Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2021, Az. XI ZB 23/20

11. Zivilsenat | REWIS RS 2021, 909

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Gegenstand

Kapitalanleger-Musterverfahren: Neubestimmung des Musterrechtsbeschwerdeführers


Leitsatz

Wird über das Vermögen des Musterrechtsbeschwerdeführers ein Insolvenzverfahren eröffnet, bestimmt das Rechtsbeschwerdegericht entsprechend § 21 Abs. 4, § 13 Abs. 1 Fall 2, § 9 Abs. 2 KapMuG einen neuen Musterrechtsbeschwerdeführer.

Tenor

Der [X.] zu 2, [X.], wird an Stelle der bisherigen [X.]n zu 1, der [X.], zum [X.] bestimmt.

Gründe

I.

1

Die [X.] haben mit [X.] vom 16. Januar 2020 Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid eingelegt, die sie mit [X.] vom 15. April 2020 begründet haben. Mit Beschluss vom 11. Februar 2020 ist die [X.] (im Folgenden: bisherige [X.] zu 1) zur [X.]in bestimmt worden. Über das Vermögen der bisherigen [X.] zu 1 ist durch Beschluss des [X.] am 16. Dezember 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Mit [X.] vom 19. Mai 2021 hat der [X.] die Bestimmung eines neuen [X.] beantragt. Der [X.] zu 2 hat sich mit [X.] vom 26. August 2021 als neuer [X.] bereit erklärt. Der [X.] hat sich mit [X.] vom 25. August 2021 für den [X.] zu 3 als neuen [X.] ausgesprochen.

II.

2

Der [X.] zu 2 wird entsprechend § 21 Abs. 4, § 13 Abs. 1 Fall 2, § 9 Abs. 2 [X.] als neuer [X.] bestimmt.

3

1. Das [X.] enthält keine Regelung für den Fall, dass im Rechtsbeschwerdeverfahren über das Vermögen des [X.] ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Dabei handelt es sich um eine planwidrige Gesetzeslücke. Denn die Regelungen zur Bestimmung des [X.] sind gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig. Dies gilt sowohl für den [X.] auf [X.]seite (dazu unter a) als auch für den [X.] auf [X.]seite (dazu unter b).

4

a) Im Musterverfahren erster Instanz wird unter den Klägern, deren Verfahren nach § 8 Abs. 1 [X.] ausgesetzt wurden, ein [X.] bestimmt. Die Kläger, die nicht als [X.] ausgewählt werden, sind Beigeladene des [X.] (§ 9 Abs. 3 [X.]). Daraus folgt, dass eine Regelung für die Fälle erforderlich ist, in denen zu befürchten ist, dass der [X.] das Musterverfahren unter Berücksichtigung der Interessen der Beigeladenen nicht mehr angemessen führen kann (vgl. [X.]/[X.]/Großerichter/Winter in [X.]/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 13 [X.] Rn. 5, 8 und 12). Diese Regelung hat der Gesetzgeber in § 13 Abs. 1 und 2 [X.] getroffen. § 13 Abs. 1 [X.] sieht vor, dass das [X.] nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 [X.] einen neuen [X.] bestimmt, wenn der [X.] im Laufe des [X.] seine Klage im Ausgangsverfahren zurücknimmt oder über das Vermögen des [X.]s ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Dies hat der Gesetzgeber damit begründet, dass im Falle der Insolvenz gemäß § 240 ZPO das Musterverfahren in der Person des [X.]s unterbrochen sei, was zu möglichen Verfahrensverzögerungen führe, die im Interesse einer zügigen Durchführung des [X.] unerwünscht seien ([X.]. 2/05, [X.] f.; BT-Drucks. 17/8799, [X.]).

5

Legt der [X.] Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid ein, so führt er das Musterverfahren als [X.] in der [X.] fort (§ 21 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Legt nicht der [X.], sondern einer oder mehrere der Beigeladenen Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid ein, wird derjenige Beigeladene, welcher als erster das Rechtsmittel eingelegt hat, vom Rechtsbeschwerdegericht zum [X.] bestimmt (§ 21 Abs. 2 [X.]). Die (übrigen) Beigeladenen sind als weitere Rechtsbeschwerdeführer beteiligt, wenn sie selbst Rechtsbeschwerde eingelegt haben (vgl. Senatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 - [X.], juris Rn. 1 mwN), oder als Beigetretene, wenn sie auf Seiten des [X.] gemäß § 20 Abs. 2 [X.] dem Rechtsbeschwerdeverfahren beitreten.

6

Durch die Konzentration auf nur einen [X.] besteht wie im Musterverfahren erster Instanz die Notwendigkeit, eine Regelung für den Fall vorzusehen, dass in der Person des [X.] ein Unterbrechungs- oder Aussetzungsgrund eintritt. Denn ansonsten könnte es auch im Rechtsbeschwerdeverfahren zu Verzögerungen kommen oder dazu, dass eine interessengerechte Vertretung der übrigen Beteiligten auf der [X.]seite gefährdet ist. Eine derartige Regelung fehlt jedoch für das Rechtsbeschwerdeverfahren. § 21 Abs. 4 [X.] sieht lediglich eine Neubestimmung des [X.] entsprechend § 13 Abs. 1 [X.] aus dem Kreis der Beteiligten, die dem Rechtsbeschwerdeverfahren auf der Seite des [X.] beigetreten sind, für den Fall vor, dass der bisherige [X.] seine Rechtsbeschwerde zurücknimmt.

7

Dass der Gesetzgeber damit eine abschließende Regelung für die Neubestimmung des [X.] schaffen wollte, ist nicht anzunehmen (vgl. KK-[X.]/Rimmelspacher, 2. Aufl., § 21 Rn. 59 ff.). Mit der Bestimmung des § 21 Abs. 4 [X.] wollte der Gesetzgeber den Rechtsgedanken der Regelung des § 15 Abs. 3 Satz 2 [X.] in der Fassung vom 16. August 2005 aufgreifen (BT-Drucks. 17/8799, [X.]) und verhindern, dass der [X.] den [X.] durch eine finanzielle Gegenleistung - den Interessen der Beigeladenen zuwider - zum Rechtsmittelverzicht bewegt (vgl. [X.]. 2/05, [X.]). Er hat somit einen nur im Rechtsbeschwerdeverfahren auftretenden Sonderfall (vgl. [X.]. 2/05, [X.]) geregelt, der jedoch wie die in § 13 Abs. 1 und 2 [X.] aufgeführten Fälle dadurch gekennzeichnet ist, dass eine die Interessen der übrigen Beteiligten wahrende Prozessführung durch die [X.] nicht mehr gewährleistet erscheint. Bereits dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber an der Regelung des § 13 Abs. 1 und 2 [X.] auch im Rechtsbeschwerdeverfahren festhalten und diese lediglich um einen weiteren Fall ergänzen wollte. Der Gesetzgeber hat in der Begründung ausgeführt, dass der [X.] - sofern er Rechtsbeschwerde einlegt - seine Rolle als Vertreter der übrigen Kläger der Ausgangsverfahren gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 [X.] auch im Rechtsbeschwerdeverfahren fortsetzt (BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Auch dies weist darauf hin, dass die Regelung des § 13 Abs. 1 und 2 [X.], die sich gerade auf die Ausfüllung dieser Rolle des [X.]s bezieht, im Rechtsbeschwerdeverfahren fortgelten sollte.

8

Die Vorschrift des § 13 Abs. 1 und 2 [X.] sollte die Regelungen des § 11 Abs. 2 [X.] in der Fassung vom 16. August 2005 (im Folgenden aF) unverändert übernehmen (BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Diese Vorschrift wiederum sah vor, dass "das Gericht" über die Neubestimmung des [X.]s entscheidet, was sowohl das [X.] als auch das Rechtsbeschwerdegericht umfasste. Denn in den anderen Vorschriften war ausdrücklich entweder das "[X.]" oder das "Rechtsbeschwerdegericht" als zur Entscheidung berufenes Gericht aufgeführt. Zudem beinhaltet der Abschnitt zur "Durchführung des [X.]" in den jeweiligen Gesetzesfassungen sowohl die Vorschriften zum Verfahren erster Instanz vor dem [X.] als auch zum Verfahren vor dem Rechtsbeschwerdegericht, so dass der Begriff des [X.] aus Sicht des Gesetzgebers beide Instanzen umfasst. Auch dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber mit der Bezeichnung "Gericht" in § 11 Abs. 2 [X.] aF sowohl dem [X.] als auch dem Rechtsbeschwerdegericht in den aufgeführten Fällen die Befugnis zur Neubestimmung des [X.]s geben wollte.

9

b) Im Gegensatz zur [X.]seite wird im Musterverfahren unter den Beklagten der ausgesetzten Verfahren keine Auswahl einer [X.] getroffen; gemäß § 9 Abs. 5 [X.] sind alle Beklagten der ausgesetzten Verfahren [X.]. Hintergrund für diese Regelung ist, dass eine Vertretung durch einen [X.] untunlich erscheint, weil damit zu rechnen ist, dass die Interessen der einzelnen Beklagten kollidieren könnten (BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Zudem könnten sich einzelne [X.] nur auf bestimmte Beklagte beziehen (vgl. BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Da es gewöhnlich mehrere [X.] gibt, hat der Gesetzgeber augenscheinlich keine Veranlassung zu einer besonderen Regelung gesehen, wenn in der Person eines [X.] einer der in § 13 Abs. 1 Fall 2 oder § 13 Abs. 2 [X.] aufgeführten Umstände eintritt. Insoweit sollen über § 11 [X.] die allgemeinen Vorschriften Anwendung finden (vgl. [X.]/[X.]/Großerichter/Winter in [X.]/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 13 [X.] Rn. 16; [X.] in Vorwerk/[X.], [X.], 2. Aufl., § 13 Rn. 10).

Im Musterrechtsbeschwerdeverfahren hingegen wird die Seite der [X.] nur durch eine Musterrechtsbeschwerdepartei vertreten. Bei einer Rechtsbeschwerde des [X.]s oder eines Beigeladenen bestimmt das Rechtsbeschwerdegericht nach billigem Ermessen durch Beschluss den [X.] aus den [X.] (§ 21 Abs. 1 Satz 2 [X.]). Diese Beschränkung auf einen [X.] als [X.] sollte der Reduzierung des Kostenrisikos für die Seite der Kläger dienen (BT-Drucks. 17/8799, [X.]). Legt einer oder mehrere der [X.] Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid ein, wird derjenige [X.], welcher als erster das Rechtsmittel eingelegt hat, vom Rechtsbeschwerdegericht zum [X.] bestimmt (§ 21 Abs. 3 Satz 1 [X.]). Die nicht ausgewählten [X.] bleiben als weitere Rechtsbeschwerdeführer am Verfahren beteiligt.

Dadurch, dass im Rechtsbeschwerdeverfahren auch auf Seite der [X.] nur ein [X.]r zum [X.] bestimmt werden kann, ergibt sich jedoch die Notwendigkeit einer Regelung für den Fall, dass in der Person dieses [X.] die in § 13 Abs. 1 Fall 2 und Abs. 2 [X.] aufgeführten [X.] eintreten. Denn ansonsten könnte es zu Verzögerungen kommen, die durch die Konzentration auf jeweils nur eine Musterrechtsbeschwerdepartei vermieden werden sollen.

Die Regelungsbedürftigkeit dieser Frage hat der Gesetzgeber offenkundig übersehen. Dies ergibt sich daraus, dass er - wie unter [X.] dargestellt - davon ausging, dass in § 21 Abs. 4 [X.] für die [X.] nur noch die Neubestimmung eines [X.] für den Fall geregelt werden musste, dass der bisherige [X.] seine Rechtsbeschwerde zurücknimmt. Dabei hatte der Gesetzgeber zudem lediglich die Interessen der Beteiligten auf [X.]seite im Blick, da er nur mit diesen die Regelung des § 21 Abs. 4 [X.] begründete (vgl. [X.]. 2/05, [X.] f. und 68; BT-Drucks. 17/8799, [X.] und 26).

2. Die Gesetzeslücke kann sachgerecht durch eine entsprechende Anwendung von § 21 Abs. 4, § 13 Abs. 1 Fall 2, § 9 Abs. 2 [X.] geschlossen werden, indem das Rechtsbeschwerdegericht einen neuen [X.] bestimmt, wenn über das Vermögen des bisherigen [X.] ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des [X.] führt zu möglichen Verfahrensverzögerungen, die im Interesse einer zügigen Durchführung des [X.] unerwünscht sind (vgl. [X.]. 2/05, [X.] f.).

3. Für die Auswahl zum [X.] kommen vorliegend der Insolvenzverwalter, der seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Rechtsnachfolger der [X.] zu 1 Verfahrensbeteiligter kraft Amtes ist (vgl. [X.], Beschluss vom 28. März 2007 - [X.], [X.]Z 172, 16 Rn. 7), der [X.] zu 2 und der [X.] zu 3 in Betracht. Der [X.] zu 2 wird nach billigem Ermessen zum neuen [X.] bestimmt. Er hat sich dazu bereit erklärt, ist Gesellschafter einer Gründungskommanditistin und hat Rechtsbeschwerde gegen den Musterentscheid eingelegt. Zudem werden die [X.] zu 2 und 3 weiterhin von demselben Prozessbevollmächtigten vertreten, welcher auch die bisherige [X.] zu 1 vertreten und die Rechtsbeschwerden begründet hat.

Der Insolvenzverwalter ist an Stelle der [X.] zu 1 weiter am Rechtsbeschwerdeverfahren zu beteiligen - insoweit aber wie der [X.] zu 3 nur noch als weiterer Rechtsbeschwerdeführer. Einer Verfahrenshandlung des Insolvenzverwalters bedarf es dazu nicht.

Grüneberg     

      

Matthias     

      

Dauber

      

Ettl     

      

Allgayer     

      

Meta

XI ZB 23/20

23.11.2021

Bundesgerichtshof 11. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Celle, 11. Dezember 2019, Az: 9 Kap 4/18

§ 9 Abs 2 KapMuG, § 13 Abs 1 Alt 2 KapMuG, § 21 Abs 4 KapMuG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2021, Az. XI ZB 23/20 (REWIS RS 2021, 909)

Papier­fundstellen: WM 2022, 27 MDR 2022, 521-522 REWIS RS 2021, 909 WM 2022, 2137 REWIS RS 2021, 909 MDR 2022, 1496-1497 REWIS RS 2021, 909

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