Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.06.2023, Az. B 1 KR 27/22 R

1. Senat | REWIS RS 2023, 9423

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Versäumung der Revisionsbegründungsfrist - elektronischer Rechtsverkehr - Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs - vorübergehende technische Störung - kein Wiedereinsetzungsgrund - wiederholter Fristverlängerungsantrag - Vertrauen auf dritte Fristverlängerung - Vorliegen von besonders schwerwiegenden Gründen - Arbeitsüberlastung


Tenor

Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 13. September 2022 wird abgelehnt.

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 13. September 2022 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die Klägerin begehrt die Kostenübernahme für stationäre [X.]iposuktionen. Während sie mit ihrer Klage vor dem [X.] erfolgreich war (Urteil vom [X.]), hat das [X.][X.] die Klage unter Aufhebung des Urteils des [X.] abgewiesen (Urteil vom 13.9.2022). Gegen das ihr am [X.] zugestellte Urteil des [X.][X.] hat die Klägerin am Montag, den 24.10.2022 Revision eingelegt. Der Vorsitzende des erkennenden Senats hat die Frist für die Revisionsbegründung antragsgemäß bis zum [X.] und nachfolgend nochmals bis zum 10.2.2023 verlängert (Schreiben vom 28.11.2022 und 22.12.2022, dem Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 5.12.2022 und [X.]). Mit einem am [X.] beim B[X.] eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin die Revision begründet und beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der [X.] zu gewähren.

2

Zu ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trägt die Klägerin vor: Durch ein Versehen der sorgfältig angeleiteten und überwachten Assistentin der Bundesrechtsabteilung ihres Bevollmächtigten sei der [X.] am 10.2.2023 nicht an das [X.] übermittelt und der Fristablauf erst am darauffolgenden Montag, den [X.] bemerkt worden. Die Assistentin habe absprachegemäß einen weiteren [X.] vorbereitet und zusammen mit weiteren Schreiben in das besondere elektronische Anwaltspostfach [X.]) des für die Bearbeitung des Verfahrens zuständigen Rechtsanwaltes [X.] eingestellt und diesen darüber informiert. Der Versuch, die Nachrichten zu versenden, sei aufgrund technischer Störungen mehrfach fehlgeschlagen. Bei dem wiederholten Einstellen der Nachrichten für den Versand durch Rechtsanwalt [X.] habe die Assistentin vergessen, den [X.] in der hier vorliegenden Sache noch einmal einzustellen. Sie habe sich mit dem Rechtsanwalt zu ihrem Feierabend dahingehend verständigt, dass sämtliche Fristabläufe für den 10.2.2023 im [X.] als Entwürfe hochgeladen seien und er den Versand per [X.] noch einmal am Abend probieren würde. Als er dann am späten Abend gegen 22.25 Uhr die Nachrichten aus den Entwürfen erfolgreich habe versenden können, sei der [X.] nicht dabei gewesen. Ein Ausstreichen der Frist im Rahmen der Fristenkontrolle habe um diese Uhrzeit nicht mehr erfolgen können. Der Fehler sei deshalb erst beim Austragen der Fristen am darauffolgenden Montag, den [X.] bemerkt worden.

3

II. Die nicht in der gesetzlichen Frist begründete Revision ist durch Beschluss ohne Zuziehung [X.] als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 und 3 [X.]G; dazu 1.). Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist abzulehnen (dazu 2.).

4

1. Nach § 164 [X.] [X.]G ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden (§ 164 Abs 2 Satz 2 [X.]G). Die Klägerin hätte ihre Revision, die sie rechtzeitig gegen das ihr am [X.] mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung zugestellte [X.][X.]-Urteil eingelegt hat, nach der bereits [X.] verlängerten Frist bis zum Ablauf des 10.2.2023 begründen müssen. Dem genügt die erst am [X.] beim B[X.] eingegangene Revisionsbegründung nicht.

5

2. Der Klägerin ist auch nicht antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der [X.] zu gewähren (§ 67 Abs 1 [X.]G).

6

Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs 1 und [X.] und 2 [X.]G).

7

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Klägerin hat schuldhaft die [X.] versäumt, wobei sie sich das Verschulden ihres [X.]rozessbevollmächtigten und des bei diesem angestellten Rechtsanwaltes [X.] zurechnen lassen muss (§ 73 Abs 4 Satz 1 [X.]G iVm § 85 Abs 2 Z[X.]O; vgl zur [X.] B[X.] vom [X.] KR 59/17 B - [X.] 4-1500 § 67 [X.] RdNr 7 mwN; zur Zurechnung des Verschuldens eines angestellten Rechtsanwalts, dem der Rechtsstreit zur selbstständigen Bearbeitung übertragen worden ist vgl [X.] - [X.]/04 - NJW 2004, 2901 = juris RdNr 8). Nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin ist der mit der Sache betraute Rechtsanwalt [X.] seiner (eigenen) Obliegenheit zur Fristenkontrolle nicht hinreichend nachgekommen (dazu b). Zudem ist auch nicht erkennbar, aus welchen Gründen er darauf vertrauen durfte, dass seinem erneuten [X.] entsprochen wird (dazu c). Die vorübergehenden technischen Störungen des elektronischen Rechtsverkehrs stellen keinen Wiedereinsetzungsgrund dar (dazu a).

8

a) Dass der elektronische Versand von Nachrichten am Tag des Fristablaufs aufgrund von technischen Störungen vorübergehend unmöglich war, begründet für sich genommen keinen Wiedereinsetzungsgrund. Ungeachtet des Umstandes, dass nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin am späten Abend des 10.2.2023 der elektronische Versand wieder möglich war und durch Rechtsanwalt [X.] hinsichtlich anderer Dokumente auch tatsächlich erfolgt ist, hätte insofern nach § 65d Satz 3 [X.]G die Möglichkeit bestanden, andere Übermittlungswege (ua Briefpost oder Telefax) zu nutzen (vgl dazu [X.] in [X.], 2. Aufl 2022, § 65d [X.]G RdNr 29 ff, Stand 24.3.2023). Diese musste dem Bevollmächtigten der Klägerin bekannt sein (vgl BayVGH vom 2.5.2022 - 6 ZB 22.30401 - NVwZ 2022, 1392, 1393 = juris, jeweils RdNr 9).

9

b) Das Unterlassen der hinreichenden Fristenkontrolle durch Rechtsanwalt [X.] begründet ein Verschulden. Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt; er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (vgl B[X.] vom 1.11.2017 - [X.] AS 26/17 R - RdNr 6; [X.] - [X.] 189/07 - NJW 2008, 2589 mwN).

Ein Rechtsanwalt ist aber verpflichtet, durch organisatorische Maßnahmen Fehlerquellen bei der Behandlung von [X.] in größtmöglichem Umfang auszuschließen; hierzu gehört insbesondere eine wirksame Ausgangskontrolle, durch die gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze auch tatsächlich rechtzeitig hinausgehen (vgl B[X.] vom 29.12.2015 - [X.] R 392/15 B - juris RdNr 8 mwN). Die Ausgangskontrolle für fristwahrende Schriftsätze kann zB derart organisiert sein, dass ein [X.] geführt wird, in dem für jeden fristwahrenden Schriftsatz die maßgebliche Frist eingetragen und erst nach tatsächlich erfolgter Absendung durchgestrichen wird, sowie, dass am Schluss eines jeden [X.] eine Überprüfung der noch erforderlichen Erledigungen stattfindet (vgl B[X.], aaO, mwN). Eine bloße [X.]rüfung, ob der für die Gerichtspost bestimmte [X.] leer ist, reicht nicht aus (vgl [X.] vom 16.2.2010 - [X.]/09 - NJW 2010, 1378 = juris RdNr 7).

Dass eine solche Fristen- und Ausgangskontrolle am Abend des 10.2.2023 tatsächlich stattgefunden oder aus den [X.]rozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zurechenbaren Gründen nicht stattgefunden hat, hat die Klägerin nicht dargelegt und ist auch nicht erkennbar. Nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin und der zur Glaubhaftmachung vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der für ihren Bevollmächtigten tätigen Assistentin [X.] war vielmehr zu dem Zeitpunkt, als Frau [X.] am 10.2.2023 in den Feierabend ging, der [X.] in dem vorliegenden Verfahren noch nicht an das B[X.] übersandt worden. Sie hatte die an diesem Tag noch zu versendenden [X.] in Absprache mit Rechtsanwalt [X.] lediglich für den Versand durch diesen vorbereitet und in dessen [X.] eingestellt, dabei aber versehentlich den [X.] in der vorliegenden Sache vergessen. Eine Überwachung der Fristwahrung und Austragung im [X.] konnte durch Frau [X.] an diesem Tage folglich nicht mehr erfolgen. Ungeachtet des Umstandes, dass die Überwachung von Fristen im Revisionsverfahren gesteigerten Anforderungen unterliegt und regelmäßig nicht zu den [X.] [X.] gehört (vgl etwa B[X.] vom 1.11.2017 - [X.] AS 26/17 R - juris RdNr 7 mwN; B[X.] vom 5.12.2017 - [X.] [X.] 2/16 R - juris RdNr 11), wäre es insofern die Aufgabe von Rechtsanwalt [X.] gewesen, die Einhaltung der beim Verlassen des Büros durch Frau [X.] noch offenen Fristen nach dem Versand selbst abschließend zu kontrollieren und im [X.] zu notieren. Dann wäre ihm das Versehen von Frau [X.] aufgefallen und hätte er den [X.] noch rechtzeitig übersenden können.

c) Die Verlängerung der [X.] nach § 164 Abs 2 Satz 2 [X.]G, über die von dem bzw der Vorsitzenden des Senats nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird, erfordert das Vorbringen eines plausiblen Grundes hierfür (vgl B[X.] vom 5.8.2020 - B 4 [X.]/20 R - juris RdNr 5 mwN). Bei einem weiteren Verlängerungsantrag darf mit einer Bewilligung grundsätzlich nur gerechnet werden, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles keine andere Entscheidung erwarten lassen (vgl [X.] vom 4.3.2004 - IX Z[X.]1/03 - NJW 2004, 1742 = juris RdNr 4; [X.] in [X.], [X.]G, § 164 RdNr 35, Stand 1.5.2023). Das Vertrauen auf eine dritte Fristverlängerung ist nur noch bei besonders schwerwiegenden Gründen gerechtfertigt (vgl [X.] in [X.], Z[X.]O, 34. Aufl 2022, § 233 RdNr 23.19 mwN).

Nachdem die Frist für die Revisionsbegründung vom Vorsitzenden des erkennenden Senats bereits [X.] verlängert worden war, hätte es daher der Darlegung besonderer Umstände bedurft, um ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin auf eine nochmalige Bewilligung der am letzten [X.] beantragten Fristverlängerung zu rechtfertigen. Solche besonderen Umstände lassen sich dem Vorbingen der Klägerin nicht entnehmen. Allein der von Frau [X.] in ihrer eidesstattlichen Versicherung dargelegte Umstand, dass die Bundesrechtsabteilung des Bevollmächtigten der Klägerin seit Ende Oktober 2021 krankheitsbedingt nur durch Rechtsanwalt [X.] und sie besetzt gewesen sei und sich zum Ende des Jahres 2022 zahlreiche Fristen angesammelt hätten, reicht hierfür nicht aus. Bei einer länger andauernden - auch krankheitsbedingten - Arbeitsüberlastung muss der Bevollmächtigte sobald wie möglich geeignete Maßnahmen zur Verringerung der Belastung treffen, zB durch Heranziehung zusätzlicher Mitarbeiter (vgl [X.] vom 23.11.2000 - [X.]/00 - juris Rd[X.]).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 [X.]G.

        

Schlegel

Geiger

Bockholdt

Meta

B 1 KR 27/22 R

27.06.2023

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Aurich, 8. Januar 2021, Az: S 18 KR 104/17, Urteil

§ 67 Abs 1 SGG, § 65 SGG, § 65d S 3 SGG, § 73 Abs 4 S 1 SGG, § 164 Abs 2 S 1 SGG, § 164 Abs 2 S 2 SGG, § 85 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.06.2023, Az. B 1 KR 27/22 R (REWIS RS 2023, 9423)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9423

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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VIII ZB 76/09

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