in der Regel entgegen.

4.2 Nicht jede Rechtsänderung zu Lasten des Betroffenen führt jedoch dazu, dass das [X.] die Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 [X.] widerrufen muss. Für die Ausschlussgründe wegen Asylunwürdigkeit hat der [X.] entschieden, dass Altanerkennungen, die vor Einführung dieser Ausschlussgründe ausgesprochen wurden, jedenfalls nach Umsetzung der Richtlinie 2004/83/[X.] wegen der unionsrechtlich nunmehr zwingend gebotenen Beachtung dieser Ausschlussgründe zu widerrufen sind (Urteil vom 7. Juli 2011 - BVerwG 10 [X.] 26.10 - BVerwGE 140, 114 Rn. 21). Vergleichbare unionsrechtliche Vorgaben fehlen beim Regelausschlussgrund der selbstgeschaffenen [X.] im [X.] nach § 28 Abs. 2 [X.] Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/[X.] können die Mitgliedstaaten unbeschadet der [X.] festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat. Die Richtlinie gebietet daher weder die Berücksichtigung selbstgeschaffener [X.] im [X.] noch steht sie einer einschränkenden nationalen Regelung entgegen.

Auch in Fällen, in denen eine nachträgliche Änderung der Rechtslage - wie hier - nicht auf zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben beruht, ist die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht von vornherein ausgeschlossen. Dafür spricht der Wortlaut der Vorschrift, der - anders als bei der allgemeinen Widerrufsregelung in § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4 VwVfG - nicht zwischen nachträglich eingetretenen Tatsachen und geänderten Rechtsvorschriften differenziert, sondern nur verlangt, dass die "Voraussetzungen" für die Anerkennung nicht mehr vorliegen. Auch den Gesetzesmaterialien zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG kann eine Beschränkung auf tatsächliche Änderungen nicht entnommen werden.

Wenngleich der Widerruf damit im Grundsatz nicht auf nachträgliche Änderungen der Sachlage beschränkt ist, bedeutet dies aber nicht, dass jede Änderung der Rechtslage das [X.] nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zur Einleitung eines Widerrufsverfahrens berechtigt und verpflichtet. Ein Widerruf wegen einer nachträglichen Änderung der Rechtslage setzt vielmehr voraus, dass der Gesetzgeber die Rechtslage nicht nur mit Wirkung für die Zukunft neu gestaltet hat, sondern die Regelung ausnahmsweise auch für bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren Geltung beansprucht und diese Rückwirkung mit der Verfassung in Einklang steht. Bezüglich des zum 1. Januar 2005 eingefügten § 28 Abs. 2 AsylVfG fehlt es indes an Anhaltspunkten, dass sich diese nachträgliche Verschärfung der [X.] nach dem Willen des Gesetzgebers auch auf bestandskräftig abgeschlossene Flüchtlingsanerkennungen erstrecken sollte.

Nach der Gesetzesbegründung zum [X.] ging es dem Gesetzgeber mit der Neuregelung in § 28 Abs. 2 AsylVfG darum, dass künftig auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft regelmäßig ausgeschlossen ist, wenn nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags ein [X.] auf selbst geschaffene [X.] gestützt wird. Hierdurch sollte der bislang bestehende Anreiz genommen werden, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenem Asylverfahren aufgrund neu geschaffener [X.] ein Asylfolgeverfahren zu betreiben. Zugleich wurde davon ausgegangen, dass durch diese Maßnahme die hohe Anzahl der beim [X.] anhängigen (Folge-)Verfahren langfristig reduziert wird (vgl. BTDrucks 15/420 S. 110). Dem ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Verschärfung der [X.] beim Flüchtlingsschutz zukunftsgerichtet auf das Verhalten der Asylsuchenden einwirken wollte. Es fehlt jeder Anhalt, dass die Regelung auch auf bestandskräftig anerkannte Flüchtlinge Anwendung finden und das [X.] zur Einleitung von Widerrufsverfahren verpflichtet werden sollte. Dies würde im Übrigen auch der vom Gesetzgeber angestrebten Entlastung des [X.]s entgegenlaufen.

5. Das Berufungsgericht wird in dem neuen Berufungsverfahren prüfen müssen, ob sich die Verhältnisse in [X.] inzwischen so erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben, dass für den Kläger bei einer Rückkehr keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung mehr besteht. Auch insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Urteil des [X.]s vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 [X.] 7.11 (Rn. 18). Dabei wird das Berufungsgericht auch zu würdigen haben, dass der Kläger sich nach eigenen Angaben vor seiner Ausreise für die UF[X.] politisch betätigt hat, diese nach dem Vorbringen der Beklagten im Beschwerdeverfahren inzwischen aber an der Regierung in [X.] beteiligt ist.

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10 C 10/11

01.03.2012

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 9. März 2011, Az: 2 L 224/08, Beschluss

§ 28 Abs 2 AsylVfG 1992, § 73 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992, § 73 Abs 1 S 2 AsylVfG 1992, Art 1F Buchst b FlüAbk, Art 1F Buchst c FlüAbk, Art 11 Abs 1 Buchst e EGRL 83/2004, Art 5 Abs 3 EGRL 83/2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 01.03.2012, Az. 10 C 10/11 (REWIS RS 2012, 8620)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8620

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W 4 K 16.31038

5 L 766/20.A

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