Bundessozialgericht, Urteil vom 15.05.2012, Az. B 2 U 31/11 R

2. Senat | REWIS RS 2012, 6434

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall - unmittelbare und mittelbare Unfallfolge - Ursachenzusammenhang - Theorie der wesentlichen Bedingung - psychische Erkrankung infolge einer objektiv nicht gebotenen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung - mittelgradige depressive Störung - Leistungsbeginn einer Verletztenrente


Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 26. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger unter Anerkennung einer "mittelgradigen depressiven Störung" als Unfallfolge ab [X.] Verletztenrente nach einer MdE um [X.] zu zahlen ist.

2

Der Kläger war ab August 1995 als Gepäckabfertiger bei der damaligen [X.] beschäftigt. Am 13.1.1997 wurde er bei der Ausübung der Beschäftigung zwischen einem Containertransporter sowie einem [X.] eingeklemmt. Dadurch wurden sein dritter Finger links und sein Kniegelenk links gequetscht. Folgen dieser Verletzungen lagen über den [X.] hinaus nicht mehr vor.

3

Der Kläger wurde wegen des Unfalls zunächst ambulant, wegen anhaltender Beschwerden im linken Kniegelenk ab April 1997 in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik stationär behandelt. Danach wurde eine Arbeitserprobung durchgeführt, die wegen gesundheitlicher Beschwerden abgebrochen wurde.

4

Anschließend fand eine Vielzahl von Behandlungen statt, die bis November 1999 überwiegend durch Durchgangsärzte erfolgten und im Auftrag und zulasten der [X.] durchgeführt wurden. Diese Maßnahmen zur Diagnose und zur Heilbehandlung waren aber rückwirkend betrachtet nur zum Teil durch die Unfallfolgen bedingt. Zum anderen Teil beruhten sie auf [X.] Vorschäden am linken Kniegelenk.

5

Der Kläger befand sich unter der Diagnose einer chronifizierten Depression ab März 1998 bei einer [X.] und ab April 1998 bei einem Psychiater in Behandlung. Vom 8.9. bis 3.10.1998 fand eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie statt, wo eine Angstneurose mit Panikattacken sowie eine Störung der Impulskontrolle diagnostiziert wurden.

6

Die Beklagte bewilligte dem Kläger einen ersten Vorschuss auf die voraussichtlich zu zahlende Verletztenrente ([X.]). Weitere Vorschusszahlungen folgten. Die Beklagte lehnte zunächst dennoch die "Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den [X.] hinaus" ab (Bescheid vom 27.9.2002). Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom [X.] zurück. Später bewilligte und zahlte die Beklagte dem Kläger rückwirkend und durchgängig vom Unfalltag bis zum 30.9.2002 Verletztengeld.

7

Das [X.] hat die Beklagte durch Urteil vom [X.] verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer mittelgradigen depressiven Störung als Folge des Arbeitsunfalls ab 19.7.1997 Verletztenrente nach einer MdE um [X.] zu zahlen.

8

Das [X.] hat der Berufung der [X.] insoweit stattgegeben, als die Verletztenrente erst am [X.] beginne, und sie im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom [X.]). Bei dem Kläger liege eine dauerhafte psychische Erkrankung im Sinne einer chronifizierten depressiven Episode vor. Diese sei in "rechtlich-wesentlichem Umfang" durch den Verlauf der Heilbehandlung der unmittelbaren körperlichen Verletzungen aufgrund des Arbeitsunfalls verursacht worden. Die Heilbehandlung sei zwar rückwirkend betrachtet durch erhebliche degenerative Vorschäden bedingt gewesen. Für die Zurechnung mittelbarer Unfallfolgen komme es aber nicht darauf an, dass die Maßnahmen der Heilbehandlung von der [X.] angeordnet worden seien. Vielmehr reiche es für die Zurechnung im Rahmen des § 11 Abs 1 [X.] aus, wenn der Unfallversicherungsträger oder der ihm rechtlich zuzuordnende Durchgangsarzt bei seinem Handeln den objektivierbaren Anschein oder den Rechtsschein gesetzt habe, dass die Behandlung oder Untersuchung zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung oder zur Untersuchung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet werde und der Versicherte der Auffassung sein könne, dass die Heilbehandlung geeignet sei, die Unfallfolgen zu bessern oder zu beseitigen.

9

Die Beklagte hat die vom [X.] zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung der §§ 11 Abs 1, 56 Abs 1, 72 Abs 1 sowie 74 Abs 2 [X.]. Das [X.] habe durch seine Auslegung § 11 Abs 1 [X.] verletzt, da als Ursache der Erkrankung letztlich nicht die Durchführung einer Heilbehandlung oder eine Untersuchung zur Klärung des Versicherungsfalls gesehen werde, sondern vielmehr die Art und Weise des Ablaufs der Heilbehandlung, die - jedenfalls aus Sicht des Klägers - zu Problemen geführt habe. Die Zurechnung zu den Unfallfolgen dürfe nicht aufgrund der subjektiven Einschätzung des Klägers erfolgen, weil dieser die Maßnahmen aus seiner Sicht für undurchschaubar halte und sich durch [X.] zwischen Ärzten oder Trägern belastet fühle. Unsicherheiten, die aus dem Wechsel der behandelnden Ärzte oder deren Diagnosestellung herrührten, seien aber durch § 11 [X.] nicht geschützt. Das [X.] habe auch weder festgestellt, dass die Maßnahmen zulasten des [X.] angeordnet worden seien, noch festgestellt, dass es sich um die Behandlung von Unfallfolgen gehandelt habe, noch dass diese durchgangsärztlich zu ihren Lasten angeordnet worden seien. Darüber hinaus verletze die Festlegung des Rentenbeginns durch das [X.] §§ 72 Abs 1, 74 Abs 2 [X.], da dem Kläger rückwirkend bis einschließlich 30.9.2002 Verletztengeld gezahlt worden sei. Das Urteil beruhe zudem auf Verfahrensfehlern (Verletzung von §§ 62, 103 SGG).

Die Beklagte beantragt,

        

die Urteile des [X.] vom 26. September 2011 und des Sozialgerichts Gießen vom 3. Juli 2008 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des [X.] für zutreffend. Insbesondere handele es sich bei der diagnostizierten mittelgradigen Depression um eine mittelbare Unfallfolge iS des § 11 [X.].

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]G).

In dem Rechtsstreit wegen [X.]eststellung einer Unfallfolge und Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um [X.] (1.) kann der [X.] auf der Grundlage der vom [X.] getroffenen [X.]eststellungen nicht entscheiden, ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen gemäß § 8 Abs 1 [X.] unmittelbar durch den Arbeitsunfall wesentlich verursacht worden sind (2. a>) oder ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen als mittelbare Unfallfolgen iSd § 11 Abs 1 [X.] festzustellen sind (2. b>). Es kann auch nicht abschließend beurteilt werden, ob ein Anspruch auf Verletztenrente iSd § 56 Abs 1 [X.] besteht (3. a>). Soweit das [X.] erneut zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass ein Anspruch auf Verletztenrente gegeben ist, kann ein solcher gemäß § 72 Abs 1 [X.] nicht für [X.]en vor dem 1.10.2002 bestehen (3. b>).

1. Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen das Urteil des [X.], mit dem dieses die Berufung gegen das den [X.] wegen der ablehnenden Verwaltungsakte in den Bescheiden der Beklagten (§ 54 Abs 1 Satz 1 [X.]G), den [X.]lagen auf [X.]eststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge (§ 55 Abs 1 [X.] [X.]G) sowie auf Zahlung einer Verletztenrente (§ 54 Abs 4 [X.]G) nach einer MdE um [X.] stattgebende Urteil des [X.] im Wesentlichen bestätigt hat. Der [X.] kann nicht abschließend entscheiden, ob das [X.] Bundesrecht verletzt hat, da dessen tatsächliche [X.]eststellungen keine abschließende Beurteilung der geltend gemachten Ansprüche erlauben.

Die Beklagte hat (spätestens) in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides festgestellt, dass der [X.]läger am 13.1.1997 einen Arbeitsunfall mit den Gesundheitserstschäden am dritten [X.] links und am [X.]niegelenk links erlitten hat. Daher richten sich dessen [X.] gegen die Ablehnung eines Anspruchs auf [X.]eststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge und die Ablehnung eines Rechts auf Verletztenrente.

Mit der [X.]eststellungsklage nach § 55 Abs 1 [X.] [X.]G kann der [X.]läger den behaupteten materiellen Anspruch auf [X.]eststellung der Unfallfolge durchsetzen, ohne dass er daran durch seine Befugnis zur Erhebung einer Verpflichtungsklage gehindert wäre. Denn er kann zwischen beiden Rechtsschutzformen wählen, weil sie, soweit um Ansprüche auf [X.]eststellung von Unfallfolgen (oder Versicherungsfällen) gestritten wird, grundsätzlich gleich rechtsschutzintensiv sind (vgl B[X.] Urteil vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - B[X.]E 108, 274, Rd[X.]2 f). [X.]ür das Begehren auf Verletztenrente hat er die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 4 [X.]G zulässig mit der unechten Leistungsklage auf Gewährung einer Verletztenrente kombiniert.

2. Nach § 102 [X.] haben die Versicherten gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf [X.]eststellung einer Unfallfolge (oder eines Versicherungsfalls), wenn ein Gesundheitsschaden durch den [X.] eines Versicherungsfalls oder infolge der Erfüllung eines Tatbestandes des § 11 [X.] rechtlich wesentlich verursacht wird. Der Gesundheitsschaden muss sicher feststehen (Vollbeweis) und durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB [X.], [X.]) unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden.

a) Es steht schon nicht sicher fest, welche Gesundheitsstörung bei dem [X.]läger genau vorliegt.

Zwar steht aufgrund der [X.]eststellungen des [X.] fest, dass auf "orthopädisch/chirurgischem und neurologischem" [X.]achgebiet über den 18.7.1997 hinaus keine [X.]olgen des Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 vorliegen. Das [X.] hat aber nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit festgestellt, welche psychische Gesundheitsstörung beim [X.]läger vorliegt, denn die Bezeichnung der Erkran-kung im Tenor weicht von derjenigen in den Gründen ab. Nach den Gründen der Entscheidung liegt beim [X.]läger eine mittelgradige depressive Episode nach "[X.] 33.1" des [X.] vor. Im Tenor hat das [X.] dagegen als Unfallfolge eine "mittelgradige depressive Störung" festgestellt.

b) Der [X.] kann auch nicht abschließend beurteilen, ob eine ggf vorliegende mittelgradige depressive Episode iSv [X.] 33.1 [X.] "infolge" des Versicherungsfalls besteht.

Das [X.] hat nicht geprüft, ob die psychische Gesundheitsstörung eine solche iSd § 8 Abs 1 [X.] ist. Das wäre anzunehmen, wenn sie unmittelbar durch den beim Versicherungsfall ausgelösten [X.] verursacht worden ist. Die genau zu bezeichnende Gesundheitsstörung ist also als Unfallfolge festzustellen, wenn im wieder eröffneten Berufungsverfahren festzustellen ist, dass zwischen dem beim Arbeitsunfall vom 13.1.1997 eingetretenen Erstschaden und der psychischen Gesundheitsstörung ein unmittelbarer und rechtlich wesentlicher [X.] besteht (haftungsausfüllende [X.]ausalität).

c) Der [X.] kann schon mangels [X.]larheit über das Vorliegen einer unmittelbaren Unfallfolge auch nicht abschließend entscheiden, ob die psychische Störung dem Versicherungsfall vom 13.1.1997 nach § 11 [X.] als mittelbare Unfallfolge zuzurechnen ist. Das wird das [X.] bei Verneinung einer unmittelbaren Unfallfolge aber zu prüfen haben.

Nach § 11 Abs 1 [X.] und 3 [X.] sind [X.]olgen eines Versicherungsfalls auch solche Gesundheitsschäden oder der Tod eines Versicherten, die durch die Durchführung einer Heilbehandlung nach dem [X.] oder durch Maßnahmen wesentlich verursacht wurden, welche zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet wurden. Diese Vorschrift regelt, dass auch solche Gesundheitsschäden, die durch die Erfüllung der in ihr umschriebenen Tatbestände wesentlich verursacht werden, dem Versicherungsfall rechtlich zugerechnet werden. Diese mittelbaren [X.]olgen müssen - anders als nach § 8 Abs 1 [X.] - nicht durch den [X.] verursacht worden sein (vgl B[X.] vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - B[X.]E 108, 274 mwN).

Mit dieser Entscheidung hat der [X.] seine Rechtsprechung zum früheren Recht fortgeführt. Bereits für die Bejahung des nach § 555 Abs 1 [X.] erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Heilbehandlung genügte es, dass der Verletzte, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, dass die Heilbehandlung, zu deren Durchführung er sich begeben hat, geeignet ist, der Beseitigung oder Besserung der durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen zu dienen. Schon zu jener Vorschrift hat das B[X.] entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass die Heilbehandlung wegen [X.]olgen des Arbeitsunfalls objektiv geboten war (B[X.] vom 24.6.1981 - 2 [X.] 87/80 - B[X.]E 52, 57, 58 = [X.] 2200 § 555 [X.] 5).

Hieran ist mit der Maßgabe festzuhalten, dass § 11 Abs 1 [X.] nun darauf abstellt, dass die Mitwirkung an einer vom Träger angeordneten ärztlichen Maßnahme sich auch dann als versichert erweist, wenn sich später herausstellt, dass in Wirklichkeit kein Versicherungsfall vorlag. Allerdings setzt die Zurechnung eines Gesundheitsschadens, der rechtlich wesentlich durch eine iSv § 11 Abs 1 [X.] vom Unfallversicherungsträger angeordnete Maßnahme verursacht wurde, die bisherige Rechtsprechung eingrenzend voraus, dass der Träger oder seine Leistungserbringer gegenüber dem durch die Verrichtung einer bestimmten versicherten Tätigkeit Versicherten durch (festgestellte) Handlungen den Anschein begründet haben, die Behandlungs- oder Untersuchungsmaßnahme erfolge zur Behandlung von Unfallfolgen (oder zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalles oder einer Unfallfolge). Hieran hält der [X.] auch im Hinblick auf die an seiner Rechtsprechung geäußerte [X.]ritik (vgl [X.] in juris [X.] 9/12 Anm 2) fest (wie der [X.] wohl auch [X.], in [X.] ua, [X.]ommentar zum [X.], § 11 Rd[X.]5; aA [X.] in [X.]/[X.], [X.], [X.] § 11 Rd[X.]; [X.] in jurisP[X.]-[X.], § 11 Rd[X.]5; Holtstraeter in [X.]/S/W, [X.]ommentar zum Sozialrecht, § 11 [X.] Rd[X.] 2; [X.] in LP[X.]-[X.], § 11 Rd[X.]; [X.], [X.], 4. Aufl 2009, § 11 Rd[X.] 4; [X.] in [X.], UV-[X.], Stand April 2007, § 11 [X.] Rd[X.] 4).

Auch die Prüfung des [X.] zwischen einer Gesundheitsstörung und einer der nach § 11 Abs 1 [X.] tatbestandlichen Maßnahmen erfolgt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Dabei ist auf einer ersten Prüfungsstufe zu fragen, ob der Versicherungsfall eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Gesundheitsstörung ist. Dabei ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nach den einschlägigen [X.] nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (aa). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg - hier die psychische Störung - ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen iS der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt (bb); das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie zB Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (B[X.] vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - B[X.]E 96, 196 = [X.] 4-2700 § 8 [X.]7, Rd[X.]5). Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich "Wesentliche" ist ([X.]). Dasselbe gilt für die [X.]rage, ob eine MdE vorliegt und im Wesentlichen durch Unfallfolgen verursacht wurde.

aa) Der [X.] kann nicht entscheiden, ob die Erkrankung des [X.]lägers eine mittelbare Unfallfolge nach § 11 Abs 1 [X.] oder [X.] [X.] ist oder keine Unfallfolge war.

Ob sich eine medizinische Maßnahme als Durchführung einer Heilbehandlung (§ 11 Abs 1 [X.] [X.]) oder als Maßnahme zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls (§ 11 Abs 1 [X.] [X.]) durch die Beklagte darstellt, beurteilt sich danach, wie der Versicherte ein der Beklagten zuzurechnendes Verhalten bei verständiger Würdigung der objektiven Gegebenheiten zum [X.]punkt ihrer Durchführung verstehen kann und darf (vgl B[X.] vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - B[X.]E 108, 274, Rd[X.] 43).

Ob der [X.]läger zum [X.]punkt der jeweiligen ärztlichen Behandlungen diese nach den objektiven Gegebenheiten als solche der Beklagten verstehen musste, steht nicht sicher fest. [X.]ür das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs 1 [X.] spricht zwar, dass die fraglichen Maßnahmen durch D-Ärzte und BG-[X.]liniken veranlasst wurden und die Beklagte deren [X.]osten trug. Das [X.] hat aber nicht mit der gebotenen Deutlichkeit festgestellt, dass die verschiedenen von Ärzten veranlassten Maßnahmen sich nicht nur nach der subjektiven Wahrnehmung des [X.]lägers zur [X.] ihrer Erbringung, sondern auch nach den objektiven Gegebenheiten für den [X.]läger als Heilbehandlung der Beklagten oder als deren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls darstellten.

bb) Das [X.] hat auch keine hinreichenden [X.]eststellungen dazu getroffen, ob und ggf welche anderen Ursachen als der Versicherungsfall das Vorliegen der psychischen Erkrankung naturwissenschaftlich-philosophisch verursacht haben.

Aus dem [X.]ehlen solcher [X.]eststellungen kann andererseits nicht gefolgert werden, dass die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 11 Abs 1 [X.] und 3 [X.] die einzige Ursache der bestehenden Gesundheitsstörung war. Denn das [X.] hat bei der Abwägung der Beiträge, die verschiedene Ursachen für das Entstehen der MdE haben, also auf der (zweiten) Stufe zur Prüfung der "Wesentlichkeit" von (verschiedenen) Ursachen, Vorerkrankungen des [X.]lägers auf psychischem Gebiet sowie das Bestehen weiterer, nicht mit dem Arbeitsunfall in Verbindung stehender [X.]aktoren, zB familiäre Probleme, bejaht. Ohne (ausdrückliche) [X.]eststellung dazu, ob und inwieweit diese nicht dem versicherten Risiko zuzurechnenden Ursachen naturwissenschaftlich-philosophisch wirksam geworden sind, ist das [X.] sogleich in die rechtliche Wertung eingetreten und hat den Versicherungsfall als die wesentliche Ursache für das Bestehen der Erkrankung bezeichnet.

[X.]) [X.]alls bei erneuter Prüfung des [X.]lagebegehrens festgestellt werden sollte, dass für die Erkrankung sowohl der Versicherungsfall als auch andere Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vorliegen, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung (zweite Stufe) zu prüfen, ob der Versicherungsfall die psychische Störung "wesentlich" verursacht hat. Unter Berücksichtigung der verschiedenen nach [X.] notwendigen oder hinreichenden Ursachen ist abzuwägen, welche von ihnen die rechtlich Wesentliche ist.

Bei der Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts genügt für die [X.]eststellung des naturwissenschaftlich-philosophischen [X.] der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (stRspr B[X.] vom 2.2.1978 - 8 [X.] - B[X.]E 45, 285, 287 = [X.] 2200 § 548 [X.]8 S 105 f; B[X.] vom 30.4.1985 - 2 [X.] 43/84 - B[X.]E 58, 80, 83 = [X.] 2200 § 555a [X.] S 3 f). Dieser ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den [X.] spricht; allein die Möglichkeit eines [X.] genügt dagegen nicht (B[X.] vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - B[X.]E 96, 196 = [X.] 4-2700 § 8 [X.]7, Rd[X.] 20; B[X.] vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - [X.] 4-2700 § 200 [X.]).

3. a) Aus den gleichen Gründen kann der [X.] nicht entscheiden, ob der [X.]läger einen Anspruch auf Verletztenrente hat.

Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 [X.] haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier des anerkannten Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um [X.] gemindert (MdE) ist, Anspruch auf Rente. Die Höhe der Rente richtet sich ua nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 [X.]).

Auch insoweit wird das [X.] zu prüfen haben, ob eine MdE "infolge" des Arbeitsunfalls besteht. Hierfür gelten die oben zu 2. dargelegten Grundsätze entsprechend.

b) Sollte das [X.] in dem erneuten Berufungsverfahren einen Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 Abs 1 [X.] bejahen, wird zu beachten sein, dass dieser erst am Tag nach Erlöschen des dem [X.]läger bewilligten Rechts auf Verletztengeld beginnen kann.

Zwar kann der Anspruch auf Verletztenrente - anders als das [X.] meint - grundsätzlich bereits am Tag nach dem Versicherungsfall beginnen, wenn bereits zu diesem [X.]punkt feststeht, dass eine MdE über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus vorliegen wird (zB bei Verlust eines [X.]örperteils) und ein gesetzlich vorrangiger Anspruch nicht besteht.

Hier hat das [X.] seine Entscheidung aber unter Verletzung von § 72 Abs 1 [X.] [X.] getroffen. Nach dieser Vorschrift beginnt ein Rentenanspruch erst, nachdem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Renten werden danach an Versicherte erst von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht darauf an, ob Verletztengeld gezahlt worden ist, sondern darauf, ob ein Anspruch auf diese Leistung bestand. Die Regelung verfolgt den Zweck, Doppelleistungen aus dem System der [X.], insbesondere den zeitgleichen Bezug von Verletztengeld und Verletztenrente, zu vermeiden.

[X.]ür die vom [X.]läger geführte Anfechtungs- und Leistungsklage wegen Verletztenrente ist der [X.]punkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Zu diesem [X.]punkt stand und steht zwischen den Beteiligten durch Verwaltungsakt bindend fest, dass der [X.]läger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verletztengeld vom Unfalltag durchgehend bis [X.] hat. Eine mögliche Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 [X.]) kann daher erst nach dem [X.], also nach dem Ende des [X.]raums beginnen, für den Verletztengeld zustand (§ 72 Abs 1 [X.] [X.]; § 74 Abs 2 [X.] ist nicht anwendbar, da der Anspruch auf Verletztengeld nicht aufgrund einer erneuten Arbeitsunfähigkeit infolge Wiedererkrankung eingetreten ist; siehe dazu [X.]ranig in [X.]/[X.], [X.], [X.] § 74 Rd[X.]3).

4. Da das Urteil des [X.] aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über die [X.]rage, ob die Beklagte zulässige und begründete Verfahrensrügen gegen das Urteil des [X.] erhoben hat.

5. Das [X.] hat mit der im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu treffenden Entscheidung auch über die [X.]osten des Revisionsverfahrens zu entscheiden. Dabei wird ggf zu berücksichtigen sein, dass dem [X.]läger eine Verletztenrente nicht - wie begehrt - ab Juli 1997, sondern erst ab 1.10.2002 zusteht.

Meta

B 2 U 31/11 R

15.05.2012

Bundessozialgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: U

vorgehend SG Gießen, 3. Juli 2008, Az: S 3 U 88/05, Urteil

§ 8 Abs 1 SGB, § 11 Abs 1 Nr 1 SGB 7, § 11 Abs 1 Nr 3 SGB 7, § 56 Abs 1 SGB 7, § 72 Abs 1 Nr 1 SGB 7

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 15.05.2012, Az. B 2 U 31/11 R (REWIS RS 2012, 6434)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6434

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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