Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.04.2011, Az. VIII B 14/10

8. Senat | REWIS RS 2011, 7199

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Recht auf Gehör - Überraschungsentscheidung


Leitsatz

1. NV: Eine Überraschungsentscheidung ist gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste .

2. NV: Hat das FA die Verbrauchswerte für den PKW des Klägers sowohl im Vorverfahren als auch im FG-Verfahren akzeptiert, darf das FG nicht ohne vorherigen Hinweis auf andere Verbrauchswerte abstellen, die es der Internetseite www.fuel-pilot.de entnimmt, ohne dem Kläger Gelegenheit zu geben, die nach seiner Auffassung zutreffenden Verbrauchswerte zu belegen .

3. NV: Will das FG bislang unstreitige Fahrtkosten nicht anerkennen, ist es nach dem Untersuchungsgrundsatz verpflichtet, den Kläger zur Spezifizierung und zum Nachweis der Fahrtkosten anzuhalten, bevor es über diesen zwischen den Beteiligten unstreitigen Punkt eine Entscheidung zulasten des nicht vertretenen Klägers trifft .

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Das Urteil des Finanzgerichts ([X.]) leidet an einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Das Urteil der Vorinstanz beinhaltet eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 [X.]O) der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aufgrund einer Überraschungsentscheidung des [X.] soweit die Fahrtkosten der Kläger und die Verbrauchskosten des Fahrzeugs des [X.] betroffen sind.

2

1. Nach der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) ist eine Überraschungsentscheidung gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste (Beschluss des [X.] vom 29. Mai 1991  1 BvR 1383/90, [X.] 84, 188; [X.]-Urteil vom 17. Februar 1998 VIII R 28/95, [X.]E 186, 29, [X.] 1998, 505; [X.]-Beschlüsse vom 1. Juli 1998 [X.]/97, [X.]/NV 1998, 1511; vom 14. Juni 1999 [X.], [X.]/NV 1999, 1609; [X.]surteil vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, [X.]/NV 2000, 978). Zwar hat das [X.] in der mündlichen Verhandlung vom 6. Oktober 2009 die Frage der [X.] aufgegriffen und deutlich gemacht, der [X.] und Beschwerdegegner (das Finanzamt --[X.]--) sei bei der Berechnung der Nutzungsdauer des PKW [X.] des [X.] fälschlicherweise von sechs und nicht von acht Jahren ausgegangen. Nur am Rande hat das [X.] in diesem Zusammenhang aber darauf hingewiesen, dass auch die vom Kläger angegebenen Verbrauchswerte einer Überprüfung unterzogen würden. In den Urteilsgründen hat das [X.] dann den Kraftstoffverbrauch des [X.] unter Berufung auf die Internetseite [X.] mit 8 Liter je 100 ... angesetzt. Angesichts der Tatsache, dass das [X.] den vom Kläger errechneten [X.] von 1,51 € je Kilometer bereits in der Einspruchsentscheidung akzeptiert und diese Akzeptanz auch im [X.]-Verfahren mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2006 nochmals zum Ausdruck gebracht hatte, gab es für die steuerlich nicht vertretenen Kläger aus ihrer Sicht keinen Anlass, die Problematik des Kraftstoffverbrauchs nochmals zu vertiefen. Das gilt umso mehr, als der Kläger auf diese Bemerkung des [X.] entgegnet hat, der mit 11,8 ... auf 100 ... angegebene Verbrauch sei nicht zuletzt deshalb zutreffend, weil er überwiegend im Stadtverkehr unterwegs sei, ohne dass das [X.] daraufhin zu erkennen gegeben hat, es habe an dieser Darstellung Zweifel. In Anbetracht dieser Umstände hätte das [X.] die Kläger unmissverständlich darauf hinweisen müssen, die vom Kläger vorgetragenen --bislang unstreitigen-- Verbrauchswerte seien fehlerhaft oder nicht richtig nachgewiesen. Demgemäß hätte es den Klägern aufgeben müssen, die Verbrauchswerte detailliert zu belegen und nachvollziehbar zu verifizieren. Wenn das [X.] stattdessen ohne vorherigen Hinweis auf Verbrauchswerte abstellt, die es der Internetseite [X.] entnimmt, ohne den Klägern Gelegenheit zu geben, die nach ihrer Auffassung zutreffenden Verbrauchswerte zu belegen, liegt darin eine Verletzung des Rechts auf Gehör.

3

2. Nämliches gilt für die Nichtanerkennung der Fahrtkosten als Werbungskosten. Nach der Einspruchsentscheidung des [X.] vom 12. Februar 2007 und dem Schriftsatz des [X.] im [X.]-Verfahren vom 22. Dezember 2006 waren die Fahrtkosten zwischen den Beteiligten außer Streit. Ausweislich des [X.] vom 6. Oktober 2009 hat das [X.] mit dem Kläger zwar über die von ihm gefertigte Aufstellung der Fahrten gesprochen. Das [X.] hat aber lt. Sitzungsprotokoll nicht zu erkennen gegeben, dass im Hinblick auf § 12 des Einkommensteuergesetzes irgendwelche Bedenken an der Anerkennung der Fahrtkosten bestehen könnten. Zudem geht das [X.] in den Urteilsgründen davon aus, der Kläger habe gemischte Fahrten unternommen, ohne dass auch nur im Ansatz eine Auseinandersetzung mit der Schilderung des [X.] hinsichtlich der Aufstellung der Fahrtkosten erfolgt wäre. Auch insoweit wäre das [X.] nach dem Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 76 Abs. 1 [X.]O) verpflichtet gewesen, die Kläger zur Spezifizierung und zum Nachweis der Fahrtkosten anzuhalten, bevor es über diesen zwischen den Beteiligten unstreitigen Punkt eine Entscheidung zulasten der nicht vertretenen Kläger trifft.

4

3. Nach alledem hält der [X.] es für angemessen, das angefochtene Urteil der Vorinstanz gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Lediglich vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass eine erneute Entscheidung die Änderung der Rechtsprechung gemäß den Grundsätzen des Beschlusses des Großen [X.]s des [X.] vom 21. September 2009 GrS 1/06 ([X.]E 227, 1, [X.] 2010, 672) zu berücksichtigen hat.

Meta

VIII B 14/10

28.04.2011

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 6. Oktober 2009, Az: 12 K 91/07, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 76 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.04.2011, Az. VIII B 14/10 (REWIS RS 2011, 7199)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7199

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