Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.05.2012, Az. IV ZR 1/11

4. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 6633

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Gegenstand

Private Krankenversicherung: Nachträgliche Einstufung eines ursprünglich männlichen Versicherungsnehmers in den Frauentarif nach Geschlechtsumwandlung


Leitsatz

Die Geschlechtsumwandlung eines ursprünglich männlichen Versicherungsnehmers berechtigt den privaten Krankenversicherer nicht, die versicherte Person abweichend vom vertraglich vereinbarten Männertarif in den Frauentarif einzustufen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] - 3. Zivilkammer - vom 10. Dezember 2010 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Teilurteil des [X.] vom 10. Mai 2010 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

I. Die transsexuelle Klägerin, die als [X.] geboren wurde, sich aber als dem weiblichen Geschlecht zugehörig empfand, ließ im Jahre 2005 gemäß § 1 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen - Transsexuellengesetz ([X.]) - ihren Vornamen ändern und nahm einen weiblichen Vornamen an; sie ließ ferner operative Eingriffe zur deutlichen Annäherung an das Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts durchführen. Einen Antrag nach § 8 [X.] auf Feststellung der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht hat sie nicht gestellt, obwohl unstreitig alle Voraussetzungen dafür vorliegen, dass einem entsprechenden Antrag stattgegeben werden müsste. Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin nunmehr für die bei der [X.] unterhaltene Kranken- und Pflegeversicherung den Männer- oder den Frauentarif zu zahlen hat.

2

Die Beklagte, die die durchgeführten Operationen bezahlt hatte, stufte die Klägerin ab 1. Januar 2009 in den Frauentarif ein. Sie meint, die Klägerin müsse sich als Frau behandeln lassen.

3

Die verheiratete Klägerin, die die Prämien insoweit unter Vorbehalt zahlte, um ihren Versicherungsschutz nicht zu gefährden, meint, solange kein Gerichtsbeschluss nach § 10 [X.] vorliege, mit dem festgestellt wird, dass sie als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist, habe die Beklagte keinen Anspruch auf die für Frauen geltenden Beiträge. Ob sie, die Klägerin, einen solchen Antrag stelle, sei ihre höchstpersönliche Entscheidung. Sie behauptet, den Antrag nach § 8 [X.] nicht stellen zu wollen, weil es ihrer Ehefrau nicht zuzumuten sei, rechtlich mit einer Frau verheiratet zu sein.

4

Mit der Klage begehrt sie einerseits die Feststellung, dass die Beklagte lediglich die für Männer geltenden Beiträge erheben darf, andererseits im Wege der Stufenklage Auskunft über die diesbezüglichen Tarife für 2009 und 2010 und die Erstattung gezahlter und zukünftig zu zahlender Differenzbeträge.

5

Das Amtsgericht hat durch Teilurteil dem [X.] und dem Auskunftsanspruch stattgegeben. Auf die Berufung der [X.] hat das [X.] die Klage insgesamt abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision,

Entscheidungsgründe

6

Die Revision hat Erfolg.

7

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Klägerin sei eine Frau, da die Voraussetzungen gemäß § 8 [X.] bei ihr unstreitig vorlägen. Zumindest könne sie sich nach [X.] und Glauben nicht darauf berufen, einen Antrag gemäß § 8 [X.] nicht gestellt zu haben.

8

Die Vorschrift des § 162 BGB, die den allgemeinen Rechtsgedanken enthalte, dass niemand aus einem von ihm treuwidrig herbeigeführten oder verhinderten Ereignis Vorteile herleiten dürfe, sei entsprechend anzuwenden. Vorliegend verstoße die Berufung der Klägerin auf die noch nicht ergangene Entscheidung gemäß § 10 [X.] gegen das Verbot des [X.], nachdem die Beklagte im Zuge der Geschlechtsumwandlung nicht unerhebliche Aufwendungen geleistet habe. Auch der von ihr beauftragte Sachverständige habe bescheinigt, dass eine Personenstandsänderung für die Klägerin aus psychologischen Gründen sinnvoll und erforderlich sei und sie entsprechend ihrer Geschlechtsidentität behandelt werden solle. Aus § 10 [X.] sei kein Verbot zu entnehmen, eine Mann-zur-Frau-Transsexuelle schon vor dieser Entscheidung im bürgerlichen Rechtsverkehr als Frau zu behandeln.

9

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Der Senat lässt offen, ob unterschiedliche Krankenversicherungstarife mit Geschlechterdifferenzierung und damit die Ausnahmeregelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG vor Art. 3 Abs. 2 GG Bestand haben. Auf diese im Schrifttum kontrovers beantwortete Frage (vgl. nur [X.]/[X.], NJW 2004, 1623 ff. einerseits und Wandt, [X.], 1341 ff. andererseits) kommt es nicht an, weil ein Recht der Beklagten, die Klägerin in einen anderen als den bei Vertragsschluss vereinbarten Tarif einzuordnen, auch bei einer Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AGG nicht besteht.

2. Die Beklagte dürfte die Klägerin nur dann abweichend von dem vertraglich vereinbarten Tarif einstufen, wenn ihr ein entsprechender Anspruch auf Vertragsänderung zustünde. Eine Anspruchsgrundlage hierfür ist jedoch nicht ersichtlich.

a) Sie findet sich insbesondere nicht in den Vorschriften des [X.].

aa) Selbst nach Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung gemäß § 10 [X.] verpflichten weder dieses Gesetz noch der Versicherungsvertrag in der bestehenden Fassung die Klägerin zur Zahlung einer höheren Prämie als im Vertrag vereinbart.

Das Gesetz regelt die Höhe der Versicherungsprämie nicht. Es ist auch nicht vorgetragen, dass der konkret abgeschlossene Vertrag eine Vereinbarung zu unterschiedlichen Prämienhöhen je nach Geschlecht des Versicherten enthält.

bb) Besteht auch nach Erlass eines Beschlusses gemäß § 10 [X.] kein Anspruch der Beklagten auf eine höhere Prämie, kann es sich insoweit nicht zum Nachteil der Klägerin auswirken, dass sie keinen Antrag nach § 8 [X.] gestellt hat. Auf die Nachvollziehbarkeit der von ihr hierfür angegebenen Gründe kommt es nicht an. Der Rechtsgedanke des § 162 BGB ist nicht einschlägig.

b) Ferner liegt kein Fall einer Prämienanpassung nach § 203 Abs. 2 [X.] vor. Diese Bestimmung regelt allein die Prämienanpassung innerhalb eines konkreten Tarifs. Einen Anspruch auf Tarifwechsel hat der Gesetzgeber in § 204 [X.] nur als einseitiges Recht des Versicherungsnehmers geregelt.

c) Schließlich ergibt sich ein Anspruch der Beklagten auf Vertragsänderung nicht aus einer Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB.

aa) Hierfür kann es dahinstehen, ob die Eigenschaft der Klägerin als [X.]", die mitbestimmend für die ursprüngliche Tarifeinstufung gewesen sein dürfte, damit als Geschäftsgrundlage für den Vertragsabschluss mit seinem konkret vereinbarten Inhalt anzusehen ist.

bb) Selbst wenn man dieses annimmt, berechtigt die Geschlechtsänderung der Klägerin - mag sie auch ungeachtet des gesetzlichen Personenstands in physischer, psychischer und [X.] Hinsicht vollzogen sein, wie das Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht unangegriffen festgestellt hat - die Beklagte nicht zur Vertragsanpassung, wie sich aus den spezialgesetzlichen Bestimmungen im [X.] ergibt.

(1) Die höheren Tarife für Frauen in der Krankenversicherung sind wesentlich einer statistisch höheren Lebenserwartung geschuldet, nachdem die Kosten für Schwangerschaft und Geburt gemäß § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG nicht mehr in eine differenzierende Prämienkalkulation einfließen dürfen. Geht man davon aus, dass die Klägerin in physischer, psychischer und [X.] Hinsicht nunmehr der - versicherungsrechtlich zulässig gebildeten - Risikogruppe "Frau" angehört, so hat sich damit das von individuellen Umständen unabhängige und abstrakt zu sehende Leistungsrisiko für die Beklagte erhöht.

Grundsätzlich sind die Folgen nachträglicher Risikoerhöhungen nach Abschluss des Versicherungsvertrages vom Gesetzgeber in den Vorschriften über die Gefahrerhöhung (§§ 23 ff. [X.]) geregelt. Insoweit lässt sich § 25 [X.] der Grundsatz entnehmen, dass der Versicherer ein nachträglich erhöhtes Risiko nur gegen Zahlung einer erhöhten Prämie abdecken muss.

(2) Jedoch kann dieser Grundsatz hier nicht zum Zuge kommen, weil der Gesetzgeber ihn für die Krankenversicherung gerade ausgeschlossen hat. Die Ausnahmevorschrift des § 194 Abs. 1 Satz 2 [X.] bestimmt, dass die §§ 23 bis 27 und 29 auf die Krankenversicherung nicht anzuwenden sind. Damit hat der Gesetzgeber dem Versicherer das Risiko nachträglicher Gefahrerhöhungen in der Krankenversicherung generell auferlegt. Ob es dabei um eine individuelle Risikoerhöhung beim Versicherungsnehmer oder um eine Erhöhung des abstrakt zu sehenden [X.] aufgrund statistischer Zuordnungen geht, ist unerheblich (vgl. [X.] in [X.]/[X.], [X.] 28. Aufl. § 23 Rn. 14 und § 25 Rn. 6). Diese gesetzliche Risikoverteilung ist gemäß § 313 Abs. 1 BGB bei der Frage nach der Zumutbarkeit eines unveränderten Festhaltens am [X.] zu berücksichtigen; sie schließt einen Anspruch auf Tarifänderung aus.

(3) Im Streitfall kommt hinzu, dass die Gefahrerhöhung auf einem Versicherungsfall beruht. Die jetzt eingetretene Zugehörigkeit der Klägerin zu einer unter [X.] gebildeten anderen Risikogruppe ist eine Folge der bei ihr aufgetretenen Transsexualität, die als Krankheit von Anfang an versichert war. Eine darin liegende Gefahrerhöhung wäre deshalb selbst bei einer Anwendbarkeit der §§ 23 ff. [X.] als ein nach den Umständen mitversichertes Risiko anzusehen, § 27 [X.].

Mayen                                               Wendt                                                Felsch

                         Lehmann                                        Dr. Brockmöller

Meta

IV ZR 1/11

09.05.2012

Bundesgerichtshof 4. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Coburg, 10. Dezember 2010, Az: 33 S 45/10

§ 313 BGB, § 23 VVG, §§ 23ff VVG, § 194 Abs 1 S 2 VVG, § 10 TSG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 09.05.2012, Az. IV ZR 1/11 (REWIS RS 2012, 6633)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6633

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Referenzen
Wird zitiert von

XI ZR 544/21

IV ZR 126/16

IV ZR 126/16

IV ZR 1/11

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