Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.02.2021, Az. VIII B 38/20

8. Senat | REWIS RS 2021, 8931

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Gegenstand

Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens bei der Entscheidungsfindung


Leitsatz

NV: Das FG entscheidet nicht unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens, wenn es für die Abgrenzung, ob ein geänderter Einkommensteuerbescheid eine wiederholende Verfügung oder ein Zweitbescheid ist, allein den unveränderten Inhalt der Besteuerungsgrundlagen und nicht die aktenkundigen Begleitumstände des Bescheiderlasses in seine Entscheidungsfindung einbezieht.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 05.02.2020 - 1 K 1981/15 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist begründet.

2

Das Finanzgericht ([X.]) hat nicht gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden. Die Vorentscheidung wird gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

3

1. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten [X.]. Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (vgl. z.B. Beschlüsse des [X.] --[X.]-- vom 16.07.2019 - X B 114/18, [X.], 1127, Rz 21; vom 05.06.2020 - VIII B 38/19, [X.], 1267, Rz 3).

4

2. Das [X.] hat den aktenkundigen und festgestellten Umstand, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --[X.]--) die Bekanntgabe des [X.] vom 17.12.2014 unter Hinweis auf eine inhaltliche Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen am gleichen Tag per Telefax widerrufen und erst nach inhaltlicher Prüfung der Einwände der Körperschaftsteuerstelle am 19.12.2014 einen (auch hinsichtlich der Einkünfte aus Kapitalvermögen) unveränderten Bescheid für das Streitjahr 2009 erlassen hat, bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt. Hierin liegt ein Verstoß gegen die Vorgaben aus § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O, der zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung des Streitfalls an das [X.] führt (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

5

a) Das [X.] hat den Einspruch der Kläger vom 21.01.2015 gegen den aus seiner Sicht am 17.12.2014 wirksam bekanntgegebenen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2009 als unzulässig angesehen, weil dieser zu spät erhoben worden sei.

6

Den zeitlich nachfolgend erlassenen Einkommensteuerbescheid für 2009 vom 19.12.2014 hat das [X.] hierbei als wirksam bekanntgegeben beurteilt, weil er das [X.] verlassen habe, bevor die Anzeige des damaligen Prozessbevollmächtigten über das Erlöschen der [X.] zugegangen sei. Diesen Bescheid hat das [X.] unter Bezugnahme auf die Begründung der Einspruchsentscheidung (§ 105 Abs. 5 [X.]O) wegen der unveränderten Besteuerungsgrundlagen als wiederholende Verfügung betrachtet, gegen die kein Einspruch möglich gewesen sei.

7

b) Die Kläger rügen zurecht, dass das [X.] bei seiner Entscheidungsfindung den aktenkundigen Umstand hätte berücksichtigen müssen, dass das [X.] im Telefax vom 17.12.2014 gegenüber den Klägern eine inhaltliche Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen angekündigt und nach Vornahme dieser Prüfung seine Auffassung durch den Erlass des [X.] vom 19.12.2014 bestätigt hat und angesichts der Unklarheiten, wann der vorherige Bescheid am 17.12.2014 zugestellt und die Widerrufserklärung den Klägern zugegangen war, damit auch Zweifel an der wirksamen Bekanntgabe des zuvor erlassenen Bescheids beseitigen wollte. Denn dem [X.] ging es angesichts des mit Ablauf des 31.12.2014 drohenden Eintritts der Festsetzungsverjährung auch darum, einen wirksamen Änderungsbescheid mit den weiteren Kapitaleinkünften des Klägers rechtzeitig abzusenden.

8

c) Auf diesem Mangel kann die Entscheidung des [X.] auch beruhen. Wäre der Bescheid vom 19.12.2014 keine wiederholende Verfügung, sondern ein wirksamer sog. Zweitbescheid (s. zur Abgrenzung [X.] in Tipke/[X.], § 118 AO Rz 17; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 118 AO Rz 170), hätte er als Änderungsbescheid den ursprünglichen Bescheid vom 17.12.2014 in seinen Regelungsgehalt aufgenommen und dessen Wirkung suspendiert; letzterer könnte keine Wirkung mehr entfalten (Beschluss des Großen Senats des [X.] vom 25.10.1972 - GrS 1/72, [X.]E 108, 1, [X.] 1973, 231, unter 3.). [X.] mit dem Einspruch wäre nur der Zweitbescheid vom 19.12.2014, der am 22.12.2014 zugestellt wurde und gegen den die Kläger rechtzeitig Einspruch erhoben haben. Abgrenzungskriterium zwischen einer wiederholenden Verfügung und einem Zweitbescheid ist u.a., ob das [X.] auf neues Vorbringen eingeht und ob es erneut über die Sache entscheidet ([X.] in Tipke/[X.], § 118 AO Rz 17). Danach ist nicht ausgeschlossen, dass das [X.] bei Einbeziehung der eingangs genannten aktenkundigen Umstände und einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass es sich bei dem Bescheid vom 19.12.2014 um einen rechtzeitig angefochtenen Zweitbescheid handelte. Soweit das [X.] an anderer Stelle der Entscheidung darlegt, es könne offen bleiben, ob der Bescheid vom 19.12.2014 eine wiederholende Verfügung sei, spricht dies nicht gegen die Erheblichkeit des [X.]. Denn diese Begründung trägt die Würdigung des [X.], der Einspruch sei nach Ablauf der Einspruchsfrist erhoben worden, nicht allein. Das [X.] ist auch in diesem Begründungsstrang davon ausgegangen, dass nur der am 17.12.2014 zugestellte Einkommensteuerbescheid 2009 angefochten werden konnte, ohne sich mit den unter 2.b genannten Umständen auseinanderzusetzen.

9

d) Der Senat hält es für zweckmäßig, die Vorentscheidung aufzuheben und den Streitfall zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

3. Der Senat sieht gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O von einer Darstellung des Tatbestands und weiteren Begründung ab.

4. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 38/20

04.02.2021

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 5. Februar 2020, Az: 1 K 1981/15, Urteil

§ 96 Abs 1 S 1 Halbs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 347 AO, § 355 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.02.2021, Az. VIII B 38/20 (REWIS RS 2021, 8931)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8931

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