Bundesfinanzhof, Beschluss vom 12.01.2023, Az. IX B 29/22

9. Senat | REWIS RS 2023, 106

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Gegenstand

Überraschungsentscheidung


Leitsatz

NV: Eine Überraschungsentscheidung kann vorliegen, wenn das FG die Klageabweisung auf einen Gesichtspunkt stützt, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben und wenn dies zudem auf rechtlich fehlerhafter und tatsächlich zweifelhafter Grundlage geschieht.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 17.03.2022 - 13 K 766/20 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht ([X.]) gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O). Das [X.] hat ein Überraschungsurteil erlassen und damit den Anspruch des [X.] zu 1. und Beschwerdeführers (Kläger) auf rechtliches Gehör verletzt.

2

1. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das [X.] sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl  vertretbarer  Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom [X.] erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B. Senatsbeschluss vom 23.02.2017 - IX B 2/17, [X.], 746, Rz 15). Zwar muss ein --zumal durch einen Rechtsanwalt und Steuerberater sachkundig vertretener-- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle  vertretbaren  rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (Beschluss des [X.] vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91, [X.] 86, 133, unter [X.]; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.). Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben und wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhaften Begründung geschieht.

3

So liegt der Streitfall. Zwischen den Beteiligten war bis zur Entscheidung des [X.] nur streitig, ob der Kläger ein Veräußerungsgeschäft nach § 17 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) realisieren konnte, obwohl zuvor über das Vermögen der [X.] bereits das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) hatte dies verneint; der Kläger hielt dies für rechtlich nicht ausgeschlossen. Streitig war zudem, ob der Kläger die objektive und subjektive Wertlosigkeit der Aktien im Zeitpunkt der Veräußerung der Aktien an die Klägerin zu 2. und Beschwerdeführerin (Klägerin) zum Erinnerungswert von 1 € nachgewiesen hatte. Weist das [X.] bei dieser Sachlage die Klage ohne mündliche Verhandlung mit der (neuen) Begründung ab, die Anteilsveräußerung könne als Vertrag zwischen nahen Angehörigen der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden, weil die Klägerin nicht (wie zwischen [X.] üblich) im Aktienregister (§ 67 des Aktiengesetzes) eingetragen worden sei, muss der Kläger mit dieser Wendung jedenfalls dann nicht rechnen, wenn sich die Begründung auch noch als rechtlich fehlerhaft und tatsächlich zweifelhaft erweist. Denn Veräußerung i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG ist nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] die Übertragung von Anteilen gegen Entgelt; zivilrechtlich geschieht dies durch (Einigung und) Abtretung. Entgegen der Ansicht des [X.] scheitert die zivilrechtliche Übertragung der Anteile nicht daran, dass die Klägerin als Erwerberin (angeblich) im Aktienregister nicht eingetragen worden ist. Die Eintragung im Aktienregister ist nicht konstitutiv für die Wirksamkeit der Abtretung; sie dient allein dem Nachweis der [X.]erstellung gegenüber der [X.]. Auf die fehlende Eintragung im Aktienregister kann die steuerliche Unbeachtlichkeit einer Aktienübertragung deshalb nicht gestützt werden, auch nicht im Fall einer Übertragung zwischen nahen Angehörigen. Vor diesem Hintergrund musste der Kläger auch nicht damit rechnen, dass das [X.] der (fehlenden) Eintragung im Aktienregister konstitutive Bedeutung für die Wirksamkeit der Veräußerung beimessen könnte.

4

2. Im Übrigen macht die Beschwerde in diesem Zusammenhang erfolgreich einen Sachaufklärungsmangel geltend, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Das [X.] hat die angeblich fehlende Eintragung der Klägerin als Erwerberin im Aktienregister ohne eigene Sachaufklärung aus dem Akteninhalt abgeleitet, obwohl die Frage zwischen den Beteiligten zuvor nicht streitig war und auch vom [X.] nicht gezielt aufgeklärt worden ist. Insbesondere aus dem Abschlussbericht des Insolvenzverwalters ergibt sich indes nicht, ob die Klägerin im Aktienregister eingetragen worden ist, auch wenn in ihm (fehlerhaft) der Kläger noch als Aktionär ausgewiesen ist. Wie der Kläger zutreffend ausgeführt hat, ist die Frage, wer Aktionär ist, für den Insolvenzverwalter in aller Regel ohne jede Bedeutung. Das [X.] konnte die Eintragung der Klägerin im Aktienregister auch nicht deshalb ausschließen, weil die im Rechtsbehelfsverfahren vorgelegte Bescheinigung vom 16.06.2010 (aus dem Aktionärsbuch), in der die Klägerin als Aktionärin ausgewiesen ist, (offenbar fehlerhaft) die laufende Nummer 22 (anstatt: 23) trägt. Bei dieser Sachlage hätte sich aus der Sicht des [X.] eine weitere Aufklärung durch Vorlage des [X.] oder Einvernahme des Vorstandsvorsitzenden der [X.] als Zeuge aufdrängen müssen. Außerdem hätte das [X.] den Beteiligten vor der Entscheidung Gelegenheit geben müssen, sich zu diesen aus seiner Sicht entscheidungserheblich gewordenen Tatsachen zu äußern und ergänzend vorzutragen. Das ist nicht geschehen.

5

3. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX B 29/22

12.01.2023

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend FG München, 17. März 2022, Az: 13 K 766/20, Urteil

§ 116 Abs 6 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 17 Abs 1 S 1 EStG 2009, § 67 AktG, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 12.01.2023, Az. IX B 29/22 (REWIS RS 2023, 106)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 106

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